Zunehmende ADHS-Erkrankungen

"Pathologisierung kindlichen Verhaltens"

Bei zahlreichen Kindern wird eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Zu Recht? (Symbolbild)
Bei zahlreichen Kindern wird eine Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Zu Recht? © dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte
Pascal Rudin im Gespräch mit André Hatting · 15.08.2016
Die Diagnose ADHS bei Kindern hat sich der AOK zufolge innerhalb von acht Jahren verdoppelt. Es gebe die Gefahr von Überdiagnosen, kritisiert Pascal Rudin, Repräsentant der UNO für soziale Arbeit. So würde auch die Pharmaindustrie die Entwicklung mit vorantreiben.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist die am häufigsten gestellte psychische Diagnose im Kindesalter. Der Wissenschaftlichen Dienst der AOK hat jetzt eine neue Untersuchung vorgelegt: Danach habe sich der Anteil der ADHS-Patienten zwischen 2006 und 2014 fast verdoppelt, von 2,5 auf 4,4 Prozent.
Pascal Rudin, Repräsentant der UNO für soziale Arbeit, führt diesen Anstieg auch auf den Wechsel von Klassifikationen zurück. Das hänge mit dem Adaptieren der amerikanischen Psychiatrie zusammen. So werde zunehmend das amerikanische Diagnosehandbuch "DSM" verwendet - statt des bisher üblichen "ICD" der Weltgesundheitsorganisation:
"Es gab da einen Wechsel von einem psychosozialen zu einem rein biologischen Menschenbild."

Die Gefahr von Überdiagnosen

Es bestehe damit die Gefahr von Überdiagnosen, kritisierte Rudin im Deutschlandradio Kultur:
"Ich sehe da die totale Grundlage einer Pathologisierung. Das sieht man auch, wenn man die Zahlen für 2016 hochrechnet: Dann müssten wir dann in den USA bei circa 14 Prozent angelangt sein. Es gibt aber durchaus Staaten, wo bereits 26 Prozent der Kinder diese Diagnose erhalten haben. Und das ist eine ganz klare Untergrabung der Idee von Normalität in Kindheitsentwürfen."

Zunehmender Leistungsdruck - auch bei sehr jungen Kindern

Einer der "größten Treiber" dieser Tendenz sei auch die Pharmaindustrie, sagte Rudin. Ein Grund für die mögliche ADHS-Erkrankung von Kindern sei der zunehmende Leistungsdruck, der heute schon im Kindergarten beginne. Wichtige Ansätze im Umgang mit Symptomen von ADHS müssten dann auch in der Schule umgesetzt werden, forderte Rudin:
"Oft fängt das Ganze ja erst mit der Schule an. Die Schule, die dann halt – und das zeigt sich auch in Studien - gerade bei sehr jungen Kindern sehr schnell diese Symptome hervorruft. Da handelt es sich eigentlich um eine Pathologisierung normalen kindlichen Verhaltens. Und da würde ich unbedingt das Gespräch mit der Schule suchen."

Das Gespräch im Wortlaut:
André Hatting: Aufmerksamkeitsdezifit-Hyperaktivitätsstörung – schon das Wort ist kompliziert, das Krankheitsbild ist es auch. ADHS, so die Kurzform, auch Zappelphilipp-Syndrom genannt, betrifft vor allem Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 17 Jahren. Sie ist die häufigste psychische Diagnose im Kindesalter, Tendenz steigend – zumindest bei den bei der AOK versicherten Kindern.
Die Krankenkasse hat gerade das Ergebnis einer Untersuchung veröffentlicht. Ergebnis: Zwischen 2006 und 2014 hat sich der Anteil von ADHS-Patienten fast verdoppelt, von 2,5 auf 4,4 Prozent. Ein bedenklicher Trend oder was genau steckt hinter diesen Zahlen. Darüber möchte ich jetzt mit Pascal Rudin sprechen, er ist Repräsentant bei der UNO für soziale Arbeit. Guten Tag, Herr Rudin!
Pascal Rudin: Guten Tag!
Hatting: Wie erklären Sie sich diese Zunahme?
Rudin: Grundsätzlich sehe ich da insbesondere ein wichtiger Treiber durch das Adaptieren der amerikanischen Psychiatrie, dass wir zusehends das DSM verwenden – das ist das amerikanische Diagnosehandbuch versus das ICD, das ist das der WHO, der Weltgesundheitsorganisation – und das darunterliegenden Verständnis des Menschenbildes. Es gab da einen Wechsel von einem psychosozialen zu einem rein biologischen Menschenbild.
Hatting: Das klingt kompliziert. Das heißt also, wenn wir jetzt das Amerikanische zugrunde legen, dann sind die Symptome anders oder sie werden anders beurteilt?

Diagnosehandbücher haben unterschiedlich strenge Kriterien

Rudin: Genau. Grundsätzlich sind die Kriterien, der Kriterienkatalog, was man da erfüllen muss, damit man diese Krankheit hat, sind viel integrativer. Wir sprechen derzeit in der USA, von den Zahlen, die wir jetzt haben bis 2011, von rund 11 Prozent, die sich dafür qualifizieren. Demgegenüber steht das ICD, das viel strenger ist mit den Diagnosekriterien, die man da erfüllen muss, um dieses ADHS dann wirklich auch diagnostizieren zu dürfen. Da sprechen wir von einem Prozent der Kinder, die das erfüllen.
Hatting: Das ist ein deutlicher Unterschied. Geben Sie doch mal ein Beispiel – was wäre anders in der Klassifikation?
Rudin: Grundsätzlich ist es anders, dass man zum Beispiel im ICD ganz klar sagt, es muss in verschiedenen Settings vorkommen, und das über eine längere Zeitdauer, es muss vor sechs Jahren bereits aufgetreten sein – all diese und weitere Indikatoren, die wurden im DSM mittlerweile verworfen. Ein wichtiger weiterer Punkt ist, es dürfen keine anderen Störungen vorliegen, wie beispielsweise nach einem großen Verlust, eine große Trauer, sage ich jetzt mal – das auch wurde im DSM verworfen, ist im ICD nach wie vor als Ausschlusskriterium drin.
Hatting: Sehen Sie durch diesen Wechsel der Klassifikation die Gefahr von Überdiagnosen, also dass man mehr Kinder krank macht als sie eigentlich sind?
Rudin: Absolut. Also ich sehe da die totale Grundlage einer Pathologisierung. Das sieht man auch, also wenn man jetzt die Zahlen hochrechnet für 2016, müssten wir da in der USA bei ca. 14 Prozent angelangt sein, es gibt aber durchaus Staaten, da ist es bereits bei 26 Prozent der Kinder, die diese Diagnose erhalten haben, und das ist eine ganz klare Untergrabung der Idee von Normalität in Kindheitsentwürfen.
Hatting: Nicht nur die Klassifikation ist sehr umstritten, auch die Therapie. Also die Pharmaindustrie verdient nicht schlecht damit, bestimmte Medikamente an diese Kinder zu verschreiben. Könnten Sie sich vorstellen, dass das auch eine Rolle spielt?
Rudin: Ja, also durchaus. Da gibt es viele soziologische Studien auch dazu, und gerade die Pharmaindustrie wurde als einer der größten Treiber dieser Tendenz eigentlich identifiziert. Das ist so.
Hatting: Was, glauben Sie, ist der häufigste Grund dafür, dass Kinder an ADHS erkranken?

Hohe Erwartungshaltung fördert Erkrankungsrisiko

Rudin: Grundsätzlich, denke ich, ist es die Leistungserwartung, der Leistungsdruck, der zusehends immer weiter hinuntergereicht wird bis mittlerweile in den Kindergarten. Diese hohe Erwartungshaltung, die dann bereits an sehr kleine Kinder herangetragen wird, wie man sich zu verhalten hat, führt dann wirklich dazu, dass Kinder dann auch – gerade Jungs eher – extrovertiert, aktiv werden, aggressiv werden, Mädchen dann tendenziell – es ist nicht immer so –, tendenziell eher verträumt sich in eine Welt fliehen, die da den Schutz bietet, die sie eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch haben sollten.
Hatting: Nun ist es so, ich kenne auch persönlich Fälle von Eltern, deren Kinder an ADHS leiden, da leiden die Eltern immer mit, das ist sehr anstrengend für diese Kinder. Was würden Sie denn empfehlen, was für ein Umgang bietet sich an, wenn man jetzt nicht gleich zur Pille greift und die Kinder ruhigstellt?
Rudin: Also ein ganz wichtiger Ansatz ist – und das ist jetzt nicht bei den Eltern, das ist primär bei der Schule –, oft fängt das Ganze ja erst an mit der Schule. Die Schule, die dann – das zeigt sich auch in Studien –, die dann gerade bei sehr jungen Kindern sehr schnell diese Symptome hervorruft, da handelt es sich eigentlich um eine Pathologisierung normalen kindlichen Verhaltens, und da würde unbedingt das Gespräch auch mit der Schule suchen als Eltern und dann auch in Betracht ziehen, dass es allenfalls – gerade bei sehr jungen Kindern, also wenn die frisch eingeschult werden und diese Symptome sofort auftauchen –, dass man da auch überlegen muss, ob das einerseits die richtige Schule ist und ob es dann auch der richtige Zeitpunkt ist, weil gerade die jüngsten Kinder in der Klasse die häufigsten Diagnose erhalten. Also da gibt es eine direkte Korrelation.
Hatting: Pascal Rudin, Repräsentant an der UNO für soziale Arbeit. Mit ihm habe ich über die Zunahme von ADHS-Fällen in Deutschland gesprochen, was möglicherweise dahintersteckt. Vielen Dank für das Gespräch!
Rudin: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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