Abschied vom großen Vertreter des "Nouveau Roman"
Der französische Schriftsteller Michel Butor ist vor allem mit seinem Roman "Paris – Rom oder Die Modifikation" international bekannt geworden. Nun ist er im Alter von 89 Jahren gestorben.
"Du wirst jetzt ruhig und vernünftig sein und nicht mehr daran denken, denn es ist geschehen, der Schritt ist getan, ich bin hier, du mußt es dir immer wiederholen: ich fahre nach Rom, ich fahre zu Cécile, und wenn ich mich auf diesem Platz niederlasse, so ist das ihretwegen, weil ich den Mut gehabt habe, mich zu diesem Abenteuer zu entschließen."
Michel Butor liest aus einem Roman, den er 1957 veröffentlichte und der als eines der wichtigsten Werke des Nouveau Roman gilt. In "Paris - Rom. Oder: Die Modifikation" fährt ein Mann im Zug von der französischen in die italienische Hauptstadt. In Paris lebt seine Familie, in Rom seine Geliebte Cécile. Und wegen ihr will er seine Familie verlassen. Unaufhörlich durchdenkt der Mann diesen Schritt und wird immer unsicherer. In ihm vollzieht sich eine Modifikation auf der Zugreise.
"Ich hatte eine Eisenbahner-Kindheit. Mein Vater war bei der Eisenbahn. Und deshalb konnten wir quasi umsonst fahren. Sich fortbewegen hieß für mich als Kind: mit dem Zug fahren. Außerdem interessierten mich die Fahrpläne der Eisenbahn, also die enge Verbindung zwischen Zeit und Ort. Im Prinzip fahren die Züge pünktlich los und kommen pünktlich an. Wenn man die Uhrzeit kennt, kennt man auch den Ort und umgekehrt. Diese Tatsache erlaubte es mir, mit weniger Worten mehr zu sagen."
Moralität und Grammatik der Eisenbahn nannte Michel Butor diese Verbindung zwischen Zeit und Ort. Mit Grammatik im eigentlichen Sinn, nämlich mit der französischen Grammatik, beschäftigte sich Michel Butor ausgiebig: In den 50er-Jahren arbeitete er in verschiedenen Ländern, von Ägypten bis Großbritannien, als Französisch-Lehrer. Aus dieser Tätigkeit stammte die Idee, seine Romane "Der Zeitplan", "Die Modifikation" und "Stufen" mit einem zugleich pädagogischen und ästhetischen Eingriff zu ordnen:
"Um die Grammatik zu verdeutlichen, habe ich Paragraphen inmitten der Sätze eingefügt. Das ist übrigens in Lehrbüchern üblich. Normalerweise bilden ja einige Sätze einen Paragraphen. Ich aber wollte einen Satz haben und darin mehrere Paragraphen. Der Zeilensprung ähnelt dem Übergang von einem Vers zum anderen. Das war meine Absicht: Ich wollte, dass Romane Gedichte sind."
Interessierte sich schon als kleiner Junge für Romane
Mit der Form spielen, die Gesetze des Genres brechen, sich von der Betroffenheitsprosa der 50er-Jahre lösen – das wollten alle Autoren des französischen Nouveau Roman. Michel Butor sagte sich allerdings schon Anfang der 60er-Jahre vom Nouveau Roman los und veröffentlichte überhaupt keine Romane mehr. Butor wurde am 14. September 1926 in einem Vorort von Lille geboren und interessierte sich schon als kleiner Junge für Romane und Enzyklopädien:
"Ich liebe es, in alten Bibliotheken zu stöbern. Ich entdeckte zum Beispiel den französischen Autor Buffon in der Bibliothek eines Schlosses. Ich wollte wissen, was Buffon über meinen Namen schrieb. Mein Name, Butor - deutsch: die Rohrdommel -, bezeichnet einen Vogel, war aber früher auch ein schlimmes Schimpfwort. Als Kind litt ich sehr darunter. Eines Tages sah ich also nach, was Buffon über den Butor schrieb. Und siehe da: Das Tier entpuppte sich dort als äußerst sympathisch Wesen mit sehr interessanten Seiten."
In dem Buch "Bumerang" nahm Michel Butor Buffons Beschreibung des Vogels auf und fügte sie mit vier weiteren Tierbeschreibungen zu einer Collage zusammen. So entstand ein neues Fabelwesen mit den Eigenschaften von fünf Tieren. Zitate in den eigenen Text einzufügen, Dinge und Materialien zusammenzubringen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören – das liebte Michel Butor. Er war ein Meister im Assoziieren. Auch in seinem mehrbändigen Werk "Traummaterial":
"Sehr oft sagt ein Familienmitglied am Frühstückstisch: ´Ich habe heute Nacht einen besonderen Traum gehabt.` Und die anderen sagen: ´Los, erzähl.` Aber meistens verschwindet der Traum genau in dem Moment. In meiner Traumprosa habe ich meine eigenen Träume mit anderen Traumschilderungen in Verbindung gesetzt, sie gewissermaßen über Kanäle verbunden. So entstand ein Netz, mit dem ich die Träume der Leser fangen wollte."
Schuf eine vollkommen neue Form der Reiseprosa
Nach seinem vierten Roman "Stufen" wandte sich Michel Butor dem Gedicht und dem Essay zu und schuf eine vollkommen neue Form der Reiseprosa. In dem Band "Genius loci" beschreibt er den Tempel in Delphi in einem einzigen hymnischen Satz, der sich über fünf Seiten erstreckt. Die Form sollte dem Gegenstand gerecht werden. Manchmal verzichtete Michel Butor sogar ganz auf Satzzeichen, wenn er das für angemessen hielt. Diese Formstrenge verlangte dem Leser einiges ab und erklärt, warum die späten Veröffentlichungen Butors kaum gelesen wurden. Sein mit Abstand bekanntestes Werk blieb der Roman "Paris – Rom. Oder: Die Modifikation". Das Buch, in dem ein Mann seine Frau wegen Cécile, seiner Geliebten in Rom, verlassen will, aber im Zug seine Meinung ändert:
"Allein in deinem Zimmer, wirst du ein Buch zu schreiben beginnen, um die Leere dieser Tage in Rom auszufüllen, diese Tage ohne Cécile und mit dem Verbot, dich ihr zu nähern. Dann, am Montag abend, wirst du zur vorgesehen Stunde zum Bahnhof zurückkehren, um den vorgesehenen Zug zu nehmen, ohne sie gesehen zu haben."