Zum Studieren und Betrachten

Von Adolf Stock |
Goethes Gartenhaus wurde zum Vorbild für die Reform-Architekten am Ende des 19. Jahrhunderts und das Bauhaus hat mit dem Haus am Horn zum ersten Mal seine avantgardistische Bauauffassung präsentiert.
Weimar steckt voller Geschichte: Die Wohnhäuser von Goethe und Schiller, die berühmte Amalia-Bibliothek, die nach dem Brand gerade wieder aufgebaut wird, aber auch das Gauforum zwischen Bahnhof und Innenstadt, mit dem sich die Nationalsozialisten ihren architektonischen Platz in Weimar sichern wollten. Heute ist es ein Einkaufszentrum. Die Studenten der Weimarer Bauhaus-Universität haben sich in einer Ausstellung, die im Januar in die USA wandert, mit Geschichte und Moderne der Weimaraner Architektur auseinandergesetzt.

"Hallo, das sind zwei Studenten? Immerhin sind schon mal zwei gekommen. Fünf oder sechs Rückmails habe ich. Und Darja kam gerade auf mich zu und rief, dass sie noch mitten in der Präsentation ist."

Christiane Wolf steht mit einigen Architekturstudenten in einem Gebäude der Weimarer Universitätsbibliothek. Zwei Münchner Architekten haben ein altes Backsteingebäude umgebaut und auf das Dach einen modernen Vortrags- und Ausstellungsraum gesetzt. Jetzt präsentieren Studenten über den Dächern von Weimar ihrer Recherche über die zeitgenössische Architektur in Weimar.

Christiane Wolf lehrt nicht nur an der Weimarer Bauhaus Universität, sie betreut auch das "Archiv der Moderne", eine noch junge, im Aufbau begriffene Sammlung, die zur Architekturabteilung der Universität gehört. Auch deshalb interessiert sie sich für die Architektur und Stadtentwicklung der Residenzstadt, zumal es viele Vorurteile gibt, weil die Besucher von Weimar zuallererst an Goethe und Schiller denken und nicht so sehr an moderne Architektur. Das ist eigentlich ungerecht, denn schließlich hat hier 1919 der Architekt Walter Gropius das Bauhaus gegründet, das im Laufe seiner kurzen Geschichte zur weltweit berühmtesten Kunstgewerbe- und Architekturschule werden konnte.

Johannes Schäfer gehört zu den Studenten, die im Sommersemester 2006 das Seminar über moderne Architektur in Weimar besuchten. Er hat sich mit der neuen Universitätsbibliothek beschäftigt, die 2005 eröffnet werden konnte, und die ein Jahr später – zusammen mit dem Erweiterungsbau der Anna-Amalia-Bibliothek – mit dem Thüringer Staatspreis für Architektur und Städtebau ausgezeichnet wurde.

"Die Bibliothek spielt halt sehr auch mit der Stadt, nimmt immer wieder Bezüge und bricht das dann bewusst: Auch der Laie, der durch die Stadt geht, wenn man es dann so sagen kann, oder überhaupt der Nutzer, der nimmt das ja auch in diesem Kontext wahr. Also das Gebäude wird ja nie autark gesehen, wie das vielleicht auf einen Plan dann scheinen mag. Und mir ging es so, und wahrscheinlich ging es auch allen so, dass man das eben in diesem Kontext sehen muss und dementsprechend auch beschreiben muss."

Johannes Schäfer beschreibt eine Situation, die für Weimar typisch ist, denn viele der neuen Gebäude sind Teil eines größeren Ensembles. Diese Vielfalt und Kleinteiligkeit entspricht der lokalen Bautradition, erklärt die Studentin Susan Stuwe.

"In Weimar hat man ganz oft die Villen, die immer Durchlässe zum Innenhof bieten. Und das sind keine kleinen, engen, geschlossenen Innenhöfe, sondern schon sehr weite Zonen, die oftmals nur durch ganz kleine Gebäude und Grünflächen gekennzeichnet sind."

Die zeitgenössischen Architekten respektieren fast alle den vorhandenen Stadtraum und versuchen die kleinteilige Struktur zu erhalten oder sogar wieder neu entstehen zu lassen. So hofft Weimar der Musealisierung der Altstadt zu entgehen, denn bei aller Rücksichtnahme auf den historischen Kontext grenzen sich die ergänzenden Neubauten selbstbewusst ab. Sie geben sich nicht älter als sie sind und verzichten darauf, sich mit postmodernem Schnickschnack anzubiedern. Dieses Prinzip funktioniert auch bei der Förderschule und dem Altenheim in der Trierer Straße, mit dem sich Susan Stuwe näher beschäftigt hat.

"Da das Grundstück sehr überbaut war und die Architekten versucht haben, die für Weimar typische Hofstruktur wieder herzustellen, und bei den Gebäuden wurde halt stark auf Blickbeziehungen geachtet, aber auch auf Beziehungen zwischen den behinderten Kindern in der Förderschule und den alten Menschen. Und es sollte nicht nur durch Blickbeziehungen, sondern auch durch die Innenhofnutzung ein Zusammenleben ermöglicht werden."

Hier wird deutlich, dass überschaubare, gut durchdachte Stadtstrukturen auch eine soziale Funktion erfüllen.

Mathias Lauenroth hat das Studentenwohnheim oberhalb des Ilmparks näher betrachtet. Er wohnt selbst in dem alten Gebäude. Die ehemalige Gewehrkammer der Großherzoglichen Kaserne wurde radikal entkernt und besitzt nun im Innern eine kraftvolle und eigenwillige Architektur. Mathias gibt zu, dass er sich zunächst in dieser neuen Umgebung nicht sonderlich wohl gefühlt hat, denn die Einbauten wirken eher streng als gemütlich.

"… aber im Nachhinein, wenn man den Hintergrund weiß, den historischen Kontext, in dem man dort lebt, in den man sich einfügt, dann glaube ich doch, dass man sehr gut mit dem Gebäude umgehen kann und sehr gut mit ihm leben kann. Es ist ein gelungener Kompromiss, eine Haus-in-Haus-Situation, ein Boxensystem in dem alten Gebäude integriert. Ich glaube, das wäre für einen Denkmalpfleger ein kleiner Pfeil ins Herz, weil doch die denkmalpflegerische hohe Substanz nicht genügend berücksichtigt wurde dafür."

Die Konfrontation von alter und neuer Architektur prägt das neue Gesicht von Weimar. Christiane Wolf will Zusammenhänge aufzeigen und ihren Studenten einen professionellen Blick auf die zeitgenössische Architektur vermitteln. Zunächst war es für die Studierenden gar nicht so leicht, kurz und prägnant die wesentlichen Eigenschaften eines Gebäudes zu beschreiben.

"Die Texte waren sehr stark mit Bewertungen in ihrer ersten Fassung. Das haben wir dann immer wieder zur Diskussion gestellt und gefragt, wie können wir das in die Objektivität hineinbringen? Das ist auch ein Lernmodul für eine Architekturausbildung, ganz knapp ein Gebäude zu beschreiben und es in seinen Qualitäten zu beschreiben, und nicht erst mal die negativen Seiten aufzuführen, oder ich finde das schön oder nicht schön. Das gibt’s nicht."

Jenseits solch strenger Kriterien spürt jeder Besucher, der durch Weimar geht: Diese Stadt ist schön. Doch der freundliche Eindruck kommt nicht von ungefähr, hinter den Kulissen wird kräftig Regie geführt: Großflächige Werbung ist verboten, die Farbanstiche der Häuser folgen dem historischen Vorbild, und das holprige Kopfsteinpflaster ist in Wahrheit gar nicht alt, sondern ziemlich neu.

In Weimar gibt Schlösser und Bibliotheken, bürgerliche Wohnhäuser und stattliche Villen und natürlich Goethes Gartenhaus. Bis zur Jahrtausendwende wurde in Weimar viel renoviert. 1999 sollte die Stadt Europäische Kulturhauptstadt werden. Kein Besucher sollte auf baufällige Ruinen blicken. Weimar wollte sich als schmuckes Kleinod präsentieren, das sich dem klassischen Erbe würdig erweist. Erst danach, sagt Johannes Schäfer, wurde in Weimar wieder neu gebaut.

"Ab 2000 ist eben eine ganz interessante Wende zu sehen, also zum Beispiel auch beim neuen Bauen am Horn, ein Prestigeprojekt, gibt es sicherlich auch Wohnhäuser, die plötzlich auffallen, die Projekte, die sich zurückhalten, die Musikhochschule am Horn ist so ein Beispiel, das ist halt eine Umnutzung, eine solide Umnutzung des alten Streichhahn-Baues, der alten Kaserne, und es gibt eben auch Gebäude, die etwas Besonderes sind, die neue Impulse geben. Was in der Architektur in Weimar lange Zeit nicht der Fall war. Also lange war die Käseglocke über der Stadt."

Der wohl wichtigste Neubau in den letzten Jahre ist der Erweiterungsbau der Anna-Amalia-Bibliothek. Von Anfang an hatte die Bibliothek chronischen Platzbedarf. Das Problem gab’s schon zu Goethes Zeiten, und so wurden die Räume immer mal wieder erweitert und ausgebaut. Mit dem neuen Studienzentrum sollte nun endlich eine zukunftsträchtige Lösung gefunden werden.

Zwischen der Anna-Amalia-Bibliothek und dem Studienzentrum liegt der Platz der Demokratie. Darunter befindet sich jetzt ein Archiv für Bücher, und es gibt einen Verbindungsgang, der von der alten Bibliothek zu dem neuen Studienzentrum führt. Wie so oft in Weimar wurden auch hier mehrer Altbauten renoviert und miteinander vernetzt. Herzstück ist der neu gebaute Lesesaal, ein 18 Meter hoher Bücherkubus, der mit edler Noblesse auf die Rokoko-Pracht des alten Lesesaals reagiert und das historische Vorbild mit modernen Mitteln neu interpretiert.

2005 konnte das neue Studienzentrum eröffnet werden. Doch schon ein Jahr zuvor brannte der historische Rokoko-Saal der historischen Bibliothek. Damals wurden durch Feuer und Löschwasser viele wertvolle Bücher zerstört oder stark beschädigt. Der Schock saß allen in den Knochen. Es gab eine Welle der Solidarität. Mit viel Aufwand und Geld wird die Bibliothek zurzeit wieder instand gesetzt. Gerade sind an der Fassade die Gerüste gefallen. Im Herbst 2007 sollen die Arbeiten beendet sein, und erst dann wird das neue Bibliotheks-Ensemble seine Funktion voll erfüllen können.

Eine ganz andere Symbiose von Alt und Neu ist das "Weimarer Atrium", ein Shopping-Mall, die in die große Halle des ehemalige Gauforums zog und 2005 eröffnet wurde. Auf der Homepage des Atriums findet sich kein Verweis auf die zweifelhafte Vergangenheit der innerstädtischen Immobilie, stattdessen ist Goethes Gartenhaus zu sehen und eine junge lebensfrohe Familie, die entschlossen Einkaufstüten schwenkt.

Christiane Wolf hat lange überlegt, ob das Gauforum überhaupt in ihr Seminarkonzept passt. Aber mit dem Umbau einer alten Kaserne zu einer Musikhochschule oder mit der Unterbringung des Thüringischen Staatsarchivs im alten Marstall wurden ja schließlich auch historische Gebäude neu genutzt.

Allerdings fand sich keiner der Studierenden bereit, sich näher mit dem Gauforum zu beschäftigen. Das war kein Desinteresse, sondern entsprach eher der Befürchtung, dass das Seminar nicht den geeigneten Rahmen bot, um das heikle Thema – über das in Weimar und weit darüber hinaus heftig gestritten wird – ausführlich behandeln zu können. Also musste Christiane Wolf die Arbeit selber machen, was auch insofern gut begründet war, weil sie sich schon seit einem guten Jahrzehnt mit nationalsozialistischer Architektur und mit der Geschichte der Gauforen beschäftigt hat.

"Es ist nie ein Konzept von der Stadt oder vom Land Thüringen für das gesamte Objekt vertreten worden. Es fällt momentan auseinander, es gibt den Konsumtempel, wenn man das so sagen soll, und es gibt das Gauforum. Der gehört nicht mehr dazu. Es sieht man auch am Platz, man kann nicht rüber laufen. Es gibt keine Verbindung und keine Wege. Es ist immer noch ein Block in der Stadt."

Das Gauforum liegt wie ein flach geklopftes Barockschloss am Rande der historischen Altstadt. Ein unübersehbarer Stolperstein, der an die unrühmliche NS-Vergangenheit erinnert. Auch architektonisch ist das Gauforum ein Sündenfall, weil es den architektonischen Maßstab der kleinen Residenzstadt sprengt.

Das Gauforum kombinierte Verwaltungsgebäude mit einem Aufmarschplatz und der Halle der Volksgemeinschaft für 20.000 Menschen. Bis heute nutzt das Land Thüringen einen Teil des Gebäudes. Der Aufmarschplatz ist jetzt eine harmlose Wiese, unter der sich eine Tiefgarage befindet. Nur für die große Halle, die sich in der Blickachse der pseudobarocken Schlossanlage befindet, gab es lange Zeit keinen Nutzer, bis die Shopping-Mall kam.

Der Investor hat südländisches Ambiente in die große Halle implantiert, mit sonnigen Pastellfarben und Architekturfragmenten, die an Urlaub in einem italienischen Dorf erinnern. Ganz wie Goethe kann hier nun die Kundschaft rufen: Auch ich in Arkadien! Aus der einstigen Halle der Volksgemeinschaft ist eine Halle der Konsumenten geworden. Jetzt wird gestritten, ob sich der nutzlos gewordene Nazibau mit einer Shopping-Mall verträgt. Aber andererseits: Das Einkaufszentrum ist wenigstens nicht an den Stadtrand gezogen und hat auch an anderer Stelle nicht die gewachsene Stadtstruktur zerstört.

"Ich wohne selber dort unten in dem Quartier, und das Quartier hat enorm gewonnen durch die Bewegung. Fußläufig gehen auf einmal Leute da lang, zu einer Tageszeit, wo sonst niemand mehr dort langgegangen ist. Aber die Bezüge fehlen, und insofern würde ich schon immer an die Moral appellieren, denn das ist der Ort der Täter."

Manche Besucher empfinden beim Gang durch die Shopping-Mall noch etwas Unbehagen, andere kultivieren eher den pragmatischen Blick. Schließlich ist die kommerzielle Nachnutzung von Nazibauten längst kein Tabubruch mehr.

"Sicherlich kann man über das Einkaufzentrum an sich und die Vorstellung dieser Pappmaschee-Italien-Welt reden, und man kann eben über die Fassade und dann auch noch über die Problematik der Nutzung in diesem Gebäude reden und alles ist problematisch, das ist, kann man glaube ich resümierend feststellen, alles nicht zufrieden stellend."

Johannes Schäfer hat Lust zu kritisieren. Beim Gauforum stößt die im Seminar geforderte Objektivität an ihre emotionalen Grenzen. Unterm Strich bleibt den Seminarteilnehmern und den Besuchern der kleinen Ausstellung allerdings genügend Gewinn. So versteht man zum Beispiel, dass die gewachsenen Strukturen der Stadt ernst zu nehmen sind und weiterentwickelt werden müssen. Was so schlicht und einleuchtend klingt, sagt Christiane Wolf, war bei Architekten und Stadtplanern in Ost und West lange Zeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

"Ich denke, in zehn Jahren, wenn man diese Ausstellung noch einmal ausgräbt oder sie auf dem Rechner sieht, könnte man sich schon dazu versteigen, dass ist Architektur nach 2000, weil die Bauten sich wesentlich, sag ich mal, in sich selbst behaupten, ohne aber, wie das ja in anderen Städten auch der Fall ist, sich jetzt reindrängen in den Stadtraum und kaputt machen wollen, etwas dagegensetzen wollen. Sie sind ganz …, sie sind Solitäre."

Trotz aller Behutsamkeit, die neuen Bauten in Weimar, diese vielen minimalistischen Kuben, die sich in den vorhanden Stadtraum schieben und ihn ergänzen, folgen dem aktuellen Zeitgeist. Doch wie könnte dies anders sein? Das war schließlich immer so, dass gute Architekten mit dem gebotenen Respekt das Gesicht der Stadt verändert haben.