Zum Tod von Friederike Mayröcker

Hingabe an die sprachliche Verirrung

08:21 Minuten
Schwarzweiß-Portrait von Friederike Mayröcker im Jahr 1984. Sie hat das Gesicht in die linke Hand gestützt.
Sie türmte Wort auf Wort: Die Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist nun im Alter von 96 Jahren gestorben. © picture-alliance / IMAGNO/Franz Hubmann | Franz Hubmann
Von Carola Wiemers · 04.06.2021
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Friederike Mayröcker schrieb viel und atemlos, aus Angst, die Worte zu verlieren. Nun ist die Dichterin gestorben. Ihre Kraft, Sprache zu zerzausen und zu zerknittern, um mit Zartheit Neues entstehen zu lassen, lebt in ihren Texten weiter.
Schreiben war für Friederike Mayröcker wie atmen. Immerfort kribbelte in den Fingerspitzen die "Buchstabenwelt", die sich unter ihrer Regie zu jenem "Mayröcker-Kino" verdichtete, in dem die Sinnesorgane zum Zerreißen angespannt sind.
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
Ihren Texten haftet etwas Atemloses an. Wann immer die "Sprach-Hochgeschwindigkeitskamera" bewegt wird, ist Vorsicht geboten. Ohne Rücksicht setzte sie sich der Assoziationsflut aus, die über die Sinnesorgane einströmt, denn von überall "äugelt" und "büschelt" es.
"Ich fürchte mich davor, die Sprache zu verlieren", sagte Mayröcker mal. "Alle Wörter auf einmal zu vergessen. Etwas zu überhören. Also häufe ich Wörter auf Wörter, wie Leute auf Vorrat kaufen. Baue Wortkäfige und halte meine Lieblingswörter dort gefangen, dass sie zu singen beginnen. Umgang mit Sprache beinahe das einzige nach dem ich trachte, das ich suche, das mich angeht. Beinahe der einzige Antrieb für mich zu existieren."

80 Bücher in einem halben Jahrhundert

Die 1924 in Wien geborene Friederike Mayröcker bezeichnete sich als einen "Augenmenschen". Jeder Spaziergang durch ihre Geburtsstadt bedeutete für sie, an einem Augenschmaus teilzuhaben, der sich an einem Schriftbild, einem Gesicht entzündet oder durch ein Wort ausgelöst wird.

Wegen des Todes von Friederike Mayröcker wiederholen wir in der Sendung Zeitfragen einen Beitrag aus unserem Archiv: Andrea Marggrafs 2014 urgesendetes Porträt der österreichischen Lyrikerin, das damals anlässlich des 90. Geburtstags Mayröckers entstanden ist.

Hervorgebracht hat diese visuelle Gier zusammen mit einer ans Physische grenzenden Schreibwut über 80 Bücher in einem halben Jahrhundert. 2001 erhielt Friederike Mayröcker dafür den begehrten Georg-Büchner-Preis. In ihrer Dankesrede setzte sie das Auge erneut als zentralen Topos ein. Indem sie Büchners "Lenz"-Novelle als eine "Kunstleibeserzählung" pries, reflektierte sie die eigene Poetik, in der die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Vorgänge sich körperlich und künstlerisch verankert. Mayröckers Texte sind mehrdimensional und folgen keiner Einheit von Zeit, Ort und Handlung.
"Die Idee des Verirrens ist mir ja etwas Schreckliches", sagte sie selbst. "Aber irgendetwas davon ist in jedem meiner Bücher vorhanden, dass sich Verirren in die Sprache, sich auch hingeben dieser Verirrung, also sich der Sprache hingeben. Ja ich lass mich hineinfallen. Das ist eigentlich das einzige Rezept, sich hineinfallen zu lassen."
Interessiert an den experimentellen Zugriffen auf das Material Sprache, beschäftigte sich Friederike Mayröcker intensiv mit dem Werk der Expressionisten, Dadaisten und Surrealisten, ohne auf Friedrich Hölderlin und Jean Paul zu verzichten. In den 50er-Jahren nahm sie Kontakt zu Andreas Okopenko und zur avantgardistischen "Wiener Gruppe" auf.

Ernst Jandl, ihr "Hand- und Herzgefährte"

Die Produktivität der Lyrikerin Friederike Mayröcker erstreckte sich bald auch auf die Genres Roman, Essay, Hörspiel. Einige Hörspiele aus den 60er-Jahren entwickelten sich in der Gemeinschaft mit ihrem "Hand- und Herzgefährten" Ernst Jandl, mit dem sie seit 1954 eine kreative Schreibwerkstatt führte. Für das Hörspiel "Fünf Mann Menschen" wurden Friederike Mayröcker und Jandl 1968 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Im Jahr 2005 entstand das Hörstück "Gertrude Stein hat gesagt", das eine eindringlich in Szene gesetzte Hommage an die Dichterin darstellt und der eigenen Arbeit neue Impulse verleiht.
"Der Ernst hat immer gesagt, Du musst die Stein lesen, das ist wichtig für dich und ich hab nie die Stein gelesen. Sie ist mir zu abstrakt vorgekommen…", erinnerte sich Mayröcker.
Zugleich setzte Friederike Mayröcker damit ihren Abschiedsmonolog an den "Schultervertrauten im Diesseitigen" Ernst Jandl fort, der im Juni 2000 starb. Noch einmal wurde deutlich, was es mit dem "Augenmenschen" auf sich hat. Mit jeder Sprachgeste versuchte sie sich der "stürmischen Aura" des Geliebten, seiner Herzschläge zu erinnern und die Sprachwerkstatt wieder zu beleben. Zornig spricht sie gegen den unwiederbringlichen Verlust an und versucht den Bildern des Todes zu trotzen, die sich vor die Erinnerungen schieben.
…deine Stimme dein Ohr deine Lippe
was alles sprichst du nimmst mich auf deine
Zunge auf deine Schwingen leihst mir dein’
Leib deine Arme dein Aug - Sonntag abend im Wirtshaus
2 Semmeln
gekauft je 1 für dich und mich aber du bist nicht da aber
ich spreche zu dir aber ich flüstere in dein Ohr
dass du auflachst saugst an der Pfeife zählst
die Stunden die Tage die Jahre die uns noch voneinander
trennen…
Es war Ernst Jandl, der Friederike Mayröckers "souveräne Eigenmächtigkeit gegenüber der Sprache" pries. Das Urteil "gut wie Mayröcker" stellte ein außergewöhnliches Lob unter Schriftstellerkollegen dar, die - wie Elke Erb, Marcel Beyer oder Raoul Schrott - von der unbändigen Kraft, Sprache als Material zu zerzausen und zu zerknittern, um mit maßloser Zartheit Neues entstehen zu lassen, fasziniert waren. Eine Faszination, die in ihren Texten aufbewahrt bleibt und nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
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