Zum Tod von Joan Didion

Meisterin der Desillusionierung

07:10 Minuten
Die Autorin Joan Didion im Jahr 2005.
Die Autorin Joan Didion im Jahr 2005. © picture alliance / dpa / KATHY WILLENS
Von Tobias Lehmkuhl · 23.12.2021
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Joan Didion war eine Meisterin des Essays. Wie keine andere räumte sie in ihren literarischen und journalistischen Arbeiten mit den Mythen der US-Gesellschaft auf. Sie war das Aushängeschild des New Journalism, Romanautorin, Mutter und Trauernde.
Es ist schwer, über die Autorin Joan Didion nachzudenken, ohne sich dabei ihre Erscheinung vor Augen zu führen. Sie selbst hatte einen genauen Blick und ein erstaunliches Gedächtnis dafür, wie Menschen sich kleideten, konnte Jahrzehnte nach einem Ereignis noch sagen, was für Schuhe, welche Jacke wer zu diesem oder jenem Anlass getragen hatte, wusste um die Farben wie um die Namen der Hersteller.
Aber auch, wenn man keine Ahnung von Mode hat, wird man die Fotos von Joan Didion, die ihre Bücher schmücken, nicht so leicht vergessen: diesen zierlichen, ja fragilen Körper, die großen, dunklen Augen, die Melancholie, die sie, stets einen Drink oder eine Zigarette in der Hand, umwehte. Sie wog bloß 43 Kilogramm, was ihr einerseits etwas Kindliches, Beschützenswertes verlieh.

Gespür für Momente der Abwesenheit

Andererseits aber war sie von ungeheurer Präsenz, sodass etwa ihr viel größerer, umfangreicherer Mann John Gregory Dunne neben ihr geradezu unscheinbar wirkte. Unauffällig also war sie nicht, aber sie hielt sich doch gern im Hintergrund. Als Journalistin, sagte sie einmal, mochte sie nie gern Fragen stellen, sie beobachtete lieber und hatte ein Gespür für Momente der Abwesenheit, für die Stille, für die Leere und Gleichförmigkeit weiter Räume.

Den Großteil eines jeden Tages in Los Angeles verbringt man allein im Auto; man fährt durch die Straßen, die einem nichts bedeuten: Ein Grund, warum die Stadt einige begeistert, während andere von einer namenlosen Unruhe erfasst werden. Diese Stunden unterwegs haben etwas verführerisch Unverbindliches. Es fehlen die üblichen Informationen. Es fehlen die Daten, die den Zusammenhang herstellen. In Culver City, in Echo Park und in East Los Angeles stehen die gleichen pastellfarbenen Bungalows, wachsen die gleichen langstieligen Weihnachtssterne, die gleichen rosa und gelb blühenden Hibiskusbäume. Es gibt die gleichen Waschcenter, Kfz-Werkstätten, großflächigen Einkaufszentren, die gleichen Reisebüros mit Sonderangeboten.

Aus Joan Didions Essay "Pazifische Entfernungen"

Kalifornischer Uradel

Didion war durch und durch Kalifornierin. Sie gehörte dem kalifornischen Uradel an. Sie wusste genau, wann welcher ihrer Vorfahren Mitte des 19. Jahrhunderts die Prärie durchquert hatte und was er mit sich führte, denn schon ihre Ahnen führten Tagebuch und vererbten diese Tagebücher wie allerlei andere Artefakte ihren Nachkommen. So lässt sich in einem Siedlermuseum sogar der Kartoffelstampfer bewundern, den eine frühe Didion im Planwagen mit sich führte.

Auch die Literaturkritikerin Sigrid Löffler erinnert an Joan Didion: „Sie ist die bedeutendste Essayistin der USA, mehr als 60 Jahre lang war sie die kritische Augenzeugin der amerikanischen Politik. Und es gibt erst recht nach dem Tod von Susan Sontag keine amerikanische Essayistin, die präziser und kühler beobachtet hat, die scharfsinniger untersucht und analysiert hat und schonungsloser formuliert hat als Joan Didion. Ihre Essays sind sachlich und nüchtern, aber von eisiger Ironie und kaustischem Witz. Alles absolut ohne Sentimentalität, ohne Gefühligkeit, allerdings auch ohne Hoffnung.“

Didions Romane seien sozusagen der Beifang ihrer politischen Reportagen gewesen, so Löffler: Das zusammengetragene Material „hat dann den Stoff hergegeben für mehrere Romane, die sie daraus dann filtern konnte. Das sind dann politische Tropen-Thriller, die so desillusioniert sind wie bei Graham Greene und so schnörkellos geschrieben wie bei Hemingway. Also das ist Doku-Fiction, sehr kalt, sehr glanzvoll, metallisch, vollkommen hart und absolut ohne Hoffnung.“€œ

Didion hat ihrer Herkunft, hat dem kalifornischen Wesen einen eindringlichen, 260-seitigen Essay gewidmet, der 2003 unter dem Titel „Woher ich kam“ erschienen ist. Darin zeigt sich, wie sehr sie im wörtlichen Sinne im Golden State verwurzelt ist; ihre Heimatkunde stellt zuallererst eine genaue Bodenkunde dar: Sie berichtet von den topografischen Gegebenheiten Kaliforniens, von den viele Hundert Meilen großen Überschwemmungsgebieten, die erst nach und nach künstlich eingedämmt wurden. Sie berichtet von der Unfruchtbarkeit der Erde, dem Wassermangel, den Erdbeben. Sie zeigt, wie sehr Landschaft Menschen prägen kann, wie die Landschaft um Sacramento zumindest sie geprägt hat, wie Sitten und Gebräuche ihre Herkunft bestimmten:
„Wenn Du eine Klapperschlange siehst, töte sie, damit sie niemanden, der nach Dir kommt, noch beißen könnte“, war einer der Sätze ihrer Großmutter, den sie selbst im hohen Alter nicht vergessen hatte. Wir Siedler, wir Pioniere, so die hintergründige Botschaft, müssen zusammenhalten. Dann aber erinnert sich Didion daran, wie sie sich einmal eben nicht getraut hat, die Klapperschlange zu töten und wie in den Geschichten ihrer Mutter die Schlangen Schrecken verbreiteten, aber niemand auch nur versuchte, sie umzubringen.
Schwarzweißaufnahme: Joan Didion in legerer Pose auf einem Sofa.
Chronistin ihres Landes: Joan Didion, circa 1977© picture alliance / Everett Collection
Gründungslegenden, Mythen, sagenhafte Geschichten. In „Woher ich kam“ wird deutlich, wie sehr das Land und die Menschen von ihnen erfüllt sind. Am Ende aber ist auch klar: Es sind und bleiben Mythen. Sie haben mit der Realität wenig zu tun, damit, dass man den Grund und Boden dem Höchstbietenden verkauft, sei es im 19. Jahrhundert den Eisenbahngesellschaften, nach dem Zweiten Weltkrieg der Rüstungsindustrie oder heute den Internetriesen. Ein großes, aber schönes Buch der Desillusionierung.

„Wir liefen die einstige Front Street entlang. Der Großvater meines Vaters hatte hier einen Saloon besessen. Ich war kurz davor, meiner Tochter Quintana das zu erklären – den Saloon, den Gehweg aus Holz, die Generationen von Cousinen, die genau wie sie an ebenso heißen Tagen wie diesem genau diese Straße entlang gelaufen waren -, als ich innehielt. Quintana war adoptiert. Genau genommen hatte sie keinerlei Verantwortung für irgendwelche Gespenster, die dieser Gehweg aus Holz mit sich brachte. Genau genommen symbolisierte dieser Gehweg aus Holz in keiner Weise die Gegend, aus der Quintana stammte. Quintanas einzige Verbindung zu diesem Gehweg aus Holz bestand genau hier und jetzt durch mich. Genau genommen war meine Verbindung zu diesem Gehweg aus Holz nicht stärker als der Quintanas: Sie war nichts als ein Motiv, Effekt einer Dekoration. Wirklich war nur Quintana.“

Aus: "Woher ich kam"

Sätze wie Erdbeben

Bei einem Schreibwettbewerb gewann Didion Ende der 50er-Jahre eine Stelle bei der "Vogue", zog nach New York, machte sich einen Namen, wurde freischaffend, veröffentlichte 1963 ihren ersten Roman, „Menschen am Fluss“, heiratete den Schriftsteller John Gregory Dunne, mit dem sie Drehbücher schrieb und Zeitschriftenartikel, und mit dem gemeinsam sie ihre Tochter Quintana Roo adoptierte und wieder nach Kalifornien zog.
Hier begann nun Mitte der 60er-Jahre ihre eigentliche Karriere, hier fand sie zu einem Stil, der sie bald zu einer Berühmtheit machen sollte, zu der Vertreterin des New Journalism, jenem höchst subjektiven, der Popkultur eng verbundenen Reportagestil, den auf der anderen Seite des Kontinents Norman Mailer und Tom Wolf mit erfanden. Noch heute staunt man beim Lesen ihrer großen Essaysammlungen „Das weiße Album“ oder „Stunde der Bestie“, wie häufig und wie ungeschützt sie „ich“ sagt.

1969: Ich sage Ihnen lieber, wo ich bin, und warum. Ich sitze in einem Zimmer im Royal Hawaiian Hotel in Honolulu und beobachte die langen, fast durchsichtigen Vorhänge, die sich im Passatwind blähen, und versuche mein Leben neu zusammenzusetzen. Mein Mann ist hier und unsere Tochter, drei Jahre alt. Sie ist blond und barfuß, ein Kind des Paradieses mit einem Kranz aus Jasmin, und sie versteht nicht, warum sie nicht an den Strand gehen kann. Sie kann nicht an den Strand, weil es in den Aleuten ein Erdbeben gegeben hat, 7,5 auf der Richter-Skala, und es wird eine Flutwelle erwartet. Als die Meldung kommt, ist sie entschieden eine Enttäuschung: Midway verzeichnet keine ungewöhnliche Wellentätigkeit. Ohne Naturkatastrophe sind wir unseren eigenen beklemmenden Vorhaben überlassen. Wir sind hier, auf dieser Insel inmitten des Pazifischen Ozeans, anstatt unsere Scheidung einzureichen.

Joan Didion

Mechanismen der Macht

Das ist selbst für das, was gemeinhin unter dem Etikett „New Journalism“ läuft, starker Tobak. Tatsächlich ist Joan Didion höchstens zur Hälfte eine Journalistin gewesen, und zwar nur insofern, als dass sie extrem viel und genau recherchierte. Für eine Journalistin aber dachte sie auch viel zu genau, und sie schrieb viel besser als selbst gute Journalisten es gemeinhin tun. Eigentlich war sie eine Schriftstellerin, die Essays schrieb. Sicher, sie schrieb auch Romane, fünf an der Zahl, und keine schlechten, als Essayistin war sie einmalig und unverwechselbar, das heißt aber auch ohne Vergleich und also schwer zu beschreiben. Es hat wahrscheinlich mit der Art zu tun, in der sie ihre Sätze baut.

Was mich schon als Kind faszinierte, war die Art, in der Sätze funktionieren und wie man eine Geschichte ändern kann, indem man einfach die Art der Sätze ändert. Nur die Form der Sätze. Inhalte sind für mich immer sprachlich.

Joan Didion

Vielleicht ist es auch deswegen so schwer, den Didion-Sound genau zu beschreiben, weil es ihn eigentlich nicht gibt. Ihre Essays aus den 60er- und 70er-Jahren, gesammelt in „Stunde der Bestie“ und „Das weiße Album“, hören sich ganz anders an als die in den 80-ern und erst unter dem Titel „Nach Henry“, jetzt als „Sentimentale Reisen“ erhältlichen.
So liegt über den frühen Texten eine geradezu unheimliche Stimmung, denn Didion sah in den wilden Versprechungen der 60er-Jahre, dem wirtschaftlichen Boom und der Sonnenschein-Rhetorik der Hippies schon vieles von dem angelegt, was bald kommen sollte: Der edle Irrsinn der Blumenkinder, der zur grausigen Paranoia der Manson-Familie mutierte, die Versprechen der Technik und der chemischen Industrie, mit deren Hilfe Vietnam zerbombt und entlaubt wurde.
Freilich blieb Didion auch in den 80er-Jahren eine Meisterin darin, unheilvolle gesellschaftliche Mechanismen zu erkennen. So sah sie Ende des Jahrzehnts schon sehr klar, was für eine Figur der damalige Verteidigungsminister Dick Cheney war, noch bevor seine ganze Abgründigkeit sich im Amt des Vizepräsidenten entfalten konnte.
Wie keine Zweite erkannte sie, welche soziale Sprengkraft in der Kapitalisierung der großen Innenstädte, namentlich New Yorks steckte, mit welch perfiden, unbewussten Methoden die Armen und Machtlosen herausgedrängt wurden aus der schönen neuen Boomwelt.

Trauma und Wiederholung

Die Schriftstellerin in Joan Didion suchte immer nach einer dem Gegenstand angemessenen Sprache. So klingen „Das Jahr des magischen Denkens“ und „Blaue Stunden“, ihre beiden Erinnerungsbücher, in denen sie den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter verarbeitet hat, noch einmal ganz anders als ihre früheren Essays, liedhafter vor allem, weil sie stark mit Wiederholungen arbeitete. Das nämlich, sagt sie, ist das Wesen des Traumas, dass man alles zwanghaft wiederholen muss.

Als ich begann, mir diese Notizen zu machen, habe ich nicht gedacht, dass ich an einem Buch schreiben würde, dass ich an irgendetwas schreiben würde, ich dachte, ich würde ein paar Notizen machen, um mir über mein eigenes Denken klarzuwerden, und erst nach ein paar Tagen entdeckte ich, dass ich darüber nachdachte, wie sich das strukturieren ließe, und dass die einzige Möglichkeit, es zu strukturieren darin bestand, die Erfahrung, die ich gemacht hatte, genau nachzuvollziehen, dass bedeutete zwanghaft wieder und wieder auf dieselben Dinge zurückzukommen.

Joan Didion

Durch Wiederholung aber, das ist bekannt, verändern sich die Dinge; indem man sie umkreist, kann man ihnen näher kommen. Die kurzen Sätze, das Beschwörungshafte, der Sog dieser beiden Bücher hat viele Menschen berührt, mit ihnen hat Didion einer neuen Form von autobiografischen Memoiren den Weg bereitet.
Nach „Das Jahr des magischen Denkens“ erschienen zahlreiche Bücher, die sich mit dem Sterben und dem Tod von Freunden und Familienmitgliedern auseinandersetzen, aber keines besaß die emotionale Kraft, geschweige denn die intellektuelle Luzidität von „Das Jahr des magischen Denkens“ und „Blaue Stunden“.
Nun ist Joan Didion am 23. Dezember 2021 im Alter von 87 Jahren gestorben. Aber man kann sie noch lesen. Man sollte es immer wieder tun.

Bücher von Joan Didion:

Joan Didion: „Woher ich kam“

Aus dem Englischen von Antje Rávik Strubel
Ullstein Verlag, Berlin
272 Seiten, 20 Euro

Joan Didion: „Blaue Stunde“
Aus dem Englischen von Antje Rávik Strubel
List Verlag, Berlin
255 Seiten, 11 Euro

Joan Didion: „Das Jahr des magischen Denkens“
Übersetzt von Antje Rávik Strubel
Ullstein Verlag, Berlin
 272 Seiten, 9,99 Euro

Joan Didion: „Sentimentale Reisen“
Aus dem Englischen von unter anderem von Karin Graf
Ullstein Verlag, Berlin
336 Seiten, 12 Euro

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