Zum Tod des Rabbiners Jonathan Sacks

"Gehe nicht immer auf Nummer sicher"

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Ein Porträt von Jonathan Sacks, er lächelt in die Kamera.
Rabbi Jonathan Sacks ist gestorben. Er habe viele inspiriert, erinnert sich sein Weggefährte Yechezkel Mandelbaum. © Getty Images/ David Levenson
Yechezkel Mandelbaum im Gespräch mit Miron Tenenberg · 13.11.2020
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Der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks ist im Alter von 72 Jahren gestorben. Sein Kollege und Weggefährte Rabbiner Yechezkel Mandelbaum würdigt ihn für seinen Mut, Brücken zu schlagen. Er habe sich bemüht, jeden zu erreichen.
Deutschlandfunk Kultur: Rabbi Jonathan Sacks hat sich weit über die Grenzen des Vereinigten Königreiches verdient gemacht, war als orthodoxer Rabbiner, Philosoph und Politiker tätig. Er verstand es, klare Worte zu finden, eigene Fehler zu korrigieren und dadurch Brücken zu bauen. In Nachrufen wurde er als "Leuchtturm dieser Nation" und ein "intellektueller Gigant" bezeichnet. Rabbiner Yechezkel Mandelbaum ist gebürtiger Schweizer und hat bei Rabbiner Sacks gelernt und von ihm die Smicha zur Ausführung des Rabbineramts erhalten. Guten Tag, Herr Mandelbaum. Wie geht es der jüdischen Gemeinde der Zeit nach dem Tod von Rabbiner Sacks?
Mandelbaum: Es herrscht eine Stimmung des Schocks. Wir haben nicht gedacht, dass es so schnell geht. Wir waren von Rabbi Sacks selbst informierten, dass er sich zurückziehen muss und wir haben auch für ihn gebetet. Es gab Vorlesungen, wo wir für seine Genesung gelernt haben und zusammengekommen sind, virtuell natürlich. Dann ging es plötzlich so schnell und plötzlich war dieser Tag da, wo wir einfach gegangen ist, nicht mehr hier.
Was mich persönlich betroffen gemacht hat, was ich erstaunlich fand, ist, – wie Sie es vielleicht wissen, im Öffentlichen sind wir hier in Großbritannien eher etwas reserviert, nicht so extrovertiert, wenn es um Emotionen geht oder versuchen, die zumindest in einem gewissen Format zu halten – und ich war erstaunt, wie viele Emotionen da losbrachen von Leuten, bei denen ich es nicht erwartet habe. Da war auch ein großer ‚senior rabbi', einen Dayan, der sehr schön gesprochen hat und dann plötzlich brach seine Stimme.
Dann kam hervor, was er wirklich bedeutete, und auch von meinen Kollegen habe ich viele Mails bekommen und einer meiner Kollegen hat geschrieben, dass er um vier Uhr früh aufgewacht sei und gemerkt hätte, wie stark im sein Rabbi fehlt.
Denn im Unterschied zu mir hat Rabbi Sacks diese Leute, diese ganze Generation von jungen Leuten, die sich in einer Form oder einer anderen in die Tora involvieren und ins Judentum, die hat er nicht nur ausgebildet, er hat sie inspiriert. Er war der eigentliche Grund, wieso sich meine Kollegen dem Judentum vielleicht wieder zugekehrt haben oder sich entschlossen haben: ‚Doch, ich möchte eigentlich meinen Dienst erweisen. Ich möchte Rabbiner werden. Ich möchte da was tun für meine jüdischen Kollegen und Freunde und Familien und Gemeinden.‘

Yechezkel Mandelbaum, orthodoxer Rabbiner in der Londoner Gemeinde "Kingston Surbiton & District Synagogue". Er ist Weggefährte des kürzlich verstorbenen Rabbiners Jonathan Sacks.

Deutschlandfunk Kultur: Womit wird er ihn in Erinnerung bleiben?
Mandelbaum: Für seinen Mut! Für seinen Mut, über das Judentum heraus Menschen zu erreichen. Für sein Brückenbau. Für seine Art das Judentum nicht für denjenigen, der nicht eingeweiht ist, in einfache Formel zu bringen, sondern wirklich große Fragen aufzuwerfen und nicht unbedingt gleich irgendwelche Antworten darauf zu liefern. Für den Mut, dass Glaube und Religion nicht etwas ist, das in Stein gemeißelt ist, etwas, das sich verändern kann, das wachsen kann wie eine Pflanze. Das ist, was mich so inspiriert an ihm."
Deutschlandfunk Kultur: Viele reden, wenn sie über den verstorbenen Rabbiner sprechen, mit sehr guten Worten über ihn. Seine Tochter sprach selbst an seinem Grab, davon, dass er ihr das Gefühl gegeben hat, allen seinen Kindern immer geliebt worden zu sein. Was hat diese spezielle Aura von Rabbiner Sacks ausgemacht?
Mandelbaum: Rabbiner Sacks, so gut ich ihn kannte, bemühte sich, die Sprache zu finden, um jeden zu erreichen, egal wer sein Zuhörer war. Ob das ein selbstbekennender Atheist ist, wie zum Beispiel Dawkins oder ein einfacher Nichtintellektueller oder ein jüdischer Scolar von höchstem Format. Er konnte mit allen sprechen und seinen Zugang finden, das zeichnete ihn aus.
Und das war nicht immer so! Ein langjähriger Kollege von ihm gesagt, dass er – in jungen Jahren – sprach wie ein Philosoph, hoch gebildet, und man konnte ihn kaum verstehen, so viele komplexe Themen, die er da zusammengewoben hat. Aber später hat er sich zum Ziel gesetzt, dass er mit seinen Worten die Menschen wirklich erreicht. Und ich glaube, das war das Besondere.
Deutschlandfunk Kultur: Was hat er Ihnen mitgegeben?
Mandelbaum: Ganz viel, also ich habe zurzeit ein einen Bar-Mizwa-Studenten, das ist so was wie die Konfirmation, und dieser 12-jährige Junge, der sagt von sich: ‚Ich bin ein Atheist, Rabbi. Aber kann ich trotzdem eine Bar Mizwa haben? Ergibt das überhaupt Sinn für mich?‘ Und ich sagte ihm: ‚Ja, natürlich! Das ist kein Problem.' Und die ersten Sachen, die wir jetzt wahrscheinlich zusammen anschauen werden, ist, wie Rabbi Sacks zusammen mit Richard Dawkins diskutiert und wie er diese großen Fragen nicht scheut. Er macht es möglich, mit seinem Mut vorauszugehen, um die Leute dort abzuholen, wo sie sind und nicht, wo sie sein sollten, gemäß dem Judentum oder seiner Philosophie.
Ja, ich habe so eine persönliche Anekdote: Als ich die Unterschrift auf mein Rabbinerzertifikat bekam von ihm, das war kurz vor meiner Einführung in meinen neuen Job. Und ich habe Rabbi Sacks gefragt: ‚Was sage ich meiner Gemeinde auf so einer Veranstaltung?‘ Und dann hat er gesagt: ‚Sage ihnen, was sie gut machen. Wie sehr Du anerkennst, was sie als Gemeinde bis jetzt gemacht haben und dann gleichzeitig kannst Du sie challengen, Du kannst ihnen ein Ziel setzen, ihnen sagen, dass wir jetzt versuchen, weiter zu gehen auf diesem Weg.‘ Er hat mir auch gesagt: ‚Du, Yechezkel, wirst Fehler machen in deinem Job. Das gehört dazu, versuche Dinge! Geh nicht immer auf Nummer sicher, take the risk!‘
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