Zum Tod von Jesper Juul

Kinder sind nicht defizitär

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Jesper Juul blickt freundlich in Richtung des Betrachters.
Der Familientherapeut und Autor Jesper Juul ist im Alter von 71 Jahren gestorben. © Rainer Unkel / imago-images
Susanne Billig im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 26.07.2019
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Jesper Juul war ein einflussreicher Erziehungsexperte und Verfasser vieler erfolgreicher Bücher. Die Anerkennung des Kindes als vollwertiger Mensch war sein Ausgangspunkt. Die Journalistin Susanne Billig sagt, Juul habe den Nerv der Zeit getroffen.
Zum Erfolg Jesper Juuls habe auch die eingängige Machart seiner Bücher beigetragen, sagt die Journalistin Susanne Billig:
"Er führt uns mit Fallgeschichten mitten in das Geschehen in seiner therapeutischen Praxis hinein. Man lernt Menschen mit konkreten Problemen kennen, und ist dabei wenn er Menschen hilft, den Kern ihrer Schwierigkeiten in der Kindererziehung oder Partnerschaft aufzuspüren. Das ist hautnah und lebendig."

Kinder haben die gleiche Würde wie Erwachsene

Außerdem habe seine Haltung zu Erziehungs- und Beziehungsfragen den Nerv der Zeit getroffen. "Die meisten Menschen sind erleichtert, dass die Zeiten der brutalen Herrschaft über Kinder vorbei sind. 'Gleichwürdigkeit' ist für ihn ein zentraler Begriff. Ganz gleich wie alt Kinder sind und mit welchen Mitteln sie sich artikulieren, sie haben die gleiche Würde wie Erwachsene."
Juul selbst habe mit einer besitzergreifenden Mutter und einem desinteressierten Vater eine schwierige Kindheit gehabt und sei oft einsam gewesen. "Das gibt seinen Büchern eine Tiefe und Dringlichkeit, die sein Publikum sehr wertgeschätzt hat."

Eltern müssen sich der eigenen Prägungen bewusst werden

Die Forderung Juuls, dass Eltern die Rolle von Leitwölfen übernehmen sollen, dürfe man nicht autoritär verstehen, sagt Billig.
"Seine These war, dass jemand, der eine natürliche Autorität haben möchte und Lebenserfahrung und Weisheit erwerben möchte, persönliche Prozesse nicht scheuen darf. Wenn man Kinder hat muss man sich spätestens dann über die eigene Kindheit und die eigenen Prägungen bewusst werden, um dann aufrichtiger und ehrlicher in Beziehung zu den Kindern treten zu können." Die zentrale Botschaft seiner Bücher sei eben dieses In-Beziehung-treten.

Kinder bringen soziale Kompetenz von selbst mit

Der Backlash in der Pädagogik mit der Forderung zu mehr Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin und dem Herausbilden von Helikoptereltern sei den Zielen Juuls diametral entgegengesetzt.
"Er ging davon aus, dass man Kindern soziale und emotionale Kompetenz nicht erst durch Erziehung beibringen muss, sondern dass sie das natürlicherweise mit auf die Welt bringen und dass man Schaden an ihrem Selbstbild und ihrer Selbstachtung verursacht, wenn man sie als defizitär ansieht."
Juul stehe mit seinen Ansichten nicht alleine da, sondern sei ein prominenter Vertreter eines massiven kulturellen Umbruchs seit den späten 60er-Jahren, der die sozialen Beziehungen und auch die Eltern-Kind-Beziehung nachhaltig zum Positiven verändert hat.
"Der Erziehungsstil ist diskursiv und partnerschaftlich geworden und das hat Kinder glücklicher, selbstverantwortlicher, mitfühlender und intelligenter gemacht. Dazu hat er in seiner klaren und direkten Weise beigetragen."
(rja)
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