Zum zehnten Todestag von Claude Lévi-Strauss

Das Eigene im Fremden sehen

37:34 Minuten
Porträt in Schwarzweiß des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss.
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat die westliche Vorstellung von menschlicher Zivilisation entscheidend mitgeprägt. © Picture Alliance / dpa / Max Lavielle
Iris Därmann und Oliver Precht im Gespräch mit René Aguigah · 13.10.2019
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Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss bereiste den Amazonas, warnte vor den zerstörerischen Folgen der westlichen Zivilisation und zeigte die Verbindungen zwischen "uns" und den "anderen". Gibt es einen aktuelleren Denker als ihn?
Erfahrungsgemäß sind wir selbst unsere größten Feinde, sagte Claude Lévi-Strauss 1971 in einem Interview. Vor dem Hintergrund einer schon damals sichtbaren Umweltzerstörung nehme der "Schutzraum" rund um die Menschheit massiv ab – und das bedrohe letztlich die Menschheit selbst.
Angesichts der Klimakrise, zunehmendem Artensterben und nicht zuletzt der jüngsten Amazonas-Brände scheint diese Warnung noch an Aktualität gewonnen zu haben – umso mehr, als sie von jemandem ausgesprochen wurde, der zeitlebens dem Amazonas-Gebiet und seinen Bewohnern eng verbunden war.
Denn Claude Lévi-Strauss, der 1908 geboren wurde und am 30. Oktober 2009 verstorben ist, war nicht nur Ikone des französischen Strukturalismus und Anthropologie-Professor am Collège de France. Zunächst war er ein Reisender, der sein Denken vor allem in der direkten Auseinandersetzung mit indigenen Gesellschaften entwickelt hat, wie die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann im Gespräch betont.

Zivilisationskritik durch den Blick des Anderen

Die Zerstörung des Regenwaldes und der dort beheimateten Kulturen bemerkte Lévi-Strauss bereits bei seinen Amazonas-Reisen in den Dreißigerjahren, nachdem er, der gelernte Philosoph, sich der ethnologischen Forschung zugewandt hatte.
"Je weiter er mit seiner Reisegruppe in den Amazonas vordringt, desto mehr entdeckt er auch gerodeten Regenwald," sagt Iris Därmann, die ausgiebig zu den Schriften von Lévi-Strauss geforscht hat. "Die Kolonisierung, die Industrialisierung des Regenwaldes durch Brandrodung ist eine Dimension, der Lévi-Strauss schon in einem hohen Maße begegnet."
Diese Erfahrungen verarbeitet er später, 1955, in seinem wohl berühmtesten Buch "Traurige Tropen", das ihn weit über die Grenzen der Ethnologie hinaus bekannt macht. Darin betont er die Gleichwertigkeit der indigenen Völker in ihrer Andersartigkeit – und übt zugleich scharfe Kritik an der Kolonialisierung und Zerstörung durch die westliche Zivilisation. So schreibt er:
"Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben."
Beides, der Blick in die Fremde und der Blick auf das Eigene, gehört für Lévi-Strauss zusammen, wie Oliver Precht, Philosoph und Literaturwissenschaftler, betont: Er sei überzeugt gewesen, dass man für eine "fundamentale Selbstkritik der westlichen Zivilisation zu dem Anderen, dem Fremden schauen muss".

Eine Neuerfindung der Ethnologie

Lévi-Strauss habe erkannt, so Precht, "dass die westliche Zivilisation und der Humanismus, der dort vielleicht vorgeherrscht hat, nicht in der Lage waren, die allerschlimmsten Katastrophen zu verhindern, und dass sie ökologische Katastrophen produziert haben, deren sie eigentlich nicht mehr Herr werden konnten."
In dieser Selbstkritik durch den Blick der Anderen liege eine revolutionäre Neuerfindung der Ethnologie, so Iris Därmann: Anders als seinen Vorgängern gehe es Lévi-Strauss um eine "Wechselseitigkeit" des ethnologischen Blicks: Also nicht nur darum, dass er als Ethnologe die "anderen" untersucht, sondern auch darum, die "erschütternde Erfahrung zu durchlaufen", die damit einhergehe, wenn man mit dem Blick der anderen auf "uns" schaue. Solche "Fremderfahrungen" könnten die Selbstverständlichkeit infrage stellen, mit der sich die westliche Zivilisation als Zentrum und Maßstab der Welt begreife.
Der klassischen Ethnologie habe Lévi-Strauss zu Recht vorgehalten, im Dienste der Kolonialisierung "die indigenen Gesellschaften in großen Abstand von der Kultur, in eine Art von Naturnähe zu versetzen und sie damit verschiedener zu machen, als sie eigentlich sind". Demgegenüber ziele er selbst, im Sinne eines "umfassenden Humanismus", darauf, "Verbindungen zu stiften zwischen den Anderen und uns selbst", das heißt, "einerseits die Andersheit anzuerkennen und wahrzunehmen", andererseits gebe aber auch "die Korrespondenzen und Verschränkungen".

Suche nach kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten

Dieser vergleichende Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede ist bei Lévi-Strauss stark geprägt durch die strukturale Sprachwissenschaft, mit der er sich im New Yorker Exil vertraut machte, wohin er, der französische Jude, vor den Nazis hatte flüchten müssen.
Indem Lévi-Strauss dieses Denken in abstrakten Strukturen auf die Betrachtung kultureller Phänomene insgesamt überträgt und erweitert, erkennt er etwa, dass das "wilde Denken" von dem unsrigen nicht etwa grundverschieden, also "prälogisch oder alogisch" sei, wie Iris Därmann betont. Vielmehr stelle es "eine andere Form des Denkens" dar, die man im Übrigen, so Lévi-Strauss, ebenso in bestimmten Bereichen der westlichen Gesellschaften vorfinde.

Grenzverschiebung zwischen Natur und Kultur

Zugleich geht es Lévi-Strauss darum, das spezifisch Eigene der indigenen Kulturen zu unterstreichen. So erkennt er insbesondere im Verhältnis zu tierischen und pflanzlichen Lebensformen einen Respekt, den wir von indigenen Völkern lernen könnten, wie er 1971 im Interview betont.
"Was ihn fasziniert, ist, dass die indigenen Gesellschaften, die er untersucht, die Beziehung zu nicht-menschlichen Lebewesen grundsätzlich anders denken als wir", so Oliver Precht. Das zeige sich etwa in der Annahme, "dass ihr Verhältnis zu Tieren eigentlich ein soziales Verhältnis ist", insofern nämlich, als sie Lévi-Strauss zufolge "in allen Lebewesen etwas vermuten, das wir vielleicht Subjektivität nennen würden", also eine Handlungsfähigkeit und Weltwahrnehmung, die von der menschlichen nicht grundsätzlich verschieden ist.
Was die Tiere von den Menschen unterscheidet sei demnach lediglich der Umstand, "dass sie einen anderen Körper haben". Im Prinzip aber hätten auch Tiere das Potenzial, "unter bestimmten Bedingungen auch Personen zu sein". Vor diesem Hintergrund lasse sich der Schamane als eine Art "Diplomat" verstehen, dessen Aufgabe es sei, mit den Tieren zu kommunizieren, und der "mit der ganzen umliegenden Natur in einer Art kosmopolitischem Verhältnis steht".
Nachfolgende Ethnologen schließen heute an diese Beobachtungen an, so etwa Eduardo Viveiros de Castro, brasilianischer Schüler von Lévi-Strauss, dessen Texte Precht ins Deutsche übersetzt hat.

Die Grenze zwischen Mensch und Tier: flexibel, aber wichtig

Die Erkenntnisse von Lévi-Strauss und seinen Nachfolgern über das Mensch-Tier-Verhältnis der indigenen Völker lüden auch dazu ein, unser eigenes, westliches Verhältnis zu Tieren und Natur zu hinterfragen und seine historische Veränderlichkeit anzuerkennen, wie Iris Därmann betont. Denn die scharfe Trennung von Mensch und Tier, die wir heute für selbstverständlich halten, habe sich – gleichzeitig mit der Verniedlichung als Haus- und Kuscheltiere – erst im Zuge der industriellen Massentierhaltung ergeben.
Während Lévi-Strauss bei den indigenen Völkern vor allem Formen einer "Vermenschlichung" von Tieren beobachtet habe, biete allerdings die europäische Geschichte zahlreiche Beispiele für eine politisch motivierte "Animalisierung" von Menschen: Denn die gezielte Gleichsetzung bestimmter Menschen-Gruppen mit Tieren, sei gerade Kennzeichen und Rechtfertigung der verschiedenen historischen Rassismen gewesen – im Sklavenhandel ebenso wie im Nationalsozialismus. "Menschenrechtlich gesehen ist diese Grenze also ziemlich zentral."

Relativierung eigener Denkweisen

Ohnehin dürfe man Lévi-Strauss nicht dahingehend missverstehen, dass wir die indigene Weltsicht und Lebensweise einfach übernehmen sollten, wie Oliver Precht betont: "Es gibt keine Rückkehr zu irgendeinem fantasierten primitiven Naturzustand oder so etwas." Aber die indigenen Lebensweisen könnten uns zeigen, "dass bestimmte Annahmen, die wir machen, nicht absolut sind. Das ist der selbstkritische Zug in der Anthropologie, der Lévi-Strauss besonders wichtig war."

Claude Lévi-Strauss: "Traurige Tropen"
Suhrkamp, 2012 (20. Auflage)
412 Seiten, 22 Euro

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