Zur Kritik an den Universitäten

"Die Zeit der Zauberer ist vorbei"

Studentinnen und Studenten sitzen im Hörsaal einer Universität.
Zehnmal so viele Studierende wie in den 1960ern - das verändert zwangsläufig den Charakter der Universität, meint Volker Linneweber. © imago/Future Image
Volker Linneweber im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 10.04.2018
Einiges stimmt nicht mit den Kriterien, wie an Universitäten wissenschaftliche Leistungen bewertet werden - so weit gibt Psychologe Volker Linneweber der Kritik Bernhard Pörksens Recht. Die Zeit der großen Schulen sei allerdings vorbei: "Heute geht es um andere Themen."
Die Zauberer seien aus der Universität vertrieben worden: Statt großer Ideen und echter Erkenntnis herrschten dort Kleingeist, bei dem sich die Qualität eines Wissenschaftlers an der Anzahl der publizierten Fachaufsätze und der Höhe der der eingeworbenen Drittmittel bemisst. So kritisierte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen am Montag den gegenwärtigen Zustand der deutschen Hochschulen.
Die Zeit der Zauberer sei vorbei, widerspricht der Psychologe Volker Linneweber, bis zu seiner Emeritierung 2017 Präsident der Universität des Saarlands in Saarbücken. "Und die Zauberlehrlinge sind anders aufgestellt. Die Zauberlehrlinge sind in Systeme eingebunden, in denen in der Tat die Frage im Mittelpunkt steht: Wie kann ich denn das, was ich mache, finanzieren?"

"Bücher werden nicht mehr von A bis Z gelesen"

Auch die Zeit der großen Schulen sei zumindest in weiten Teilen der Sozialwissenschaften vorbei: "Ich komme ja aus der Psychologie, und es gab Anfang des 20. Jahrhunderts die großen Schulen – Behaviorismus, Psychoanalyse – heute geht es wirklich um andere Themen." Zudem habe sich die Art, wie wissenschaftliche Medien konsumiert würden, verändert, meint Linneweber. "Die großen Bücher werden in der Tat nicht mehr von A bis Z gelesen. Es wird viel kurzfristiger und in kleineren Einheiten konsumiert und reagiert. Und ich glaube, dem darf man sich nicht verschließen."
Der damalige Universitätspräsident Volker Linneweber am 29.11.2016 in der Saarbrücker Staatskanzlei.
Plädiert für ein anderes Bewertungssystem geisteswissenschaftlicher Leistungen: der Psychologe Volker Linneweber, bis 2017 Präsident der Uni Saarbrücken.© imago / Becker & Bredel
In der Kritik an Bewertungssystemen, die sich an einfachen Quantitäten wie Häufigkeit des Zitiertwerdens oder Anzahl der Fachaufsätze orientieren, gibt Linneweber Pörksen allerdings Recht: In den Geisteswissenschaften sei es "das große Problem", dass die Leistung nicht nach Inhalten, Innovationskraft oder gesellschaftlicher Relevanz bewertet würde. Darauf müsse viel mehr Aufmerksamkeit verwendet werden, mahnt der Psychologe. Hier seien die Fachgesellschaften gefragt, neue Bewertungssysteme zu erarbeiten.

Gesellschaftlich Relevantes interdisziplinär erforschen

Außerdem regt Linneweber Verbundvorhaben an. "Wir haben bestimmte Themenkomplexe gesellschaftlicher Relevanz, die uns ja alle tagtäglich umtreiben zurzeit. Bedeutung der sozialen Medien für die politische Meinungsbildung zum Beispiel oder Migration oder was auch immer", sagt er.
"Das sind komplexe Themen, die können nicht mehr, wie das vielleicht früher mal war, von einzelnen Forschern in einem großen Opus Magnum bearbeitet werden, sondern da eignen sich Verbundvorhaben, wo Kollegen unterschiedlicher Disziplinen miteinander in den Diskurs gehen und dann zum Beispiel in einem Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft solche Themen als Gruppe bearbeiten, sodass die Gruppenleistung letztlich im Mittelpunkt steht, wenn gefragt wird, was ist denn da jetzt rausgekommen."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Stephan Karkowsky: Gestern kritisierte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hier im "Studio 9" von Deutschlandfunk Kultur den Umgang der Universitäten mit ihrem wissenschaftlichen Personal. Das werde angehalten, Quantität statt Qualität zu produzieren. Pörksen sagte, dass an den Unis als guter Forscher gilt, wer viele Drittmittel einwirbt und viele Aufsätze publiziert in einschlägigen Fachzeitschriften statt vollständiger Bücher, und dass Geistes- und Sozialwissenschaften ihren Erkenntnishunger nur noch simulieren würden. Wir diskutieren darüber mit einem emeritierten Professor. Bis März 2017 war er Präsident der Universität des Saarlandes. Der Psychologe Volker Linneweber. Guten Morgen!
Volker Linneweber: Guten Morgen, Herr Karkowsky!
Karkowsky: Herr Linneweber, bevor wir das Ganze bewerten – stimmt denn Pörksens Analyse über das, was heute verlangt wird von Forschern an den Universitäten? Tatsächlich, Drittmittel und Fachaufsätze, darauf kommt es an?
Linneweber: Ja, ich würde dem vom Grundsatz her zustimmen, allerdings mit einer Einschränkung. Die Aussage "an den Universitäten" reduziert praktisch die Frage, wer ist denn dafür verantwortlich, dass das System ist, auf die Universitäten, und das ist falsch. Ich glaube, dass das Wissenschaftssystem sich insgesamt in diese Richtung entwickelt hat, das ist teilweise bedauerlich, teilweise nachvollziehbar, aber wir dürfen nicht vergessen, das Wissenschaftssystem auch an den Universitäten hat sich dramatisch geändert.
Wir haben heute zehnmal so viele Studenten wie in den 1960er-Jahren, und die Zeit der Zauberer, die Herr Pörksen dort praktisch noch mal wieder uns vor Augen führt, die ist in der Tat inzwischen vorbei. Und die Zauberlehrlinge sind anders aufgestellt. Die Zauberlehrlinge sind ins System eingebunden, in dem in der Tat die Frage im Mittelpunkt steht, wie kann ich denn das, was ich mache, finanzieren?
Karkowsky: Warum schützen Sie denn die Universitäten vor dem Generalverdacht? Haben Sie in Ihrer Karriere welche erlebt, die sich dem Drittmitteldiktat entziehen konnten?
Linneweber: Nein. Das geht eben in dem System nicht, weil die Finanzierung der Universitäten durch die Landeszuwendungsbeträge nur den Grundstock darstellt. Und es ist immer mehr in den letzten Jahrzehnten eine Richtung erkennbar geworden, dass man von außen – und das ist entweder das Land oder der Bund oder die EU oder Stiftungen – Mittel für Vorhaben, die man spannend findet und denen man auch Bedeutung beimisst, heranziehen muss. Und die muss man eben beantragen. Und das führt dazu, dass es Bewertungen gibt von Fachkollegen. Und da haben sich die verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedlich schwer damit getan.

Vorbild Informatik

Die Naturwissenschaften haben das relativ cool erledigt und haben gesagt, wir quantifizieren. Dann – und das wird ja auch kritisiert – haben die Geisteswissenschaft verwundert die Augen gerieben und haben sich gefragt, wie können wir das denn bei uns machen, können wir denn auch quantifizieren. Dann haben sie in der Tat auch begonnen, das zu imitieren, was dann dazu führte, dass es in der Tat eher eine an den Quantitäten orientierte Leistungsbewertung gab, und nicht an den Inhalten, an der Innovationskraft und der gesellschaftlichen Relevanz. Und das ist das große Problem. Aber das ist meiner Meinung nach eine Aufgabe für die Gesellschaften, für die Fachgesellschaften, für die Fakultätentage, sich darüber mal Gedanken zu machen. Und es gibt ein positives Beispiel, was ich immer wieder erwähne, einer sehr jungen Disziplin, die haben das anders hingekriegt.
Karkowsky: Nämlich?
Linneweber: Die Informatik. Die Informatik quantifiziert bei zum Beispiel Stellenbesetzungen nicht in dem Umfang, wie das die Naturwissenschaften tun, sondern sie fragt, welche Innovationskraft hat denn welcher Kollege, der hier vielleicht eine Stelle bei uns anstrebt.
Karkowsky: Käme man denn aus der Nummer wieder raus, indem meinetwegen die staatlichen Fördermittel für die Universitäten erheblich angehoben werden würden?
Linneweber: Ja, aber das ist, glaube ich, eine Illusion. Wenn wir jetzt die staatlichen Mittel in die Universitäten geben, ohne damit irgendwelche Projektaufgaben zu erwarten, dann ist das mit Sicherheit von großer Bedeutung für die Lehre und die Optimierung der Lehre. Aber für die Forschung muss es meiner Meinung nach Leistungsbewertungen geben, und das können nur die Peers machen. Und die Peers sind fachnah, und die Peers haben auch eine Verantwortung für ihr Fach. Und da, noch mal, sind die Fachgesellschaften und die Fakultätentage gefragt, neue Bewertungssysteme zu erarbeiten, die eben in den Bereichen, in denen sich diese simplen Quantifizierungen wie zum Beispiel, wer wird wie oft zitiert und so weiter, nicht unbedingt anbieten, zum Beispiel orientiert an Preisen, an Hervorgehobenheiten von Fachkollegen, Reputation et cetera. Solche Systeme müssen selbstbewusst seitens der Sozial- und Geisteswissenschaften dagegengesetzt werden.
Karkowsky: Stimmen Sie denn Pörksen zu, wenn er sagt, wir brauchen mehr komplette, durchdachte Bücher statt einzelner Fachaufsätze, in denen ja dann oft nur kleine Stückchen an Forschungsergebnissen produziert werden?
Linneweber: Das nur bedingt. Die Zeit der Schulen ist zumindest in weiten Teilen der Sozialwissenschaften vorbei. Ich komme ja aus der Psychologie, und es gab Anfang des 20. Jahrhunderts die großen Schulen Behaviorismus, Psychoanalyse. Heute geht es wirklich um andere Themen, und ich glaube auch, dass unsere Art, wie wir Medien konsumieren, auch wissenschaftliche Medien, sich verändert hat. Die großen Bücher werden in der Tag von A bis Z nicht mehr gelesen. Es wird viel kurzfristiger und in kleineren Einheiten konsumiert und reagiert. Und ich glaube, dem darf man sich nicht verschließen.
Karkowsky: Pörksen kritisiert ja auch, dass ein Großteil der Forschungsergebnisse nicht denen zur Verfügung steht, die das alles bezahlen, in der Regel die Steuerzahler. Wäre denn eine stärkere Fixierung aufs Publikum ein richtiger Weg?
Linneweber: Auf jeden Fall wäre eine stärkere Fixierung auf die Phase nach irgendwelchen öffentlich finanzierten Vorhaben von Bedeutung. Oftmals ist es so, dass ein Antrag mit größtem Aufwand erstellt wird. Wenn das Projekt durch ist, interessiert eigentlich den Geldgeber nicht mehr, was ist denn jetzt draus geworden.

Verbundvorhaben als Lösung?

Und da müsste viel mehr Aufmerksamkeit drauf verwendet werden, sodass wir solche Themen, wie er sie ausführt, Innovationskraft und gesellschaftliche Relevanz dort auch wieder zum Leistungsbewertungskriterium machen, nach dem Motto dann auch vorgehen, wie war denn das letzte Projekt des Kollegen X, und können wir von ihm für das neue Projekt, das er jetzt beantragt, erwarten, dass er diese gleiche Wucht wieder in das Projekt hineinbringt.
Karkowsky: Das ist jetzt ein frommer Wunsch von Ihnen. Glauben Sie, da wird sich was ändern?
Linneweber: Ich habe den Eindruck, wenn die Fachgesellschaften sich darüber im Klaren sind, dass sie die Verantwortung haben, und diese Thematik, die in diesem Beitrag ja zu Recht aufgeworfen wird, ernst nehmen, müssen sie zu neuen Modellen kommen und können nicht danebenstehen und in der Schmollecke bleiben und sagen, die anderen kriegen das ganze Geld, und wir sind nicht antragsfähig.
Es ist noch ein weiteres Thema natürlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften, das ist das der Verbundvorhaben. Wir haben bestimmte Themenkomplexe gesellschaftlicher Relevanz, die uns ja alle tagtäglich umtreiben zurzeit. Bedeutung der sozialen Medien für die politische Meinungsbildung zum Beispiel oder Migration oder was auch immer.
Das sind komplexe Themen, die können nicht mehr, wie das vielleicht früher mal war, von einzelnen Forschern in einem großen Opus Magnum bearbeitet werden, sondern da eignen sich Verbundvorhaben, wo Kollegen unterschiedlicher Disziplinen miteinander in den Diskurs gehen und dann zum Beispiel in einem Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft solche Themen als Gruppe bearbeiten, sodass die Gruppenleistung letztlich im Mittelpunkt steht, wenn gefragt wird, was ist denn da jetzt rausgekommen.
Karkowsky: Über die Kritik des Tübinger Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen am universitären Betrieb sprachen wir mit dem emeritierten Professor für Psychologie und ehemaligen Präsidenten der Universität des Saarlandes, Volker Linneweber. Und mit dem haben wir sehr gern gesprochen, Herr Linneweber, hat mir Spaß gemacht. Vielen Dank!
Linneweber: Das freut mich auch. Vielen Dank, Herr Karkowsky!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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