Zum zweiten Mal ein Kind

Die Entdeckung der Kindheit in der Musik der Romantik

28:17 Minuten
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Porträt der Töchter von Catulle Mendèz, Gemälde von Auguste Renoir, 1888 © https://www.wikiart.org
Von Sabine Fringes · 22.11.2019
Im 19. Jahrhundert steigt die Zahl von Notenbüchern für Kinder stark an. An die 800 verschiedene Alben drängen auf den Musikalienmarkt. Das musikalisch gebildete Kind wird zum Statussymbol einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht.
Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sahen viele im Kind vor allem einen unvollkommenen Erwachsenen, einen jungen Menschen, den es möglichst schnell in die Welt der Großen einzugliedern galt. Der Tenor damaliger Erziehungsratgeber lautete, den Willen des Kindes zu brechen, um ihm die Vorstellungen der Eltern einzutrichtern.
Hasenclever, Johann Peter.
1810–1853. /
“Der erste Schultag (Lasset die Kindlein zu mir kommen), 1852.
Öl auf Leinwand,
85 × 112 cm.
Privatsammlung. |
J.P. Hasenclever, Der erste Schultag, 1852© picture alliance / akg-images

Wie im Keim einer Pflanze

Erst allmählich setzte sich unter dem Einfluss des Philosophen Jean-Jacques Rousseau der Gedanke durch, dass das Kind eine eigene Logik hat. Laut Rousseau ist im Kind alles schon wie im Keim einer Pflanze angelegt. Erziehung ist für ihn folglich ein behutsames Wachsenlassen der kindlichen Anlagen. In seinem Erziehungsroman "Emile" plädiert Rousseau für eine freie und behutsame Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes. Mit dem Erscheinen seines Buches im Jahre 1762 datieren viele Historiker den Anbruch einer neuen Ära. Kindheit wird nun nicht mehr als Vorstufe zum Erwachsenendasein, sondern als eine eigenständige Lebensphase betrachtet.
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).© AFP / ARCHIVES
Auch soziale Veränderungen begünstigen die Hinwendung zum Kind. Mit der beginnenden Industrialisierung löst sich die alte große Hausgemeinschaft mit einer Vielzahl von Verwandten und Angestellten auf. Die Familie formiert sich nun ums Kind, und nach und nach beginnt man, in den Bürgerhäusern Kinderzimmer einzurichten. Kleine Möbel und Spielzeug gehören bald genauso zum Alltag der Kinder wie eine bequeme Kleidung. Auch die Komponisten gehen nun stärker auf die Welt des Kindes ein.

Musizierendes Kind als Statussymbol

Die Stücke tragen meist Titel, die aus der Lebenswelt der Kinder stammen: Spielzeug, Bräuche des Familienlebens und Märchengestalten finden sich darin wieder. Mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung des Bürgertums wächst im 19. Jahrhundert das Interesse an Bildung, wobei man der Musik einen besonderen Stellenwert einräumt: Das musikalisch gebildete Kind wird zum Statussymbol einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht. Nicht nur der künstlerischen Ausbildung des Kindes wird mehr Aufmerksamkeit als zuvor zuteil, sondern dem Kind und seiner spezifischen Erlebnisfähigkeit überhaupt.
Der Schriftsteller Clemens Brentano mit einem aufgeschlagenen Buch in einem zeitgenössischen Stich. Er wurde am 8. September 1778 in Ehrenbreitstein bei Koblenz geboren und starb am 28. Juli 1842 in Aschaffenburg. Brentano gilt als einer der bedeutendsten Dichter und Erzähler der Hochromantik. Mit Achim von Arnim gab er die Volksliedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" heraus sowie zahlreiche Märchen ("Rheinmärchen", "Italienische Märchen"). | Verwendung weltweit
Clemens Brentano© dpa

Liedsammlung "Des Knaben Wunderhorn"

Im Jahre 1808 erschienen erstmals mit dem dritten Band der von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebenen Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" Gedichte und Lieder, die ausdrücklich für kleinere Kinder bestimmt waren. Hatte man in der Aufklärung der Phantasie des Kindes noch keinen großen Stellenwert eingeräumt, so wird diese nun zu einem wesentlichen Bestandteil der Erziehung. "Des Knaben Wunderhorn" löste eine starke Resonanz aus und regte Komponisten wie Robert Schumann und Gustav Mahler zu Vertonungen an.

Für das Kind im Erwachsenen

Bezeichnend ist, dass die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" zunächst gar nicht für Kinder gesammelt wurden, sondern für Erwachsene. So suchte der Romantiker stets auch nach dem Kind in sich selbst. In dieser Sehnsucht nach dem Kindlichen liegt die Hoffnung nach einer Erlösung aus der "faden Prosa" des Alltags. Frauen und Kinder sollen einen Ruhepol zur konkurrenzbetonten Erwerbssphäre des Mannes bilden.
Kindlichkeit wird nun Mode, eine Mode, die Männern und besonders gut Frauen zu Gesicht steht. Auch vor dem Alter macht sie nicht Halt. Fand man zuvor nichts peinlicher als einen "jugendlich brausenden Greisenkopf", so entdecken die Romantiker nun das antike Vorbild des "puer senex", des "alten Kindes" wieder. Dichter wie Novalis und Ludwig Tieck sehen im Kind einen Repräsentanten des goldenen Zeitalters. Und für Friedrich Hölderlin, Jean Paul und Dorothea Schlegel sind die Kleinen "göttliche, himmlische" Wesen, weil sie nahe bei Gott stehen.
Farblithographie zu "Der gestiefelte Kater" von Viktor Paul Mohn aus dem Jahr 1882. Aus: Märchen-Strauss für Kind und Haus
„Der gestiefelte Kater“ ist nicht nur ein Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Der Romantiker Ludwig Tieck machte bereits 1797 aus dem vermutlich aus Frankreich stammenden Stoff ein ungewöhnliches Theaterstück.© picture-alliance / akg-images / Archiv für Kunst & Geschichte

Das Kind, der bessere Mensch

Das Kindheitsbild der Romantik speist sich aus Ideen Rousseaus: Das Kind sei der bessere Mensch, ein Wesen, das im moralischen Sinne von sich aus gut ist. Das Kind lebt - laut Rousseau - in einem arkadischen Paradies und ist frei von den Deformationen der Welt der Erwachsenen.
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