Zum Sitzen und Staunen

Ob Freischwinger oder Totenkopfsessel: Die Schau "IDEEN sitzen" stellt rund 100 Stühle aus den letzten 50 Jahren vor. Sie zeigt Entwürfe berühmter Designer - etwa Philipp Starck, Stefan Wewerka, Mario Botta oder Ettore Sottsass.
Knallbunte biomorphe Gebilde aus Kunststoff. Waghalsige Liegekonstruktionen aus Sperrholz. Ein Stuhl mit asymmetrischer Sitzfläche. Eine riesige, aus Fieberglas gestaltete Sitzschale. Ein antiker Säulenstumpf aus Schaumstoff. Erstmals stellt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe rund 100 Designerstühle aus der eigenen Sammlung vor, und schnell zeigt sich: Diese Stühle sind nicht nur zum Sitzen da. Kurator Rüdiger Joppien:
"Der Stuhl ist einfach ein Gegenstand, mit dem kann man eigentlich alles machen. Den kann man auf drei Beine stellen, auf vier Beine stellen, den kann man asymmetrisch gestalten, den kann man in den verschiedensten Materialien bauen, der kann eben sogar schräg sein.
Er hat ja verschiedene Aufgaben: ob als Konferenzbestuhlung, oder eben als Einzelobjekt in einer schön eingerichteten Wohnung. Der Stuhl ist einfach nach vielen Seiten offen, und ist von daher das Lieblingsobjekt aller Designer."
Ästhetisch oft überwältigend schön, machen die chronologisch angeordneten Sitzgelegenheiten aus fünf Jahrzehnten klar, dass es bei den Entwürfen aus Metall, Holz, Papier oder gehäkelter Wolle meist weder ums bequeme Sitzen, noch um die Vermeidung von Rückenschmerzen geht. Vielmehr steht das Spiel mit neuen Materialien und ungewohnten Formen im Vordergrund. So wie bei den aus Kunststoff gegossenen, bunten Gebilden, die in den politisierten 60er-Jahren in Italien entstanden. Rüdiger Joppien:
"Für mich war interessant, dass das, was an politischem Sprengstoff in den 60er-Jahren in der Luft lag, eigentlich gar nicht so sehr in die Möbel eingegangen ist. Wenn wir Möbel der 60er Jahre vor uns haben, dann sind das im Wesentlichen italienische Möbel, und die sind sehr fließend, fast hedonistisch.
Sie sind sehr elegant irgendwo auch. Und dieses ganze Gewaltpotenzial, was sich dann auch mit der Opposition aufbaut, die Auseinandersetzung auf der Straße, findet sich eigentümlicherweise nicht in den italienischen Möbelkreationen wieder."
Allerdings war die Entscheidung für das unendlich formbare Material Kunststoff, und damit für die Massenproduktion, durchaus eine politische: Sie signalisierte den Bruch mit den bis dahin geltenden Wertvorstellungen, ansehnliche Sitzmöbel müssten handgefertigt, und aus Holz oder Stahlrohr sein. Rüdiger Joppien:
"Man wollte die Differenz zwischen Arm und Reich schließen. Man hat in dieser Zeit eben auch versucht, neue utopische Modelle auf den Weg zu bringen: Man wollte das ganze Miteinander-Leben revolutionieren.
In diesem Sinne hat eben der Kunststoff auch eine besonders wichtige Rolle gespielt: Es war ein gesellschaftliches Material, was nicht nur ästhetisch, sondern auch gesellschaftlich-politisch interessant war."
1970 fasste Stefan Wewerka die Aufbruchsstimmung der 60er-Jahre in einem genialen Stuhlentwurf zusammen: Sein leuchtend-roter "Classroom-Chair" wirkt mit seinen wegsackenden Beinen und der schrägen Sitzfläche wie ein Aufschrei für eine neue, menschliche Schule.
In den 80er-Jahren - "Design" hatte sich als anerkanntes Lehrfach an den Hochschulen durchgesetzt, und das "Bauhaus" wurde wiederentdeckt - griffen viele Designer wieder die Tradition elegant-schlichter Stahlrohrsessel auf, und das Prinzip des Freischwingers.
Gleichzeitig entstanden im Jahrzehnt von Anti-Atomkraftbewegung, Friedensbewegung und Punk kleine "Öko-Idyllen", wie etwa Holzbänke mit Lehnen aus unbearbeiteten Birkenstämmen. Und: Frank Schreiner entwarf sein mobiles Sitzmöbel "Stiletto", einen nach vorne offenen Einkaufswagen. Rüdiger Joppien:
"Es trat ein ganz anderes gesellschaftliches Bewusstsein in Kraft. Es war das Ergebnis dessen, was in den späten 60er-Jahren vorbereitet war, was sich jetzt sozusagen materialisierte. Und ich glaube, aus diesem Geist heraus ist so etwas wie der "Einkaufswagen" entstanden, der natürlich komplette Satire ist. Wunderbar! Eine Glosse auf unsere damalige Wohlstandsgesellschaft!"
Ob die Idee demokratischer Kunststoff-Produktion in den 60ern, ob der windschiefe Schulstuhl von 1970, der Einkaufswagen der 80er, oder ein aus gebrauchter Kleidung gestapelter Sessel von 1991 - die kluge Auswahl der Ausstellungsstücke verdeutlicht anschaulich, dass Stuhldesign gesellschaftliche Ideen und Vorstellungen spiegeln kann, dass Sitzgelegenheiten witzig, böse oder ironisch Wirklichkeit kommentieren können.
Für diese Möglichkeiten interessieren sich heutige Designer kaum noch: Seit Mitte der 90er stünden Experimente am Computer im Vordergrund, so Rüdiger Joppien. Und: Die Herstellung exklusiver Einzelstücke. Wie etwa der Sessel in Form eines Totenkopfes, der nur 12 mal gegossen wurde, und heute im MoMa steht, im Centre Pompidou, im Stedelijk - und im Museum für Kunst und Gewerbe. Doch auch solche Vorstellungen spiegeln Zeitgeist.
Info:
Die Ausstellung Ideen sitzen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist noch bis 13. März 2011 zu sehen.
"Der Stuhl ist einfach ein Gegenstand, mit dem kann man eigentlich alles machen. Den kann man auf drei Beine stellen, auf vier Beine stellen, den kann man asymmetrisch gestalten, den kann man in den verschiedensten Materialien bauen, der kann eben sogar schräg sein.
Er hat ja verschiedene Aufgaben: ob als Konferenzbestuhlung, oder eben als Einzelobjekt in einer schön eingerichteten Wohnung. Der Stuhl ist einfach nach vielen Seiten offen, und ist von daher das Lieblingsobjekt aller Designer."
Ästhetisch oft überwältigend schön, machen die chronologisch angeordneten Sitzgelegenheiten aus fünf Jahrzehnten klar, dass es bei den Entwürfen aus Metall, Holz, Papier oder gehäkelter Wolle meist weder ums bequeme Sitzen, noch um die Vermeidung von Rückenschmerzen geht. Vielmehr steht das Spiel mit neuen Materialien und ungewohnten Formen im Vordergrund. So wie bei den aus Kunststoff gegossenen, bunten Gebilden, die in den politisierten 60er-Jahren in Italien entstanden. Rüdiger Joppien:
"Für mich war interessant, dass das, was an politischem Sprengstoff in den 60er-Jahren in der Luft lag, eigentlich gar nicht so sehr in die Möbel eingegangen ist. Wenn wir Möbel der 60er Jahre vor uns haben, dann sind das im Wesentlichen italienische Möbel, und die sind sehr fließend, fast hedonistisch.
Sie sind sehr elegant irgendwo auch. Und dieses ganze Gewaltpotenzial, was sich dann auch mit der Opposition aufbaut, die Auseinandersetzung auf der Straße, findet sich eigentümlicherweise nicht in den italienischen Möbelkreationen wieder."
Allerdings war die Entscheidung für das unendlich formbare Material Kunststoff, und damit für die Massenproduktion, durchaus eine politische: Sie signalisierte den Bruch mit den bis dahin geltenden Wertvorstellungen, ansehnliche Sitzmöbel müssten handgefertigt, und aus Holz oder Stahlrohr sein. Rüdiger Joppien:
"Man wollte die Differenz zwischen Arm und Reich schließen. Man hat in dieser Zeit eben auch versucht, neue utopische Modelle auf den Weg zu bringen: Man wollte das ganze Miteinander-Leben revolutionieren.
In diesem Sinne hat eben der Kunststoff auch eine besonders wichtige Rolle gespielt: Es war ein gesellschaftliches Material, was nicht nur ästhetisch, sondern auch gesellschaftlich-politisch interessant war."
1970 fasste Stefan Wewerka die Aufbruchsstimmung der 60er-Jahre in einem genialen Stuhlentwurf zusammen: Sein leuchtend-roter "Classroom-Chair" wirkt mit seinen wegsackenden Beinen und der schrägen Sitzfläche wie ein Aufschrei für eine neue, menschliche Schule.
In den 80er-Jahren - "Design" hatte sich als anerkanntes Lehrfach an den Hochschulen durchgesetzt, und das "Bauhaus" wurde wiederentdeckt - griffen viele Designer wieder die Tradition elegant-schlichter Stahlrohrsessel auf, und das Prinzip des Freischwingers.
Gleichzeitig entstanden im Jahrzehnt von Anti-Atomkraftbewegung, Friedensbewegung und Punk kleine "Öko-Idyllen", wie etwa Holzbänke mit Lehnen aus unbearbeiteten Birkenstämmen. Und: Frank Schreiner entwarf sein mobiles Sitzmöbel "Stiletto", einen nach vorne offenen Einkaufswagen. Rüdiger Joppien:
"Es trat ein ganz anderes gesellschaftliches Bewusstsein in Kraft. Es war das Ergebnis dessen, was in den späten 60er-Jahren vorbereitet war, was sich jetzt sozusagen materialisierte. Und ich glaube, aus diesem Geist heraus ist so etwas wie der "Einkaufswagen" entstanden, der natürlich komplette Satire ist. Wunderbar! Eine Glosse auf unsere damalige Wohlstandsgesellschaft!"
Ob die Idee demokratischer Kunststoff-Produktion in den 60ern, ob der windschiefe Schulstuhl von 1970, der Einkaufswagen der 80er, oder ein aus gebrauchter Kleidung gestapelter Sessel von 1991 - die kluge Auswahl der Ausstellungsstücke verdeutlicht anschaulich, dass Stuhldesign gesellschaftliche Ideen und Vorstellungen spiegeln kann, dass Sitzgelegenheiten witzig, böse oder ironisch Wirklichkeit kommentieren können.
Für diese Möglichkeiten interessieren sich heutige Designer kaum noch: Seit Mitte der 90er stünden Experimente am Computer im Vordergrund, so Rüdiger Joppien. Und: Die Herstellung exklusiver Einzelstücke. Wie etwa der Sessel in Form eines Totenkopfes, der nur 12 mal gegossen wurde, und heute im MoMa steht, im Centre Pompidou, im Stedelijk - und im Museum für Kunst und Gewerbe. Doch auch solche Vorstellungen spiegeln Zeitgeist.
Info:
Die Ausstellung Ideen sitzen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ist noch bis 13. März 2011 zu sehen.