Zum Tod von Michael Gielen

Einer der profiliertesten Dirigenten des 20. Jahrhunderts

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Porträtaufnahme des Dirigenten Michael Gielen.
Einer der großen Dirigenten zeitgenössischer Musik: Michael Gielen. © imago / ZUMA Press / Stefan Oelsner
Von Carolin Naujocks · 08.03.2019
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Ob als Operndirektor in Frankfurt oder als Leiter des SWF-Sinfonieorchesters: Stets beschritt der Dirigent Michael Gielen neue Wege bei der Interpretation klassischer oder zeitgenössischer Musikwerke. Am Freitag ist Gielen im Alter von 91 Jahren gestorben.
"Ich habe wenig geschrieben – meist nur im Sommer – und immer nur, wenn ich eine originelle Idee zu einem Stück hatte. Nie für Orchester, weil die hierarchische Struktur mir widerstrebte."
Man muss erst mal drauf kommen, dass dies die Worte eines Dirigenten sind: Michael Gielen.
Er war ein Fels in der Brandung des Musikbetriebs. Das lag nicht nur an seinem zuweilen rustikalen Charme, sondern auch an seinem musikalischen Ausgangspunkt: die Musik des 20. Jahrhunderts. Darin unterschied er sich von den meisten anderen Musikern und das hat dazu geführt, dass dem Dirigenten Michael Gielen der Ruf als Spezialist für Neue Musik vorauseilte.
"Ich habe mir dann die Literatur von heute nach rückwärts erobert. Also, nach Schönberg, der Hauptaugenmerk war, kam erst mal Mahler dran, der ja im Grunde dieselben Inhalte der Zerrissenheit der Gesellschaft und der Seele des Menschen zum Inhalt hat, nur eben in einer für das Publikum verständlicheren Sprache. Dazu analog kam dann Bruckner: der Weg ging von Schönberg über Mahler zur Romantik, Berlioz wurde mir sehr wichtig, Schubert, Beethoven."

Die politische Dimension von Beethoven

Für Gielens Arbeit hat es nie einen Unterschied zwischen traditioneller und neuer Musik gegeben. Allenfalls hat die Beschäftigung mit der Moderne die Wahrnehmung für die Geschichtlichkeit des traditionellen Repertoires geschärft:
"Und in Beethoven war vielleicht der stärkste Anreiz die politische Dimension. So wie bei Schönberg es die weltanschauliche Dimension und die Beziehung eines jüdischen Komponisten zum Holocaust seine Musik situiert im Weltbild von heute, so ähnlich ist es mit Beethoven und der französischen Revolution und der Aufklärung."
Michael Gielen wurde 1927 in eine Künstlerfamilie geboren: mit Josef Gielen, dem späteren Burgtheaterdirektor und der Schauspielerin Rosa Steuermann, war es auch die Familie der Mutter, die ihn deutlich prägte.
"Durch ihren Bruder Eduard Steuermann, der ein Vorbild war und wodurch ich die Verbindung zu Schönbergschule schon aus der Familie hatte. Aber auch der Vater, als Künstler, der nichts anderes im Kopf hatte als das Theater, ist sicher einflussreich. Das Pflichtgefühl, was mich verfolgt hat, mein ganzes Leben lang, dass ich nicht leicht nehmen konnte."
1940 emigrierte die Familie nach Argentinien, wo Gielen in einem intellektuellen Umfeld mit Fritz Busch und Erich Kleiber aufwuchs.
Seine berufliche Laufbahn begann er als Korrepetitor und es war keineswegs vorgezeichnet, dass es ihn nach seiner Rückkehr nach Europa an die Spitze bedeutender Orchester führen würde.
Der Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918-1970, l.) unterhält sich mit dem Dirigenten Michael Gielen
Der Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918-1970, l.) unterhält sich mit dem Dirigenten Michael Gielen© picture alliance / dpa / Otto Noecker
Sein Debüt gab er 1954 in Vertretung von Clemens Krauss. Größere Aufgaben führten ihn nach Stockholm, nach Brüssel und Amsterdam. Mit der Uraufführung der Oper "Die Soldaten" von Bernd Alois Zimmermanns in Köln schrieb er Operngeschichte.
1977 wurde er Direktor der Oper Frankfurt und begründete dort mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein die Ära Gielen, wie sie im Nachhinein wehmütig genannt wurde. Zehn Jahre lang ging es darum, kein Repräsentationstheater, sondern Inhaltstheater zu machen. Im strukturellen Zugang zur Musik lag für ihn der Schlüssel zum Verständnis der Werke:
"Es waren ja vom bürgerlicher Abonnementpublikum viele Leute weggeblieben, wegen unseres Stils, und dann allmählich kamen immer mehr Leute vom Schauspiel in die Oper, weil es bei uns interessanter war als im Schauspiel."

"In der ganzen menschlichen Gesellschaft fehlt eine Aufbruchsstimmung"

Michael Gielen leitete die Museumskonzerte in Frankfurt, dirigierte das BBC Symphonieorchestra in London und leitete sechs Jahre das Cincinnati Symphony Orchestra. Im Bewusstsein der Unteilbarkeit von Tradition und Moderne prägte er ab 1986 das Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden, mit dem er nicht nur bei den Donaueschinger Musiktagen unzählige Werke aus der Taufe hob. Die Verbundenheit mit dem Konzerthausorchester Berlin und der Staatsoper Unter den Linden runden sein Schaffen ab.
"50 Jahre in dem Beruf, wo immer wieder Neues kam und vieles gar nicht so neu war. Im Gegenteil, es ist ja eine regressive Bewegung seit längerer Zeit, also eine Antimoderne triumphiert, und damit will ich nichts zu tun haben. Es ist aber nicht in der Musik, sondern in der ganzen menschlichen Gesellschaft fehlt eine Aufbruchsstimmung. Der Hauptgrund, sich zu bewegen, ist das Geld und Shareholder Value, und solange gegen diese Grundhaltung der Menschheit nichts geschieht, also solange sich eine junge Generation nicht dagegen empört, dass das Geld alles bestimmt, wird es auch in der Kunst keine neue Entwicklung geben."

Sein Idol war Erich Kleiber

Eine einzige Dirigierstunde hatte Michael Gielen in seinem Leben, bei Clemens Krauss: in einem Hotel. Gielen wollte wissen, wie man Stücke anfängt, die nicht auf Eins beginnen.
Sein Abgott war Erich Kleiber. An ihm bewunderte er die Natürlichkeit, mit der er Mozart wie Wagner, Beethoven wie Berg beherrschte.
Der zentrale Punkt war aber Beethoven, da – sagte Gielen – musste er durch.
"Im Hessischen Rundfunk, da habe ich zum ersten Mal die 'Eroica' dirigiert und bin vielleicht übers Ziel hinaus geschossen und der erste Satz war schneller, als er vorgeschrieben ist, aber erstens haben sie mitgemacht und zweitens kam ein Bratscher zu mir und sagte, wissen Sie, seit Sie hier die Eroica dirigiert haben, finden wir alle anderen Dirigenten zu langsam… Und das war doch schön."
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