Zum Tod von John Berger

"Hoffnung ist wie die Flamme einer Kerze im Dunkeln"

Der britische Schriftsteller, Maler, Kunstkritiker und Booker-Prize-Träger John Berger im Jahr 2010 sitzt vor einem Bild in verschiedenen Rot-Schattierungen.
Der britische Schriftsteller, Maler, Kunstkritiker und Booker-Prize-Träger John Berger im Jahr 2010 © imago/Leemage
Von Johannes Kaiser · 02.01.2017
Der britische Kunstkritiker, Schriftsteller und Maler John Berger ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Er war Marxist, gewann den Booker Prize für den Roman "G" und schrieb über Obdachlose, Aids oder das harte Leben von Bergbauern. Zeitlebens mischte John Berger sich in politische Debatten ein.
John Berger hat dem englischen Bildungswesen nie verziehen, was es ihm angetan hat. Der menschenfeindliche Drill des − so der englische Autor − autoritär-faschistischen Privatschulsystems ließ ihn schon frühzeitig zum Gesellschaftsrebellen werden. So schmiss er mit 16 die Schule, wurde erst Anarchist, dann Marxist, verkaufte vor Fabriktoren kommunistische Zeitungen und besuchte zugleich eine Kunstschule, denn er wollte Maler werden.
Seine Gemälde brachten ihm allerdings zu wenig ein, als dass er davon hätte leben können. Also wurde er Kunsterzieher, bis ihn nach dem Zweiten Weltkrieg der BBC-Afrika-Auslandsdienst anheuerte, die großen Gemälde der National Gallery in Radiosendungen vorzustellen. Wenig später begann er, auch für Zeitungen Kunst zu rezensieren.

Neue Einsichten über berühmte Maler

Seine Arbeiten füllen ein halbes Dutzend Essaybände. Sie gehören zum Besten, was man über viele berühmte europäische Maler lesen kann, denn Berger war einer der ersten, die die Künstler in ihr gesellschaftliches Umfeld stellten. Plötzlich taten sich Zusammenhänge auf, die die traditionelle Kunstkritik nicht sehen konnte oder wollte. Gut zehn Jahre lang schrieb John Berger Kritiken, dann beschloss er aufzuhören:
"Ich hatte nie vorgehabt, für immer Kritiker zu bleiben. Ich habe früher schon Geschichten geschrieben und Gedichte, viele Gedichte, auch wenn ich Maler wurde. Ich habe anfangs wahrscheinlich gar nicht daran gedacht, etwas zu schreiben, weil mir die Geschicklichkeit im Umgang mit Wörtern fehlt. Das stimmt wirklich. Ich will jetzt nicht bescheiden klingen. Es gibt gute Schriftsteller, die von den Wörtern selbst zur Wahrheit geführt werden. Die Wahrheit, die sich mir eröffnet, drückt sich nie in Worten aus, sie entspringt einer Art Kampf um die Wörter. Ich versuche, sie anzufassen und in das Gestrüpp der Wörter zurückzubringen."
Von diesem Kampf ist in seinen Arbeiten nie etwas zu spüren. Sie stecken voll poetischer Kraft, klingen lebenssatt, lieben ihre Figuren und Sujets.
In den 50er-Jahren erschien sein erster Roman "Die Spiele". Das Buch fiel durch. Als der Verlag es wegen prokommunistischer Tendenz vom Markt nahm, verließ John Berger erbost seine Heimat, begann ein Vagabundenleben quer durch Europa. Zwei weitere Romane erschienen, bevor ihm 1972 sein Roman "G" die einhellige Zustimmung der Kritik einbrachte sowie Englands renommierteste Literaturauszeichnung, den Booker Prize.

Vertriebene und Verfolgte interessierten ihn

Zum Entsetzen der Preisstifter widmete er die Hälfte der Preissumme den Black Panthers, der militanten Bewegung der Schwarzen. Ein typisches Beispiel für John Bergers politisches Gewissen, das ihn immer wieder dazu brachte, sich in aktuelle politische Debatten einzumischen. Intensiv hat er sich mit Emigration und Exil auseinandergesetzt, mit der Situation Vertriebener, Verfolgter, Ausgestoßener. John Bergers Romane haben immer Stellung bezogen, allerdings nie in der plumpen Form des sozialistischen Realismus:
"Wenn ich schöpferisch schreibe, denke ich niemals an den politischen Effekt. Nie. Das erschiene mir verhängnisvoll. Und ich habe immer so gedacht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich nie der Kommunistischen Partei beitrat. Das soll nun nicht heißen, dass ein Werk keinen politischen Effekt hat. Vielmehr ist es so, dass allem unwissentlich ein politischer Inhalt innewohnt, aber es zu kalkulieren, ist verhängnisvoll."
Diese Lebenseinstellung hat ihn dazu gebracht, eine wunderschöne, herzergreifende Liebesgeschichte über Aids zu erzählen, das harte Leben der Obdachlosen aus der Sicht eines Hundes zu schildern oder in einem Briefroman das Los eines eingesperrten Oppositionellen in einer Dritte-Welt-Diktatur aufzugreifen. Seine Protagonisten sind jedoch nie mutlos:
"Hoffnung kommt oftmals in einer sehr dunklen Situation auf. Sie ist ein kleines Licht in der Dunkelheit, wie die Flamme einer Kerze im Dunkeln."

Ist man wütend oder beugt man sich?

Die bewegendsten Beispiele für solch eine Lebenseinstellung waren John Bergers Erzählungen über das Leben der Bergbauern in Hochsavoyen, also jener Alpengebirgslandschaft, in die sich der großstadtmüde Schriftsteller zurückgezogen hatte, um innere Ruhe zum Schreiben zu finden. In zwei Romanen und einem Band mit Erzählungen feiert er die bittere Realität eines zum Untergehen verurteilten Lebens:
"In einem bäuerlichen Leben ist die Zahl der Entscheidungen, die die Menschen in ihrem Leben selbst treffen können, kolossal begrenzt. Es geht nicht darum, sich auszusuchen, welche Last man tragen möchte, sondern nur um die Frage: Wie reagiert man darauf, ist man wütend oder beugt man sich? Daraus ergibt sich ein schmaler Grat zwischen Humor und Tragödie. Das aber macht eine ganz andere Art zu erzählen erforderlich. Ich möchte nicht anmaßend klingen, aber die findet sich bei Homer, bei dem sich die Menschen den Ereignissen beugen und sich in deren Angesicht, obwohl sie die nicht frei gewählt haben, prüfen."
Man spürt die Liebe zum Menschen. Bis zuletzt hat er sich in politischen Essays von fulminanter Wortgewalt zu Wort gemeldet. Er hat nie agitiert, stets sich selbst, seine Gefühle, Empfindungen beschrieben. John Berger war ein Maler mit Worten. Seine Bilder werden bleiben.
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