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Zum 25. Todestag des Schriftstellers, Dramatikers und Filmemachers Peter Weiss hat der Autor Ingo Schulze dessen Werk "Ästhetik des Widerstands" gewürdigt. Die Romantrilogie über Faschismus und Stalinismus beginne spannend wie ein Krimi und könne nicht veralten, sagte Schulze, Autor von "Simple Storys" und "Handy".
Sagenschneider: Er zählt zu den wichtigsten deutschen Nachkriegskünstlern, obwohl er da längst kein Deutscher mehr war, denn der Schriftsteller, Dramatiker und auch Filmemacher Peter Weiss, er blieb nach 1945 in Schweden, wohin er vor den Nazis geflohen war, und er blieb schwedischer Staatsbürger. Wo in Deutschland hätte er auch heimisch werden sollen. Als Marxist wurde er im Westen skeptisch beäugt, und im Osten als Kritiker des Stalinismus und der real existierenden sozialistischen Verhältnisse. Peter Weiss hatte die 40 schon überschritten, als 1960 zum ersten Mal ein Buch von ihm auch in Deutschland erschien, und dann gelang ihm aber ziemlich schnell der Durchbruch mit den autobiografischen Romanen "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt" und den großen politischen Dramen "Marat / Sade" oder die Ermittlungen nach den Protokollen des Auschwitz-Prozesses. Sein Hauptwerk verfasste Peter Weiss in seinen letzten Lebensjahren. 1975 erschien der erste Band seiner "Ästhetik des Widerstands", 1981, ein Jahr vor seinem Tod, der dritte – eine Romantrilogie, die vom kommunistischen Widerstand gegen den Faschismus erzählt, von den Verbrechen des Stalinismus und von Kunst und Kultur als existenziell notwendiger Lebensgrundlage. "Ästhetik des Widerstands", dieses Werk hat der Schriftsteller Ingo Schulze ins Zentrum gestellt bei seiner Dankesrede, als er im vergangenen Jahr mit dem Peter-Weiss-Preis ausgezeichnet wurde. Jetzt ist Ingo Schulze, der Autor der "Simple Storys" oder "Handy" bei uns im Studio, willkommen Herr Schulze!
Schulze: Guten Tag!
Sagenschneider: In Ihrer Dankesrede haben Sie damals erzählt, Sie hätten Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" erst mit Verzögerung entdeckt, wobei sich ja dann die Frage sofort auftut, welche Version haben Sie entdeckt, die sprachlich geglättete, die im Westen erschienen war oder sozusagen das Original, das im Osten publiziert worden ist?
Schulze: Mir ist dieser Unterschied erst vor einem halben Jahr klar geworden, ich wusste das bisher nicht, da ja sehr, sehr wenige Exemplare in der DDR erschienen sind. Da gibt es viele Geschichten von Freunden, wie man zu diesen Büchern gekommen ist. Ich zählte nicht zu den Glücklichen. Ich habe mir das schicken lassen und dachte, ich habe jetzt die Original …
Sagenschneider: Aus dem Westen?
Schulze: Ja, ich dachte, ich habe jetzt ja die Originalfassung. Ich finde es natürlich schade, dass jetzt sozusagen die Fassung, die Peter Weiss wollte, eigentlich die richtige Fassung, die in der DDR erschienen ist, kurioserweise oder nicht kurioserweise, je nachdem, dass die eben nicht die ist, die man jetzt kaufen kann. Das ist schon bedauerlich.
Sagenschneider: Was war denn für Sie damals das Sensationelle an Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" – die Sprache, die Geschichte oder den Bezug, den Sie zum eigenen Leben herstellen konnten?
Schulze: So nach und nach alles zusammen. Wir haben das Mitte der 80er Jahre natürlich erst mal sehr politisch gelesen, weil wenn so ein Buch in der DDR erschien, dann konnte man damit offiziell arbeiten. Und das war genau das, was man wollte, dass man was über diese Stalin’schen Verbrechen erfährt und dass das natürlich von jemandem kommt, wo man sagt, das ist jetzt kein Kommunistenhasser. Die erste Lektüre, die war sehr politisch. Und so nach und nach merkte man, dass das eigentliche liegt darunter, nämlich immer dieses "sagte", "fragte", "antwortete", also wie über etwas gesprochen wird und wie über Kunstwerke gesprochen wird und wie eigentlich das, was sich im Laufe der Jahrhunderte, manchmal der Jahrtausende da angereichert hat, wie das wieder entfaltet wird und wie das ins Heute hineinspricht. Das war eigentlich das große Erlebnis, was auch eines der ganz aktuellen Sachen ist, die also, glaube ich, nie veralten werden. Und für mich kam natürlich noch hinzu – das ist so die ganz eigene Geschichte dabei –, dass sich um diese Lektüre von Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" eine kleine Gruppe gebildet hat außerhalb der Universität, auch wenn wir uns über die Uni kannten. Und das war eigentlich etwas ganz Wichtiges, dass man diese Vereinzelung aufbricht und dass man über Dinge spricht, die im offiziellen Raum natürlich längst nicht so besprochen werden konnten, auch wenn es, wie gesagt, mit Peter Weiss dann viel möglich war.
Sagenschneider: Das heißt, diese Lektüre hat es möglich gemacht, auch über die eigenen Verhältnisse zu sprechen, anders zu sprechen?
Schulze: Ja natürlich, und es einfach auch einzuordnen in historische Abläufe und da eben auch wirklich Dinge, die man bisher nur als Widerspruch erfahren hat, wo man dachte entweder oder – eigentlich diese Spannung zwischen zwei Dingen, die sich ausschließen müssen, aber doch aushalten zu müssen. So ist ja Geschichte, dass es unerträgliche Dinge gibt, und bei Weiss ist das Großartige daran, dass natürlich auch immer das Verstummen, das Verrücktwerden, sozusagen das Ins-Desaster-Abgleiten immer gegenwärtig ist, und dagegen die Anstrengung, doch lebendig zu bleiben, in der Sprache zu bleiben, ist, versuchen auszudrücken und auch zu handeln.
Sagenschneider: Genau, beim Handeln sind wir jetzt. Das ist ja das Verrückte eigentlich daran: Sie haben Mitte der 80er, haben Sie, glaube ich, gesagt, haben Sie es gelesen, und Ende der 80er waren die großen Umbrüche, war die Wendezeit, das heißt, das Lesen mündete sozusagen in Handeln, ganz praktisch, bis hin zu den Montagsdemos eben.
Schulze: Wir haben natürlich nie gewagt, uns irgendwie mit diesen Widerstandstruppen da zu vergleichen, das ist auch kein Vergleich. Aber sozusagen von der Art und Weise, wie man sich verhält, war das, wenn auch unter nicht so einem großen Risiko, natürlich ähnlich, dass man sich versuchte zu finden, bestimmte Fragen zu stellen, und plötzlich war es tatsächlich so. Man organisierte sich illegal, man machte Flugblätter, man organisierte Demonstrationen und man kam durch.
Sagenschneider: Ging es denn um mehr als eine politische Revolution? Immerhin, wir reden ja über "Ästhetik des Widerstands", hier werden zwei Begriffe miteinander verknüpft – Ästhetik, Widerstand, Kunst und Politik –, also ging es um mehr, ging es um eine Kulturrevolution? Ist das so, verkürzt?
Schulze: Das ist so ein sehr belasteter Begriff, würde ich sagen. Es geht eigentlich darum, dass man sich bewusst wird, dass eigentlich Widerstand mit Wahrnehmung beginnt. Mein großes Thema ist eigentlich so diese Selbstverständlichkeiten, die sich verändert haben, und wo man bestimmte Fragen gar nicht mehr stellt. Und der Weiss – das beginnt ja mit der Beschreibung des Pergamon-Frieses und wie der eigentlich so Schicht um Schicht freigelegt wird. Das ist ein Roman, in dem natürlich Figuren auftreten, die es vom Namen her natürlich tatsächlich gegeben hat, die aber eigentlich eher zu einer Anregung werden, doch eben dann wieder literarische Figuren werden. Und in diesem Gespräch dieser Figuren untereinander wird eigentlich so Schicht um Schicht freigelegt. Das liest sich wie ein Krimi. Das ist, glaube ich, auch für die Kunstbeschreibung ein ganz neuer Maßstab. Und es geht eigentlich so um diese Jahre ’37 bis ’45 durch bis zum Unerträglichen, also die Hinrichtung der Roten Kapelle, aber dass man sich diesem Unsäglichen stellt und eigentlich dann immer wieder die Frage, wie bleibe ich lebendig und welche Rolle spielt dabei die Kunst, die Kunst als ein Lebensmittel.
Sagenschneider: Die Kunst als ein Lebensmittel und die Kunst als Basis auch für den Widerstand?
Schulze: Ja natürlich, dass man sie einfach auch einordnen kann in historische Zusammenhänge. Und es sind ja oft eigentlich die Geschichten, Lieder, Bilder, die sozusagen durch die Zeiten reisen und in denen etwas aufgespeichert ist, was für uns wichtig ist. Also wenn wir uns sozusagen dieser Dinge nicht vergewissern, dann fehlt uns was ganz Wichtiges in unserer Vergangenheit, und dementsprechend steht man unsicher vor der Zukunft.
Sagenschneider: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Schriftsteller Ingo Schulze, der im vergangenen Jahr mit dem Peter-Weiss-Preis ausgezeichnet worden ist. Wir sprechen mit ihm über den Schriftsteller Peter Weiss, der heute vor 25 Jahren gestorben ist. Wie, Herr Schulze, erklären Sie es sich eigentlich, dass Peter Weiss oder das Werk von Peter Weiss doch ein ganz klein wenig in Vergessenheit geraten ist? Die Stücke werden nicht mehr so oft gespielt, und wenn man heute 20-Jährige nach der "Ästhetik des Widerstands" fragen würde, würde man wahrscheinlich blanke Unkenntnis erleben.
Schulze: Da gibt es sicherlich viele Gründe, aber ich glaube, der allerletzte ist das Werk an sich. Es gibt, glaube ich, kaum ein Buch, von dem ich glaube, dass es wirklich so viel bringt, das heute noch mal zu lesen, denn es spricht einfach auf diese Selbstverständlichkeiten an, die sich verändert haben, und es fragt Dinge, die heute gar nicht mehr so gefragt werden, die aber auf der Hand liegen: Wer hat woran verdient? Was ist eigentlich ökonomisch im Zweiten Weltkrieg passiert? Wer hat sich welche Gebiete und welche Betriebe untern Nagel gerissen? Wie hat sich das politisch formiert? Wie ist dieses Desaster in der Sowjetunion mit dem Stalinismus, dieser Faschismus, was hat das für Auswirkungen auf den Einzelnen? Das sind so viele Dinge, die da drin stecken, dieses Buch kann eigentlich nicht veralten, glaube ich. Und es ist aber eigentlich nach dem Wegfall dieser Blockgegensätze, ist ja nicht nur dieses Buch fast in Vergessenheit geraten oder liegt so als etwas, was man mal gelesen hat, als wäre das so eine Lektüre, die man irgendwie als Jugendlicher mal absolviert und dann nicht mehr. Es ist ja seither vieles verstummt. Überhaupt die ganze Linke ist ja nach ’90 irgendwie erst mal abgetaucht. Und die Kritik am bestehenden System ist ja verstummt, obwohl das System, ja, eigentlich die Widersprüche nur noch stärker zum Tragen gekommen sind. Es scheint sozusagen keine Alternative zu dieser Welt zu geben, dementsprechend hält sich auch der Widerspruch in Grenzen. Und das wird bei Weiss noch mal ganz grundlegend aufgerissen. Und ich glaube, dass da ein paar Fragestellungen drin sind, die, wie gesagt, höchst aktuell sind.
Sagenschneider: Obwohl das natürlich in gewisser Weise auch noch passiert, also das, was Sie vorhin geschildert haben – Isolation überwinden und sozusagen mit Gleichgesinnten zu suchen oder versuchen, die Welt zu verändern –, das passiert ja zum Beispiel in so Gruppen wie Attac, also es gibt das ja noch.
Schulze: Ja, ja, natürlich, aber …
Sagenschneider: Sie haben alle ihren Peter Weiss verinnerlicht, könnte man sagen?
Schulze: Na ja, die Frage ist halt, wenn man das vergleicht, vor ’89/’90 haben sich diese beiden Blöcke gegenseitig infrage gestellt, und dieses grundsätzliche Infragestellen gibt es natürlich nicht mehr, weil es einfach bestimmte Folgen hat. Aber ich glaube eben, und das war für mich das Schöne in der DDR und ist eigentlich das Wichtige auch geblieben, dass natürlich, ein Widerstand damit beginnt auch nicht nur mit Wahrnehmung, sondern eben auch, dass man eine Vereinzelung überwindet. Ich habe das selbst so gemerkt, so ein Kulminationspunkt war Kosovo-Krieg, wo plötzlich auch so offenbar wurde, wie der Riss so durch den innersten Freundeskreis geht, der setzte sich dann fort bis zum Irak-Krieg, wo man doch früher gewohnt war, so in den grundsätzlichen Dingen stimmt man überein, aber das hat sich geändert. Und manchmal fühlt man sich mit bestimmten Meinungen wirklich völlig hinterm Mond, bis man dann wieder auf jemanden trifft, der sagt, ja, ist doch eigentlich naheliegend.
Sagenschneider: Herr Schulze, ich danke Ihnen. Der Schriftsteller Ingo Schulze über den Schriftsteller Peter Weiss, der heute vor 25 Jahren gestorben ist.
Schulze: Guten Tag!
Sagenschneider: In Ihrer Dankesrede haben Sie damals erzählt, Sie hätten Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" erst mit Verzögerung entdeckt, wobei sich ja dann die Frage sofort auftut, welche Version haben Sie entdeckt, die sprachlich geglättete, die im Westen erschienen war oder sozusagen das Original, das im Osten publiziert worden ist?
Schulze: Mir ist dieser Unterschied erst vor einem halben Jahr klar geworden, ich wusste das bisher nicht, da ja sehr, sehr wenige Exemplare in der DDR erschienen sind. Da gibt es viele Geschichten von Freunden, wie man zu diesen Büchern gekommen ist. Ich zählte nicht zu den Glücklichen. Ich habe mir das schicken lassen und dachte, ich habe jetzt die Original …
Sagenschneider: Aus dem Westen?
Schulze: Ja, ich dachte, ich habe jetzt ja die Originalfassung. Ich finde es natürlich schade, dass jetzt sozusagen die Fassung, die Peter Weiss wollte, eigentlich die richtige Fassung, die in der DDR erschienen ist, kurioserweise oder nicht kurioserweise, je nachdem, dass die eben nicht die ist, die man jetzt kaufen kann. Das ist schon bedauerlich.
Sagenschneider: Was war denn für Sie damals das Sensationelle an Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" – die Sprache, die Geschichte oder den Bezug, den Sie zum eigenen Leben herstellen konnten?
Schulze: So nach und nach alles zusammen. Wir haben das Mitte der 80er Jahre natürlich erst mal sehr politisch gelesen, weil wenn so ein Buch in der DDR erschien, dann konnte man damit offiziell arbeiten. Und das war genau das, was man wollte, dass man was über diese Stalin’schen Verbrechen erfährt und dass das natürlich von jemandem kommt, wo man sagt, das ist jetzt kein Kommunistenhasser. Die erste Lektüre, die war sehr politisch. Und so nach und nach merkte man, dass das eigentliche liegt darunter, nämlich immer dieses "sagte", "fragte", "antwortete", also wie über etwas gesprochen wird und wie über Kunstwerke gesprochen wird und wie eigentlich das, was sich im Laufe der Jahrhunderte, manchmal der Jahrtausende da angereichert hat, wie das wieder entfaltet wird und wie das ins Heute hineinspricht. Das war eigentlich das große Erlebnis, was auch eines der ganz aktuellen Sachen ist, die also, glaube ich, nie veralten werden. Und für mich kam natürlich noch hinzu – das ist so die ganz eigene Geschichte dabei –, dass sich um diese Lektüre von Peter Weiss’ "Ästhetik des Widerstands" eine kleine Gruppe gebildet hat außerhalb der Universität, auch wenn wir uns über die Uni kannten. Und das war eigentlich etwas ganz Wichtiges, dass man diese Vereinzelung aufbricht und dass man über Dinge spricht, die im offiziellen Raum natürlich längst nicht so besprochen werden konnten, auch wenn es, wie gesagt, mit Peter Weiss dann viel möglich war.
Sagenschneider: Das heißt, diese Lektüre hat es möglich gemacht, auch über die eigenen Verhältnisse zu sprechen, anders zu sprechen?
Schulze: Ja natürlich, und es einfach auch einzuordnen in historische Abläufe und da eben auch wirklich Dinge, die man bisher nur als Widerspruch erfahren hat, wo man dachte entweder oder – eigentlich diese Spannung zwischen zwei Dingen, die sich ausschließen müssen, aber doch aushalten zu müssen. So ist ja Geschichte, dass es unerträgliche Dinge gibt, und bei Weiss ist das Großartige daran, dass natürlich auch immer das Verstummen, das Verrücktwerden, sozusagen das Ins-Desaster-Abgleiten immer gegenwärtig ist, und dagegen die Anstrengung, doch lebendig zu bleiben, in der Sprache zu bleiben, ist, versuchen auszudrücken und auch zu handeln.
Sagenschneider: Genau, beim Handeln sind wir jetzt. Das ist ja das Verrückte eigentlich daran: Sie haben Mitte der 80er, haben Sie, glaube ich, gesagt, haben Sie es gelesen, und Ende der 80er waren die großen Umbrüche, war die Wendezeit, das heißt, das Lesen mündete sozusagen in Handeln, ganz praktisch, bis hin zu den Montagsdemos eben.
Schulze: Wir haben natürlich nie gewagt, uns irgendwie mit diesen Widerstandstruppen da zu vergleichen, das ist auch kein Vergleich. Aber sozusagen von der Art und Weise, wie man sich verhält, war das, wenn auch unter nicht so einem großen Risiko, natürlich ähnlich, dass man sich versuchte zu finden, bestimmte Fragen zu stellen, und plötzlich war es tatsächlich so. Man organisierte sich illegal, man machte Flugblätter, man organisierte Demonstrationen und man kam durch.
Sagenschneider: Ging es denn um mehr als eine politische Revolution? Immerhin, wir reden ja über "Ästhetik des Widerstands", hier werden zwei Begriffe miteinander verknüpft – Ästhetik, Widerstand, Kunst und Politik –, also ging es um mehr, ging es um eine Kulturrevolution? Ist das so, verkürzt?
Schulze: Das ist so ein sehr belasteter Begriff, würde ich sagen. Es geht eigentlich darum, dass man sich bewusst wird, dass eigentlich Widerstand mit Wahrnehmung beginnt. Mein großes Thema ist eigentlich so diese Selbstverständlichkeiten, die sich verändert haben, und wo man bestimmte Fragen gar nicht mehr stellt. Und der Weiss – das beginnt ja mit der Beschreibung des Pergamon-Frieses und wie der eigentlich so Schicht um Schicht freigelegt wird. Das ist ein Roman, in dem natürlich Figuren auftreten, die es vom Namen her natürlich tatsächlich gegeben hat, die aber eigentlich eher zu einer Anregung werden, doch eben dann wieder literarische Figuren werden. Und in diesem Gespräch dieser Figuren untereinander wird eigentlich so Schicht um Schicht freigelegt. Das liest sich wie ein Krimi. Das ist, glaube ich, auch für die Kunstbeschreibung ein ganz neuer Maßstab. Und es geht eigentlich so um diese Jahre ’37 bis ’45 durch bis zum Unerträglichen, also die Hinrichtung der Roten Kapelle, aber dass man sich diesem Unsäglichen stellt und eigentlich dann immer wieder die Frage, wie bleibe ich lebendig und welche Rolle spielt dabei die Kunst, die Kunst als ein Lebensmittel.
Sagenschneider: Die Kunst als ein Lebensmittel und die Kunst als Basis auch für den Widerstand?
Schulze: Ja natürlich, dass man sie einfach auch einordnen kann in historische Zusammenhänge. Und es sind ja oft eigentlich die Geschichten, Lieder, Bilder, die sozusagen durch die Zeiten reisen und in denen etwas aufgespeichert ist, was für uns wichtig ist. Also wenn wir uns sozusagen dieser Dinge nicht vergewissern, dann fehlt uns was ganz Wichtiges in unserer Vergangenheit, und dementsprechend steht man unsicher vor der Zukunft.
Sagenschneider: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Schriftsteller Ingo Schulze, der im vergangenen Jahr mit dem Peter-Weiss-Preis ausgezeichnet worden ist. Wir sprechen mit ihm über den Schriftsteller Peter Weiss, der heute vor 25 Jahren gestorben ist. Wie, Herr Schulze, erklären Sie es sich eigentlich, dass Peter Weiss oder das Werk von Peter Weiss doch ein ganz klein wenig in Vergessenheit geraten ist? Die Stücke werden nicht mehr so oft gespielt, und wenn man heute 20-Jährige nach der "Ästhetik des Widerstands" fragen würde, würde man wahrscheinlich blanke Unkenntnis erleben.
Schulze: Da gibt es sicherlich viele Gründe, aber ich glaube, der allerletzte ist das Werk an sich. Es gibt, glaube ich, kaum ein Buch, von dem ich glaube, dass es wirklich so viel bringt, das heute noch mal zu lesen, denn es spricht einfach auf diese Selbstverständlichkeiten an, die sich verändert haben, und es fragt Dinge, die heute gar nicht mehr so gefragt werden, die aber auf der Hand liegen: Wer hat woran verdient? Was ist eigentlich ökonomisch im Zweiten Weltkrieg passiert? Wer hat sich welche Gebiete und welche Betriebe untern Nagel gerissen? Wie hat sich das politisch formiert? Wie ist dieses Desaster in der Sowjetunion mit dem Stalinismus, dieser Faschismus, was hat das für Auswirkungen auf den Einzelnen? Das sind so viele Dinge, die da drin stecken, dieses Buch kann eigentlich nicht veralten, glaube ich. Und es ist aber eigentlich nach dem Wegfall dieser Blockgegensätze, ist ja nicht nur dieses Buch fast in Vergessenheit geraten oder liegt so als etwas, was man mal gelesen hat, als wäre das so eine Lektüre, die man irgendwie als Jugendlicher mal absolviert und dann nicht mehr. Es ist ja seither vieles verstummt. Überhaupt die ganze Linke ist ja nach ’90 irgendwie erst mal abgetaucht. Und die Kritik am bestehenden System ist ja verstummt, obwohl das System, ja, eigentlich die Widersprüche nur noch stärker zum Tragen gekommen sind. Es scheint sozusagen keine Alternative zu dieser Welt zu geben, dementsprechend hält sich auch der Widerspruch in Grenzen. Und das wird bei Weiss noch mal ganz grundlegend aufgerissen. Und ich glaube, dass da ein paar Fragestellungen drin sind, die, wie gesagt, höchst aktuell sind.
Sagenschneider: Obwohl das natürlich in gewisser Weise auch noch passiert, also das, was Sie vorhin geschildert haben – Isolation überwinden und sozusagen mit Gleichgesinnten zu suchen oder versuchen, die Welt zu verändern –, das passiert ja zum Beispiel in so Gruppen wie Attac, also es gibt das ja noch.
Schulze: Ja, ja, natürlich, aber …
Sagenschneider: Sie haben alle ihren Peter Weiss verinnerlicht, könnte man sagen?
Schulze: Na ja, die Frage ist halt, wenn man das vergleicht, vor ’89/’90 haben sich diese beiden Blöcke gegenseitig infrage gestellt, und dieses grundsätzliche Infragestellen gibt es natürlich nicht mehr, weil es einfach bestimmte Folgen hat. Aber ich glaube eben, und das war für mich das Schöne in der DDR und ist eigentlich das Wichtige auch geblieben, dass natürlich, ein Widerstand damit beginnt auch nicht nur mit Wahrnehmung, sondern eben auch, dass man eine Vereinzelung überwindet. Ich habe das selbst so gemerkt, so ein Kulminationspunkt war Kosovo-Krieg, wo plötzlich auch so offenbar wurde, wie der Riss so durch den innersten Freundeskreis geht, der setzte sich dann fort bis zum Irak-Krieg, wo man doch früher gewohnt war, so in den grundsätzlichen Dingen stimmt man überein, aber das hat sich geändert. Und manchmal fühlt man sich mit bestimmten Meinungen wirklich völlig hinterm Mond, bis man dann wieder auf jemanden trifft, der sagt, ja, ist doch eigentlich naheliegend.
Sagenschneider: Herr Schulze, ich danke Ihnen. Der Schriftsteller Ingo Schulze über den Schriftsteller Peter Weiss, der heute vor 25 Jahren gestorben ist.