Zum Tod des Lyrikers Philippe Jaccottet

Sehnsucht nach Stille

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Der Schweizer Lyriker Philippe Jaccottet
Neben seiner eigenen Lyrik schrieb Philippe Jaccottet auch Literaturkritiken und arbeitete als Übersetzer. © imago images/Leemage/Sophie Bassouls/
Von Jürgen Ritte · 25.02.2021
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Philippe Jaccottet war einer der wichtigsten französischsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er übersetzte auch Dichter wie Hölderlin und Musil. Jaccottet schätzte die Stille fern vom Literaturbetrieb. Nun ist er mit 95 Jahren gestorben.
"Es ist wahr: Je weiter die Jahre voranschreiten, desto mehr erschreckt mich das Wuchern der Kommentare und des Geredes allenthalben wie auch das der Bilder, und das verstärkt noch, über das Schreiben hinaus, meinen Wunsch nach Stille."
Der Lyriker Philippe Jaccottet war einer der Stillen im Lande und doch, dies ist wohl sein Paradoxon, einer der meist Gehörten. Ganz so, als ob inmitten der dröhnenden Bilderfluten, die auf uns einstürzen, des permanenten Rauschens der Diskurse, das uns täglich umspült, einzig noch die Stille wirklich vernehmbar wäre.

Zurückgezogen im Einklang mit der Natur

Als er, was nur ganz wenigen Autoren, und zumal Lyrikern, zu Lebzeiten vergönnt ist, im Alter von neunzig Jahren – das war 2015 - mit einer großzügigen Auswahl aus seinem in sieben Jahrzehnten gewachsenen Werk Einzug hielt ins Allerheiligste der französischsprachigen Bücherwelt, in die "Bibliothèque de la Pléiade", da musste sich selbst der höchst seriöse staatliche Rundfunksender "France Culture" mit der Wiederholung eines längeren Interviews zufrieden geben, das Jaccottet bereits zu Anfang des Jahres 2011 gegeben hatte.
Schon früh hatte sich Jaccottet aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen. Keine großen Worte, keine rhetorischen Bilder, keine surrealen Traumgebilde, keine Ideengebäude, kein hermetisches Geraune, sondern Einfachheit, Nähe zu den Dingen, "kristalline Transparenz", wie Jaccottets Landsmann Jean Starobinski einmal formulierte, Unmittelbarkeit im Verhältnis zur umgebenden Landschaft, deren Wahrheit einfangen.
Das mag sich beim erstem Hinhören nach naiver Feld-, Wald- Wiesenlyrik anhören, aber Einfachheit, dies wäre das nächste Paradox, ist ein komplexes Ding. Jaccottet, der sich wie kein anderer französischer Autor der Gegenwart der deutschen Literatur nahe fühlte, Musil, Hölderlin, Novalis, Rilke oder Ingeborg Bachmann ins Französische übersetzte und ein imposantes Œuvre als Literaturkritiker hinterlässt, war kein naiver, blind der Sprache vertrauender Dichter.

Reduzierte Sprache wie beim Haiku

Der angestrebten Unmittelbarkeit steht die Sprache, die zu dieser Unmittelbarkeit führen soll, stets im Wege. Jaccottets Skepsis gegenüber der Sprache schien mit den Jahren noch zu wachsen, seine Gedichte wurden immer wortkarger:
Bäume
Geduldig
Entreißen sie sich der wüsten,
lichtlosen Welt der Knochen, der Samen
mit jedem Jahr
durchzitterter von Luft zu sein
In Friedhelm Kemps Übertragung dieses Gedichts aus dem Jahre 1964 entsteht, wie beim japanischen Haiku, die ephemere Skizze eines Baumes mit seinem weit ausgreifenden Geäst in der lichten Luft und seiner Herkunft aus dem dunklen, modernden Erdreich. Tatsächlich bewegte sich Jaccottet ab den sechziger Jahren immer mehr auf die minimalistische Form des Haikus zu, diese dichten poetischen Momentaufnahmen, die mit einer äußersten Ökonomie der sprachlichen Mittel auskommen.
Jaccottets Lyrik ist, wie gleichzeitig schon bei Francis Ponge, der Versuch, die Dinge zu sehen, ihre Poesie nachzuschöpfen. Mit dieser besonderen Ethik des Schreibens wurde Jaccottet neben Yves Bonnefoy, Michel Deguy, Francis Ponge oder René Char zu einem der ganz großen Vertreter der französischen – und nicht nur der französischen Lyrik – des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
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