Zum Tod Brigitte Kronauers

Beschwören von Welt und Wirklichkeit

03:44 Minuten
Brigitte Kronauer festgehalten in einem stillen Moment. Sie raucht nachdenklich eine Zigarette.
Expertin für die Mittelklasse: die Schriftstellerin Brigitte Kronauer im Jahr 2000. © imago/ gezett
Von Ulrike Sárkány · 23.07.2019
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"Beschreibungsfanatikerin" hat man sie genannt. Brigitte Kronauer wollte schon als Kind schreiben, Autorin werden. Mit 40 hängte sie den Lehrerjob an den Nagel und wurde die herausragende deutsche Schriftstellerin ihrer Generation.
"Absolute Finsternis ist etwas Grausames. Mein Vater war ein jähzorniger Mann, aber schon damals stellte er uns Kindern, wenn wir uns im Dunkeln fürchteten, ein Öllichtchen ins Schlafzimmer."
Der Ruhm kam 1980 mit dem Roman "Frau Mühlenbeck im Gehäus". Aber da hatte Brigitte Kronauer längst beschlossen, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen, und sich als freie Schriftstellerin in Hamburg niedergelassen. Sie selbst wusste schon als Kind, dass das Schreiben ihre Berufung war. Sie wurde die leuchtend herausragende deutsche Schriftstellerin ihrer Generation.
"Ich kann jetzt die Augen zumachen, ich muss nicht den schönen Tag ansehen, keine Gesichter, nicht von Schülern, nicht von Fahrgästen. Ich kann für mich sein. Ich habe in einer Sesselritze einen kleinen Knochen gefunden. Er ist vielleicht einmal vom Teller gesprungen, das Fleisch um ihn herum war eingetrocknet. Es hat sich mir eingeprägt."

Viele Romane, zahlreiche Auszeichnungen

Viele Romane folgten: "Rita Münster", "Berittener Bogenschütze", "Die Frau in den Kissen", "Das Taschentuch", "Teufelsbrück", "Verlangen nach Musik und Gebirge", "Errötende Mörder", "Zwei schwarze Jäger", "Gewäsch und Gewimmel", "Der Scheik von Aachen". Und es gab viel Lob von der Kritik und zahlreiche Auszeichnungen.
Brigitte Kronauer bei der Entgegennahme des Heinrich-Böll-Preises 1989 in Köln.
Brigitte Kronauer bei der Entgegennahme des Heinrich-Böll-Preises 1989 in Köln.© picture alliance / Michael Jung
Da ihre Literatur mit der ungeschminkten Realität auf der einen Seite, mit raffinierten Gegenüberstellungen und Zweideutigkeiten auf der anderen Seite operiert, ist Brigitte Kronauer nie eine Bestsellerautorin geworden. Zu weltvergessener Identifikationslektüre laden ihre Bücher nicht ein.
"Manchmal wird gesagt 'Wahrnehmungserotikerin' oder 'Beschreibungsfanatikerin'. Das Beschreiben der Welt ist gar nicht das, was mich interessiert, sondern das Beschwören der Welt, der Wirklichkeit."

"Unendlich differenziert und sich erneuernd"

Zu allen Zeiten war diese Schriftstellerin eine wache Beobachterin, und sie wusste sich immer auf das zu beschränken, was sie aus eigener Erfahrung genau kannte. Dazu gehörten in erster Linie Menschen der Mittelklasse, oft ältere Frauen - die niemand so respektvoll und zugleich mitleidlos in Szene zu setzen weiß wie Brigitte Kronauer -, aber auch die uns umgebende Flora und Fauna, deren Zerstörung in ihren Büchern auch immer wieder thematisiert wird.
Brigitte Kronauers Sprachkunst, geschult an Jean Paul und Adalbert Stifter, kann aus hochwissenschaftlichem Vokabular schöpfen und auch aus der Umgangssprache. Für sie war wichtig, das einzelne, unverwechselbare und vielseitige Individuum in der Komplexität des Daseins zu erfassen:
"Dass man lernen muss, sich von den Klischees, von diesen festgefügten, beruhigenden, Sicherheit gebenden Schubladen zu entfernen, weil sie eine viel größere Wirklichkeit verdecken, die viel größere Wirklichkeit zu erfahren, dass man in einem fortgeschrittenen Alter sein kann und merkt, dass die Welt – nicht nur dass man jung geblieben ist oder so was –, sondern dass sie unendlich differenziert und sich erneuernd ist."
Brigitte Kronauer schrieb gern über Alte, während sie selbst ihr Leben lang jung geblieben ist. Ihr Werk bezeugt das auch in der Zukunft.
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