Zum Kuckuck noch mal

Auf den Spuren einer bedrohten Vogelart

30:00 Minuten
Ein junger Kuckuck will Futter vom Wirtsvogel, einem Teichrohrsänger.
Ein junger Kuckuck will Futter vom Wirtsvogel, einem Teichrohrsänger. © imago/blickwinkel
Von Anselm Weidner · 13.09.2018
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Er ist so legendenumwoben wie heimlich: der Kuckuck. Der einzige Brutparasit hierzulande platziert in nur wenigen Sekunden seine Eier in fremde Nester. Seit einigen Jahren nimmt die Population aber ab und er ist vorm Aussterben bedroht.
Schön, wie der Kuckuck ab Mitte April bis Ende Juli melodisch seine markante Terz ruft. Aber er hat einen schlechten Ruf, legt seine Eier in fremde Nester, kümmert sich kein bisschen um seine Nachkommen, und dazu ist ihm jegliche Paarbindung fremd.
Der Ruf des Kuckuckweibchens, man hört es selten. Es verhält sich heimlich – aus gutem Grund. Kuckucksweibchen kommen aus Zentralafrika im April eine Woche später als die Männchen hier an, wie diese allein und im Nachtflug.
Die weltweit 150 Kuckucksarten, Cuculiformes, bilden eine eigene Vogelordnung. Etwa 50 Arten sind Brutparasiten; eine ist der bei uns heimische Kuckuck, wissenschaftlich Cuculus canorus. In klassischer Musik und Kinderliedern kommt er oft vor.
"Zum Kuckuck nochmal!", "Hol's der Kuckuck!" Die Anzahl seiner Rufe künde davon, wie viele Jahre es noch bis zur Hochzeit oder bis zum Tod sind. Ruft er, wenn man einen gefüllten Geldbeutel bei sich trägt, gehe einem das Geld über's Jahr nicht aus. Des Gerichtsvollziehers "Kuckuck", eine Verhohnepiepelung des Reichsadlers, nimmt gepfändete Gegenstände in Beschlag. In die Ehe geschmuggelte uneheliche Kinder heißen Kuckuckskinder. Der Frühlingsbote, Zukunfts-, Glücks- und Unglückskünder – Volksmund und Volksglauben wissen um den Kuckuck als unheimlichen Wechselbalg, dessen Biologie und Strategien die Wissenschaft erst in jüngster Zeit entschlüsselt hat.


"Man wusste immer, ich sag mal seit dem 18. Jahrhundert, wie das Ganze abläuft, aber seit 1970/75, 1980 sind viele Forschergruppen an brutparasitären Systemen, speziell dem Kuckuck aktiv und haben ein völlig neues Bild gefunden, das die Details inzwischen viel besser und genauer verstehen lässt. Die Forschung zur Coevolution der Kuckucke hat im 21. Jahrhundert enorme Fortschritte gemacht."
Karl Schulze-Hagen, Gynäkologe, wissenschaftlich publizierender Ornithologe und Co-Autor von "Der Kuckuck – Gauner der Superlative", eines der eindrucksvollsten kürzlich erschienenen Bücher über den Kuckuck, spricht von der Erforschung der evolutiven Strategie des Brutparsitismus. Der Evolutionsforscher und Papst der Kuckucksforschung, Nic Davies aus Cambridge, hat sie als "arms race", als Rüstungswettlauf charakterisiert.
"Es passiert evolutionär unglaublich viel, weil die Parasitierung für die Wirte natürlich einen extremen Nachteil darstellt, einen evolutionären Nachteil. Und das ist ein Rad, das in ständiger Bewegung ist, wo es auf beiden Seiten, sind ja zwei Kontrahenten, zu immer weiter entwickelten und verfeinerten Mechanismen kommt, den Anderen zu überwinden oder auszutricksen und diesen Prozess nennt man Co-Evolution, hier im Konflikt, also es kann nur einer gewinnen. Es sind evolutionäre Prozesse, die in Zeiträumen von 10, 20 Jahren ablaufen können."
Ein ausgewachsener Kuckuck in Rheinland-Pfalz.
Ein ausgewachsener Kuckuck in Rheinland-Pfalz.© imago/blickwinkel

Ein Biologielehrer mit Rauschebart

"Mach hier mal auf, dass ich besser hören kann. Du hast ihn auch fliegen sehen, ja? Ich glaub, ich hör da drüben zwei und da drüben den dritten; jedenfalls ist jetzt schwer was los hier. Auf der linken Spitze vom Busch sitz er, guck genau hierher, sei bloß vorsichtig. Ah jetzt, jetzt, jetzt er reckt den Hals, er reckt den Hals guckt zum Präparat."
Karsten Gärtner, ein pensionierter Biologielehrer, klein, drahtig, lange Haare, Rauschebart und immer mit einem Stock unterwegs, um sich den Weg durch schilfbestandene Ufersäume oder Brennnesselteppiche zu Wirtsnestern mit möglichen Kuckuckseiern zu bahnen. Er hat über den Kuckuck promoviert und kartiert seit gut 40 Jahren Kuckucke im Umland von Hamburg. Sein heutiger Beobachtungsposten ist ein Auto, gut mit einem Netz drüber getarnt. Es steht mitten in einer flachen Weidelandschaft unweit der Landesgrenze von Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen: Büsche und Gehölzgruppen soweit das Auge reicht, durchzogen von Entwässerungsgräben, da und dort Pappeln, Weiden, Erlen.
"Zu Dritt sind die eben hier noch rum; ist ja Wahnsinn, da ist ja mehr los als am See."
Mit einem Lautsprecher auf dem Autodach, über den Kuckucksrufe abgespielt werden und einem auf einer hohen Stange aufgesteckten ausgestopften Kuckucksweibchen versucht Karsten Gärtner Kuckucke anzulocken. Es dauert wenige Minuten und schon umfliegen gleich drei aufgeregt das Auto. Der Triller des Weibchens, der etwas aus dem Takt geratene Gesang des Männchens und sein Fauchen und Bellen sind zu hören.


Prächtig präsentieren sich die etwa taubengroßen Kuckucke in ihrem eleganten schnellen Flug oder auf Sitzwarten in nahen Büschen und Bäumen. Auffällig ist der kleine Kopf mit dem leicht gebogenen spitzen Schnabel, der meist hoch aufgestellte Schwanz und die nach unten gerichteten Flügelspitzen. Das teils gebänderte Federkleid changiert in Grau- bis Weiß und Rötlichbraunen Tönen. Das Weibchen sitzt etwas entfernt auf einem Weißdornbusch. Sein selteneres rostbraunes Gefieder macht es zu einer Art Turmfalkendouble wogegen eine graue Variante des Kuckucksweibchens eher einen Sperber vortäuscht – Greifvogel-Mimikry, um Wirtsvögel in Angst und Schrecken zu versetzen. Kampfphase eins.
"Wenn die Wirtsvögel ihr Nest bauen und hören in der Umgebung schon den rufenden Kuckuck, dann sind sie alert. Sie suchen sich als allererstes einen Nistplatz oder Neststand aus, der für den Kuckuck weniger gut erreichbar ist, als wenn sie's täten, wenn kein Kuckuck da wäre. Das wäre ein erster Schutzmechanismus. Wenn die Wirte dann zweitens den Kuckuck hören und eventuell auch fliegen sehen, sind sie vielmehr alert und passen auf, ob ihr Nest parasitiert wird. Sie bewachen es intensiver."
Ein Kuckuck mit einem Blatt im Schnabel. 
Auffällig bei einem Kuckuck ist der kleine Kopf mit dem leicht gebogenen spitzen Schnabel.© imago/blickwinkel

Fünf Sekunden für die Eiablage

Es kann auch zu Luftkämpfen zwischen potentiellem Wirt und Kuckuck kommen, um den Parasiten zu vertreiben. Es gibt nachgewiesene Fälle in Ungarn, weiß der Ornithologe Karl Schulze-Hagen zu berichten, in denen ein Kuckucksweibchen von Drosselrohrsängern so angegriffen wurde, dass es im Wasser landete und ertrank. Die nächste Etappe im Kampf von Kuckuck und Wirt wird meist durch Flüge und Rufe des Kuckucksmännchens nahe am Wirtsnest eingeleitet, um die Wirtseltern vom Nest abzulenken, sodass das Weibchen zur blitzschnellen Eiablage ins fremde Nest kommt.
"Er muss zum richtigen Zeitpunkt sein Ei legen, nämlich während der Legephase seiner Wirte; er kann's ja nicht später legen, dann sind die Wirtseier ja schon bebrütet und hätten einen Entwicklungsvorteil und er muss unglaublich schnell sein Ei legen, das heißt, das Kuckucksweibchen fliegt auch antizyklisch abends, wenn die Wirte auf Nahrungssuche sind zum ausgespähten Wirtsnest, nimmt ein Wirtsei mit seinem Schnabel, legt sein eigenes Ei ins Wirtnest, das dauert fünf Sekunden vielleicht und fliegt weg."
Das gestohlene Wirtsei wird vom Weibchen gefressen, ein energiereicher Extrahappen für die betrügerische Nesträuberin. Aber damit nicht genug des evolutionären Wettrüstens, mit dem der Brutparasitismus zur erfolgreichen Strategie wurde:
"Kuckucke legen nur alle zwei Tage ein Ei, während die Wirtsvögel ja täglich ein Ei legen und sie haben also für die Entwicklung ihres Eies einen Zeitraum von 48 Stunden und dabei setzt schon ein interne Bebrütung an, die bei anderen Vögeln in der Form nicht existiert. Ab Befruchtung bleibt das Ei insgesamt 48 Stunden im weiblichen Körper. Und damit haben die Embryonen der Kuckucke einen Entwicklungsvorsprung von mehr als einem Tag, das heißt, die Brutzeit der Kuckucke ist, obwohl sie zehn mal so groß sind wie die Wirtsvögel, kürzer als die Bebrütungszeit von Wirtsvögeln."


Auch hormonelle Faktoren sorgen dafür, dass sie sich schneller entwickeln, sprich, der junge Kuckuck schlüpft schneller als seine Wirtsgeschwister. An die Wirtseier angepasst, sind Kuckuckseier deutlich kleiner, als es der Körpergröße des Kuckucks entspräche. Und der evolutionären Wunder im Kampf zwischen Wirt und Parasit, die in Wirklichkeit strikten Regeln der Selektion folgen, ist kein Ende: Die Eischale eines Kuckucks ist etwa doppelt so dick, wie die eines Wirtsvogels.
"Oft fällt das Ei von oben nach unten ins Nest und es soll natürlich dabei nicht beschädigt werden. Der zweite Aspekt ist vielleicht noch viel wichtiger: die Wirtseltern, die das Kuckucksei als fremd erkennen, wollen es entfernen und das tun sie, indem sie versuchen, die Eischale aufzuhacken. Das geht schwerer, wenn die Schale kräftig ist und wir kennen bei den Wirten einige, die sehr leicht imstande sind, das fremde Ei aufzuhacken. Das sind Wirte mit einem kräftigen Schnabel, zum Beispiel der Drosselrohrsänger."
Ein vom Sumpfrohrsänger aufgehacktes Kuckucksei.
Ein vom Sumpfrohrsänger aufgehacktes Kuckucksei. © Deutschlandradio / Anselm Weidner

"Hier wurde ein anderes Ei zerstört"

Mit seinem Stock stapft Kuckucksforscher Karsten Gärtner durch dichten Brennnesselbewuchs oberhalb der Uferböschungen der kanalisierten Boize. Ein dicht besiedeltes Sumpfrohsängerhabitat und damit für Kuckucke interessant.
"Der Sumpfrohrsänger der brütet am liebsten in Brennnesseln und hier ist ein Revier neben dem anderen."
Der Hobby-Forscher entdeckt etwa 30 Zentimeter über dem Boden, zwischen Brennnesselstengeln aufgehängt, ein Nest mit drei weiß-braungefleckten Sumpfrohrsänger-Eiern, etwa anderthalb Zentimeter groß.
"Hier, wenn man genau hinguckt, kann man erkennen, dass da etwas Eigelb an dem Ei klebt und das ist ein Zeichen dafür, dass hier ein anderes Ei zerstört wurde; ich vermute mal ein Kuckucksei. Manchmal findet man so ein Ei am Boden noch. – Ja da ist es ja, hier.- Da ist es. Und das ist dann aufgehackt worden. Der Sumpfrohrsänger erkennt seine Eier sehr genau und wirft fremde Eier raus – 80 Prozent ungefähr werfen Kuckuckseier raus."
Meist erkennt der Sumpfrohrsänger die in Färbung und Größe zum Verwechseln ähnlichen Kuckuckseier in seinem Gelege und er ist stark genug, die dicken Kuckuckseierschalen aufzuhacken.


Unglaublich aber wahr: Kuckuckseier in Nestern des Gartenrotschwanzes sind ebenso türkisgrün wie dessen Eier, in Nestern des Teichrohrsängers sind sie, wie die des Wirts, beige und braungesprenkelt, in Nestern des Sumphrohrsängers entsprechend eher grau mit braunen Sprenkeln. Kuckuckseier passen sich in aller Regel in ihren Färbungen den Eiern der jeweiligen Wirtseltern an. Ei-Mimikry – eine entscheidende Waffe des Parasiten im wechselseitigen Abwehrkampf. Über Jahrtausende, Jahrhunderte oder auch nur über Jahrzehnte haben sich Kuckucksweibchen auf bestimmte Wirtsarten spezialisiert.
"Wir haben in den weiblichen Linien unterschiedliche Stämme, die wissenschaftlich gens, gentes genannt werden. Ein Kuckucksei ist in ein bestimmtes Wirtsvogelnest gelegt worden, ich sag mal das Nest einer Bachstelze oder eine Rotkehlchens oder eines Rohrsängers. Da schlüpft es und wird von den Wirtseltern aufgezogen. Und in dieser Phase findet tatsächlich ein gewisse Prägung statt, sowohl auf die Wirtseltern, auf deren Nest und auf deren Lebensraum. Und das ist wichtig für die zunehmende Spezialisierung solcher Kuckucksweibchen. Es macht nämlich einen Unterschied aus, ob ein Kuckucksweibchen sein Ei in die Nester verschiedener Arten legen würde.
Sumpfrohrsängereier mit Eigelbspuren auf einem Ei.
Sumpfrohrsängereier mit Eigelbspuren auf einem Ei.© Deutschlandradio / Anselm wWeidner

Junge Kuckucke passen sich Wirtseltern an

Das ist ein Nachteil. Je besser die Spezialisierung auf einen Wirt vorhanden ist, umso größer ist der Erfolg für die eigenen Nachkommen. Und weil diese Prägung existiert, wird also ein Kuckucksweibchen, das bei Bachstelzen groß geworden ist, immer wieder versuchen, seine Eier, wenn es selbstständig ist, zu Bachstelzen und zu niemand Anderen sonst zu legen. Die jungen Kuckucke passen sich, wie wir heute wissen, viel detaillierter an die Wirtseltern an, als wir vorher je gedacht haben. Sie ahmen sogar die Stimmen der Stiefgeschwister nach, was einen Vorteil hat in der Akzeptanz durch die Eltern."


Wie kann aber ein Kuckucksstamm erhalten bleiben, wenn sich die auf eine Wirtsart hochspezialisierten Kuckucksweibchen mit den nichtspezialisierten Männchen paaren? – Der Evolutionsforscher, Ornithologe und Kuckucksspezialist Bard Gunnar Stokke vom Norwegischen Institut für Naturforschung in Trondheim.
"Wir denken, dass die Gene für die Eifarbe, Eiform usw. sich auf dem weiblichen Chromosom befinden. Das heißt, sie werden von Weibchen zu Weibchen vererbt und das Männchen hat damit gar nichts zu tun. Kuckucksmännchen können sich mit jedem Weibchen paaren, egal welcher genetischen Linie es angehört. Denn die Stammeseigenschaften werden nur vom Weibchen vererbt."
Und doch gibt es auch für die Männchen Prägungen durch die Wirtsvögel und ihr Habitat, so der Buchautor Karl Schulze-Hagen:
"Und da wissen wir, egal ob weiblich oder männlich, die in einem bestimmten Nest bei bestimmten Wirtsvögeln oder in einem bestimmten Lebensraum aufgewachsenen Jungvögel zeigen eine spätere Präferenz für diesen Lebensraum, das bedeutet auch, dass selbst die männlichen Kuckucke eine stärkere Bindung an ihren Lebensraum haben, zum Beispiel Röhricht im Vergleich zu Heckenlandschaft oder zu Wald, sodass es zu sogenannten assortativen Verpaarungen kommt; die sind eben nicht zufällig gleichverteilt, sondern da finden sich jeweils die richtigen Partner von vornherein."
Ein junger Kuckuck wird im Nest von einem Teichrohrsänger gefüttert, Niedersachsen.
Ein junger Kuckuck wird im Nest von einem Teichrohrsänger gefüttert, Niedersachsen.© imago/blickwinkel

"Das ist Teil des evolutionären Prozesses"

Solche Fälle sind zwar bisher nicht bekannt, wohl aber wurden Wirtswechsel und sich daraus entwickelnde Neuprägungen der Kuckucksweibchen in kürzester Zeit beobachtet.
"Wir haben ein tolles Beispiel aus Japan. Da gibt es in der Gegend von Nagano Kuckucke, die zunächst Rohrsänger und Ammern, ich glaube, es ist die Wiesenammer, parasitiert haben und innerhalb von zehn Jahren haben, möglicherweise durch Versehen, einzelne Kuckucksweibchen ihre Eier zu Blauelstern, also ein ganz anderer Vogel, ein größerer Vogel, der nicht mal in das typische Wirtsspektrum unseres Kuckucks passt, die haben ihre Eier also dahin gelegt und die sind ausgebrütet worden und innerhalb von zehn,15 Jahren waren 70 Prozent der Blauelsternpopulationen von Kuckucks parasitiert."
Der Beginn eines langen evolutiven Prozesses, ergänzt der norwegischen Kuckucksforscher Bard Gunnar Stokke
"Weil Wiesenammern so stark abgenommen haben, waren die Kuckucke wahrscheinlich gezwungen, einen anderen Wirt zu finden. Aber zur Eimimikry ist es in den 20,30 Jahren seit dem Wirtswechsel noch nicht gekommen. Das braucht lange. Sicher ist, dass Kuckucksküken, die jetzt in Blauelster-Nestern aufwachsen, so geprägt werden, dass sie wieder Blauelster-Nester parasitieren werden. Das ist der Beginn des Entstehens eines neuen Kuckucksstammes und Teil des evolutionären Prozesses."

Hat der Kuckuck noch eine Chance?

"Dieser See hat rundum einen Schilfgürtel, das heißt, überall leben Teichrohrsänger, ich schätze das mal so auf 40-50 Paare und rundum sind auch Bäume, von denen der Kuckuck aus beobachten kann, besser gesagt das Kuckucksweibchen. Also wenn das Weibchen so 20 Eier legt im Jahr, die könnte es hier unterbringen."

Im Volksmund heißt der Teichrohrsänger Rohrspatz. Er ist in diesem Revier die einzige Wirtsart für den Kuckuck. Hier macht Kuckuckskenner Karsten Gärtner. Jahr für Jahr ab dem 20. Mai, dem Beginn der Teichrohrsängerbrutzeit, sechs Wochen lang Tag für Tag seine Kontrollgänge im Schilfgürtel:
"Nest 24 geh ich jetzt hin. – Da ist das Nest. War'n gestern zwei Eier, muss ich kontrollieren: drei Eier, hat also heute das dritte Ei gelegt, ganz normal, wird noch ein viertes legen und dann brütet er. – Gibt's dann eigentlich noch ne Chance für den Kuckuck? – Ich denke nein. Gestern am zweiten Legetag hätte der Kuckuck tauschen müssen. Morgen ist schon vierter Legetag. Ich glaub nicht."
Teichrohrsänger füttert ein Kuckucksküken mit einer Libelle. 
In manchen Revieren ist der Teichrohrsänger die einzige Wirtsart für den Kuckuck.© imago/blickwinkel

Monsterbaby im schwarzweißen Federkleid

30 Teichrohrsängernester hat Karsten Gärtner in diesem Jahr rund um seinen Hauptbeobachtungsgebiet, einem kleinen schilfumstandenen See im Lauenburgischen ausgemacht. In jedem Nest könnte sich das brutparasitäre Drama abspielen.
Ins Schilf hat Karsten Gärtner ein Beobachtungszelt auf eine Holzpalette einen knappen Meter vor Nest Nr. 5 aufgestellt.
Vor zwölf Tagen ist hier ein Kuckucksküken geschlüpft. Da hockt das Monsterbaby in seinem schwarzweißen rudimentären Federkleid auf dem kunstvoll aus Grashalmen und Pflanzenwolle um vier Schilfhalme gewebten Nest. Es ist längst viel zu klein für das Riesenbaby; Flügel und Schwanz ragen schon deutlich über den Nestrand.
Die unermüdlichen Teichrohrwirtseltern fliegen im Minutentakt durchs Schilfröhricht heran, hüpfen mit Mücken, Schaben, Läusen, Käferchen oder kleinen Libellen im Schnabel zum Nest mit dem nimmersatten Riesenküken. Das sperrt, am ganzen Körper vibrierend, seinen orange-rot leuchtenden Rachen auf und bettelt und bettelt.
"Ein junger Kuckuck beim Ausfliegen wiegt um die 100 Gramm und kleine Wirtseltern wiegen um die zehn Gramm und braucht natürlich deutlich mehr Futter als eine Wirtsbrut mit vier oder fünf Jungen. Er ist imstande, seine Wirte anzutreiben, dass sie ihn maximal füttern."
Die Köpfchen der zierlich-emsigen Stiefeltern verschwinden zur Hälfte im Kükenrachen, wenn sie die Insektennahrung nachstopfen. Der kleine Kuckuck kann noch nicht schlucken. Anschließend hebt er sein Hinterteil und das weiße Kotsäckchen wird vom Teichrohrsänger fortgeschafft. – In neun Tagen wird das Küken flügge sein.

Der brutparasitäre Kampf ist noch nicht zu Ende

Rückblende: Der brutparasitäre Kampf ist mit der erfolgreichen Eiablage im Wirtsnest durchaus noch nicht zu Ende. Überlebt das Kuckucksei, braucht das Küken ca. 24 Stunden, um mit seinem Eizahn die Schale von innen aufzubrechen. Und schon vier bis zehn Stunden danach beginnt das erschöpfte, noch nackte Küken mit seinem genetisch tief verankerten Mordprogramm.
"Der junge Kuckuck ist ein blindes fragiles Etwas, das noch nicht mal seine eigene Temperatur regulieren kann, also die Nestwärme seiner Wirte benötigt, um aktiv sich körperlich zu bewegen. Und unter dem brütenden, bzw. hudernden Altvogel schiebt es die Wirtseier bzw. die Wirtsjungen die steile Nestwand hoch, um sie mit einem Kick aus dem Nest zu befördern."


Der Brutparasitismus in der Vogelwelt ist eine hochkomplexe, Jahrmillionen alte und relativ seltene Strategie der Evolution. Bard Gunnar Stokke:
"Wir wissen, dass einige Brutparasiten Millionen Jahre alt sind. Also das ist eine Strategie, die sich vor Urzeiten entwickelt hat und wir wissen auch, dass sie in der Evolutionsgeschichte sechs Mal unabhängig voneinander entstanden ist. Eine komplizierte Fortpflanzungsstrategie und nur ein Prozent der weltweit etwa 10.000 Vogelarten sind obligatorische Brutparasiten. Zweimal hat sich Brutparasitismus bei Kuckucken entwickelt, es gibt ihn bei Kuhvögeln in Amerika, einer Entenart in Südamerika, bei der Schwarzkopfente und auch bei einigen Finkenarten. "
Wie immer sich der Brutparasitismus über Jahrmillionen der Evolution entwickelt hat, er ist eine erfolgreiche Strategie der Brutpflege, die sich deshalb durchgesetzt hat.
"Ein normales Vogelpaar, Zugvogelpaar, das nach Afrika zieht, baut ein Nest, legt im Schnitt vier bis fünf Eier, macht nur eine Brut und hat dann am Ende vier oder fünf Junge; mögliche Brutverluste müssen abgezogen werden. Es gibt einige, die vielleicht zwei Bruten machen, dann haben sie eben acht Junge. Der Brutparasit Kuckuck ist aber imstande 25 Eier zu legen. Das tun längst nicht alle Weibchen; aber im Schnitt mögen es zwölf, 14 sein, das heißt, sie haben eine größere Gelegezahl als die Wirtsvögel und das ist natürlich eine Chance aus dem Brutparasitismus heraus."
Ein größeres Kuckucksei im Nest eines Teichrohrsängers, Bayern.
Ein größeres Kuckucksei im Nest eines Teichrohrsängers, Bayern.© imago/blickwinkel

Diese Kuckuckslinie ist so gut wie verschwunden

Bei allem Erfolg des Brutparasiten Kuckuck, es gibt Singvogelarten, die es geschafft haben, ihn ganz loszuwerden, wie zum Beispiel die hierzulande häufigste Singvogelart, der Buchfink. Ähnlich bei Neuntötern. Innerhalb der letzten 20, 30 Jahre hat deren Ablehnungsrate von Kuckuckseiern so zugenommen, dass es heute kaum noch Neuntöter-Kuckucke gibt. Diese Kuckuckslinie ist so gut wie verschwunden. Das sind normale evolutionsbiologische Entwicklungen, die den Bestand der außergewöhnlichen Vogelart Kuckuck nicht bedrohen. – Aber sie ist bedroht, wie jüngste Zahlen belegen.
"Seit 1850 wird der Bestand offiziell als stetig abnehmend eingeschätzt. Wir haben genauere Daten seit 1990. Seitdem hat der Bestand des Kuckucks um etwa 17 Prozent bis 2015 abgenommen. Aufgrund des stetig abnehmenden Bestandes ist der Kuckuck auch in der Roten Liste gefährdeter Brutvogelarten geführt und zwar in der Vorwarnliste."
Lars Lachmann, Referent für Ornithologie und Vogelschutz beim Naturschutzbund Deutschland.
Bisher tappen die Vogelpopulationsforscher noch im Dunkeln, welches die Gründe für den rapiden Rückgang der Kuckucke im letzten Jahrzehnt sind. Der Klimawandel, immer weniger Insekten? Kürzlich hat der NABU die offiziellen Vogelbestandsdaten weitverbreiteter Arten wie Bachstelze, Buchfink oder Star und potentieller Wirtsvogelarten in der sog. Normallandschaft, sprich dem Agrarland, ausgewertet.
"Bei diesen Vogelarten konnten wir feststellen, dass in nur zwölf Jahren der Gesamtbestand dieser Vögel um 15 Prozent abgenommen hat. Das ist also ein sehr starker Rückgang. Könnte also sein, dass eine ganz einfache Erklärung für den Rückgang des Kuckucks ist, dass seine Wirtsvogelarten abnehmen."
Einen spezifischen Schutz für den Lebensraumgeneralisten Kuckuck gibt es nicht. Aber indem man sich für die Verlangsamung des Klimawandels und eine naturverträgliche Landwirtschaft einsetzt, kann man ihn schützten.
Von all dem unbeeindruckt kartiert Karsten Gärtner stoisch seine Kuckucke im Lauenburger Land weiter. Jahr für Jahr überträgt er nach jedem Kontrollgang Zahlen von seinem Notizbüchlein in eine handgezeichnete Tabelle:
"15.Juni, geht es los mit Nest 27, ein Ei; da waren am Vortag keine Eier drin; das heißt, er hat am 15.6. mit dem Legen begonnen; Nest 23 vier Eier, wie schon am vorigen Tag. Der brütet also schon; Nest 24 drei Eier; da hätte der Kuckuck noch legen können, ist aber nicht."
Und wofür das Ganze?
"Es ist alles festgehalten, zum Teil veröffentlicht; ja es ist also eine riesige Datenmenge, das ist wahr."
Der Kuckucksdokumentarist aus Passion ist kein Freund von vielen Worten. Aber seine Langzeitdaten helfen den Vogelkundlern, effektive Strategien zum Schutz dieses einzigartigen Vogels in Mitteleuropa zu entwickeln.
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