Zum Kindeswohl
Die Stadt Dormagen in Nord-Rhein-Westfalen brauchte keinen gesetzlich geregelten "Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung". Die Initiative aus dem Berliner Bundesfamilienministerium ist hier schon lange Praxis.
Heinz Hilgers, Bürgermeister der Stadt und seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, hatte die Notwendigkeit einer frühzeitigen Betreuung schon vor Jahren erkannt und sie in dem "Dormagener Qualitätskatalog der Jugendhilfe" festgeschrieben.
"Es geht um eine Mutter, die zwei Kinder hat, jetzt grade ein Neugeborenes im Januar geboren, und eine ältere Tochter, die beim Vater lebt."
Acht Sozialarbeiterinnen beraten einen neuen Fall. "Es brennt", sagt Marita Scherp-Holzberg.
"Wobei in der Vergangenheit die älteste Tochter wohl körperlich recht gut versorgt war. Also die hatte wohl einigermaßen genug zu essen. Und Anziehsachen waren auch da. Aber es gab halt so Fälle, dass die mit zwei Jahren nackig draußen durch die Gegend lief und die Nachbarn dann ne Meldung zum Jugendamt gegeben haben."
30 Jahre alt, ohne Berufsausbildung. Die Mutter lebt allein. Ihr erstes Kind hat der Vater aufgenommen. Wie wird sie ihr zweites behandeln?
"Ergebnis der kollegialen Beratung: erstmal in Beziehung treten und im Prinzip ein Clearing machen, zu gucken: Was kann die Mutter tatsächlich leisten? Ja ne Entscheidung treffen, möglichst rasch: Ob ne Entwicklung möglich ist, ob man pädagogisch arbeiten kann..."
Oder ob der Mutter auch das zweite Kind genommen werden muss. – Ein klassischer Fall fürs Jugendamt. Marita Scherp-Holzberg und ihr Team arbeiten aber nicht bei der Behörde, sondern bei den Verbänden der Wohlfahrtspflege: Caritas, Arbeiterwohlfahrt und Diakonisches Werk. Die acht Frauen leisten so genannte "flexible erzieherische Hilfen". Im Auftrag des Jugendamts der Stadt Dormagen.
"Paragraph 8a im Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung.
Zitat: Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen."
Missbrauchsfälle, die zu spät erkannt werden, überforderte Jugendämter, tote Kinder. Der Gesetzgeber versucht gegenzusteuern und nimmt seit 2005 alle Träger und Einrichtungen der Kinder– und Jugendarbeit mit in die Pflicht, Verantwortung für das Kindeswohl zu tragen. Allerorten werden nun Netzwerke für den Kinderschutz aufgebaut. Sozialverbände, Ärzte, Schulen und Kindergärten sollen mit den Jugendämtern zusammenarbeiten. Das ist in Dormagen schon länger so. – Denn: "Zur Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes." Ein afrikanisches Sprichwort, ein Lieblingssatz von Heinz Hilgers, Dormagens Bürgermeister.
"Dormagen ist meine Heimat. Das ist eine Stadt mittendrin im Leben so zwischen Köln und Düsseldorf. Natürlich geprägt durch die chemische Industrie …"
Eine Fußgängerzone, wie sie überall sein könnte. Ein paar Marktstände, ein Straßenmusikant spielt Flöte. Ältere flanieren gemächlich, Mütter mit Kinderwagen eilen mit dem Einkauf vorbei. 65.000 Einwohner hat Dormagen. Hauptarbeitgeber ist der Chemiepark auf dem riesigen Gelände des ehemaligen Bayer-Werkes. Siebeneinhalb Prozent der Menschen sind arbeitslos. Viele davon auf lange Zeit, ohne Ausbildung, Hartz-IV-Empfänger. Dormagens Eckdaten sind nicht Aufsehen erregend. Und doch macht die nordrhein-westfälische Stadt positive Schlagzeilen – mit erfolgreicher Jugendhilfe, mit aktivem Kinderschutz. Aus eigenem Ansporn.
"Weil wir mit Mut und mit großer Kreativität die Probleme angehen. Ich hab gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Manchmal reicht das einfach, wenn ich die ihre Ideen umsetzen lasse. Manchmal hab ich dann auch ne gute Idee. Wir sind früh da, weil alle wissen, jede frühe Hilfe ist kostengünstig und wirksam und jede später Hilfe ist sehr teuer und sehr, sehr oft unwirksam."
Dormagens Bürgermeister kennt das Metier. Bis 1985 war er selbst Jugendamtsleiter, dann unter Johannes Rau Sprecher der Landes-SPD für Familienpolitik. Heinz Hilgers, 58 Jahre alt, trägt das Logo des Kinderschutzbundes am Revers. Seit 15 Jahren ist er dort Präsident. Scharf kritisiert der stattliche Mann mit strenger Bassstimme eine Jugendhilfe, die Kinder nicht schützen kann.
"Aber ich würde sie nicht auf die Mitarbeiter in den Jugendämtern fokussieren. Sondern wir haben ne Situation, wo sich viele Städte in einem Teufelskreis befinden. Das sind die Städte, in denen ist die Arbeitslosigkeit hoch, in denen gibt es dadurch viele Risikofamilien und dadurch sind aber auch deren Steuereinnahmen niedrig. Und im Ergebnis kürzen sie dann bei der Prävention. Bei den freiwilligen Ausgaben, wo nicht ne unmittelbare gesetzliche Verpflichtung besteht."
Prävention. Früh in den Familien sein und sie unterstützen, bevor sie in Not geraten. Die jüngste Dormagener Idee dazu geht tatsächlich auf das Konto des Chefs. Heinz Hilgers hat sie sich in Dänemark abgeschaut. Jedes Neugeborene erhält ein Babybegrüßungspaket, persönlich überbracht, vom Jugendamt. An der Haustür steht Martina Hermann.
"Hallo, guten Tag, Martina Hermann…
…Schön, dass wir kommen dürfen…"
Martina Hermann betritt die gute Stube. Eine schlanke Frau in Jeans und bunter Jacke, mit frischem Auftritt. Sie beugt sich kurz über die Wiege im Esszimmer. Das Baby schläft. Die Mutter bittet auf die Eckcouch und bietet Kaffee an.
"Herzlichen Glückwunsch erst mal zu ihrer Tochter – wir sind ja wat spät, normalerweise kommen wir früher."
Die Frau vom Jugendamt leert die mitgebrachte Begrüßungstasche und legt auf den Sofatisch: Ein Märchenbuch und einen Brandmelder, die von Firmen gestiftet wurden, eine Zahnbürste vom Gesundheitsamt und einen Ordner – das Elternbegleitbuch "Willkommen im Leben"
"Dann sind hier Hilfen aufgelistet und allgemeine Informationen, zum Elterngeld, zum Erziehungsgeld. Da sind auch Anträge drin …"
Die Liste der Formulare und Adressen ist lang. Wohngeldantrag. Babysitter. Tagesmütter. Dazu Gutscheine fürs Hallenbad und eine Schnupperstunde für Babys in der Musikschule.
"Ihre erste Reaktion: Haben Sie gedacht, jetzt wollen die bei uns gucken, ob alles in Ordnung ist oder was haben Sie gedacht?
Ich denk schon, dass das Teil eurer Idee ist, ja, aber hier ist ja auch das Begrüßungsgeschenk.
Wir besuchen ja jede Familie, ganz egal wer das ist, ob deutsch oder türkisch oder russisch, oder allein erziehend, oder erstes Kind, oder drittes Kind, ob arm ob reich… Das ist in aller Regel so, dass die Familien erstmal total glücklich sind, wenn sie Nachwuchs haben, und alles ist in bester Ordnung. Und trotzdem kann es sein, dass irgendwann mal was Unvorhersehbares passiert oder ein Schicksalsschlag kommt...Und wichtig ist uns dann, dass Sie a) Informationen haben und b) vielleicht auch ein Gesicht in Erinnerung.
Wenn was nicht stimmt mit dem Kind, wenn die Eltern net gut sind zu den Kindern, dann muss das Jugendamt kommen, hat so nen kleinen bösen Ruf, und ich denk, das Image kann man jetzt ganz schön widerlegen mit dem Besuch und ich find dat sehr nett, sehr freundlich."
Nichts Besonderes, nichts Auffälliges. Der Laufzettel zu diesem Neugeborenen wird abgeheftet. Martina Hermann fährt zurück ins Büro.
Das Dormagener Rathaus ist ein moderner Zweckbau am Marktplatz – im Erdgeschoss befindet sich das Bürgerbüro, ganz oben im dritten Stock residiert der Bürgermeister. Das Jugendamt im ersten Stock…
"Ist erstmal nicht wirklich einladend. … es sind lange Gänge, relativ steril – leider sitzen in vielen Büros zwei Kollegen, das ist auch nicht so günstig. Wenn Eltern sich beraten lassen wollen, dann geht es oft um sehr intime und heikle Themen, und das ist nicht ganz glücklich, aber die Raumnot zwingt uns dazu."
Ein Besprechungsraum ist nun der Kompromiss. An den Wänden im Flur hängen die Kunstwerke von Drei- und Vierjährigen – Wale, Kugelfische, Leuchtfische in Blau und Grün. Das Büro des Kinderpflegedienstes hat einen Kaufladen, hier und dort hängen Mobiles und Hexen von der Decke. Familien sollen willkommen sein.
"Wir haben ganz viel an unserer Haltung gearbeitet, an unserem Zugang zu den Menschen, wie wir es schaffen, den Menschen die Angst von uns zu nehmen."
Die Öffnung der Zugänge – schon im Vorfeld der Hilfe. Diese Maxime haben die Dormagener an die Spitze ihrer Arbeit gestellt. Zitat:
"Auf diejenigen, die Hilfe wollen und brauchen, zugehen.
Outreach – mit der Hilfe hinausreichen.
Rheinisch: Dä Fahn russhänge! Vgl. BAP, Kölner Rockgruppe"
Das heißt im Alltag: Pressearbeit, Infobroschüren, regelmäßige Kontakte zu den Partnern der Kinder- und Jugendarbeit. Auch zu Unzeiten erreichbar sein. Sich einladend und kundenfreundlich verhalten.
"Keine Großraumbüros. Dass man das Einmaleins des guten Tons beherrscht. Hört sich komisch an, aber ich find, wir sind alles Menschen, und dass jeder eben nur vielleicht in unterschiedlichen Lebenslagen ist. Probleme werden ernst genommen und wichtig ist: Dass man gemeinsam kuckt: Was ist denn da, was möchte denn die Familie verändern?"
Das Jahr 1998 brachte in Dormagen den großen Schub. Die Sozialarbeiter vom Jugendamt und die Fachkräfte von den Wohlfahrtsverbänden waren damals unzufrieden mit der Kooperation. Sie baten den Berliner Sozialexperten Professor Reinhard Wolff um Unterstützung, und auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Vorgesetzten legten sie dann selbst die Richtlinien für ihre Arbeit fest. Im ersten deutschen Qualitätskatalog der Jugendhilfe. Drei Jahre lang studierten die Kinder- und Jugendhelfer neue Literatur. Diskutierten, saßen nächtelang zuhause am PC.
"Wofür werden wir eigentlich bezahlt, und was wird von uns erwartet und wie stellen wir uns gemeinsam auf für Familien?"
Für 23 Bereiche der Jugendhilfe sind in dem Dormagener Katalog Qualitätsstandards formuliert. Wie verhalten wir uns im Umgang mit Fremdmeldern – ohne die Jugendhilfe nicht funktionieren kann? Wie arbeiten wir mit unfreiwilligen Klienten? Wie wird bei Trennung und Scheidung beraten? – Jeder Bereich ist nach Schema behandelt: Die Aufgabe. Rechtliche Grundlagen. Probleme. Dann die Zielvorgaben und die Schritte dahin. Die laufend dokumentiert und hinterfragt werden müssen.
"Kapitel Kinderschutz. Vorfeldarbeit: Da die beiden wichtigsten Faktoren der Kindeswohlgefährdung Armut sowie die unzureichende Bereitschaft und Möglichkeit der Erwachsenen, sich auf Kinder und deren Bedürfnisse einzulassen, sind, ist präventive Arbeit notwendig. Das heißt: Die Fachkräfte (…) übermitteln ihre Ergebnisse über bestehende soziale Notlagen den Leitungskräften ihrer Einrichtungen sowie den politischen Entscheidungsträgern. (…) Insbesondere entwickeln die Fachkräfte präventive Hilfeprogramme vor allem für junge Familien und deren Kinder. (…) Ihre Hilfen orientieren sich im Besonderen an den Lebensbedürfnissen und Belastungen von Familien, deren Kräfte und Ressourcen sie mobilisieren wollen. Die Hilfen werden offensiv bekannt gemacht."
Andrea Bierewirtz ist auf dem Weg zu einem HOT-Einsatz. Ein Haushalts-Organisations-Training. Im Stadtteil Horrem, einem der sozialen Brennpunkte Dormagens, besucht sie Frau Weisensee in einem tristen Wohnblock.
"Guten Morgen Frau Weisensee… Hui, das ist aber ein Anblick, das Bügelbrett hier. Wie kommt es denn, dass Sie jetzt schon bügeln oder noch bügeln? …
Ich hab erst grad fertig gebügelt, staubsaugt, ausgefegt, schon durchgewischt,… uiui"
Erziehungshelferin Andrea Bierewirtz setzt sich erstmal zu Frau Weisensee an den Esstisch. Der steht mitten im kleinen Flur einer Vier-Zimmer-Wohnung. Frau Weisensee hat einen 12-jährigen Sohn und eine 14-jährige Tochter. Vor knapp zwei Jahren verließ ihr Mann die Familie. Frau Weisensee hielt erst noch alles in Gang…
"Dann kam so ein kleiner Einbruch … und dann kam auch von Marcel die Grundschullehrerin drauf, dass ich Hilfe annehmen könnte."
Der Sohn stürzte in der Schule ab, und die Lehrerin informierte das Jugendamt. Nun kommt Andrea Bierewirtz zweimal die Woche für zwei Stunden.
"Machen Sie mir dann auch schon ein Eimerchen fertig?"
Das Haushalts-Organisations-Training ist ein Angebot des katholischen Caritasverbandes. Eine Idee aus Freiburg, auf die Dormagen vor drei Jahren aufmerksam wurde. Das Jugendamt bezahlt. Denn wenn der Haushalt verwahrlost, lässt oft aller Antrieb nach. Die Kinder werden nicht rechtzeitig geweckt, bekommen kein ordentliches Frühstück. Verwahrlosen selbst. Das Kindeswohl ist in Gefahr. – Frau Bierewirtz und Frau Weisensee wollen heute Fenster putzen. Die eine im Bad, die andere im Wohnzimmer.
"Dass die Frau Weisensee nicht das Gefühl hat, ich guck ihr jetzt permanent auf die Finger. Das läuft ja auch nicht darauf hin ab, dass sie nach einem ganz bestimmten System die Fenster lernt zu putzen, sondern das Wichtige ist hier halt, dass die Arbeit gemacht wird."
Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, zwei Kinderzimmer, Küche und Bad. Die 80-Quadratmeter-Wohnung ist schon recht ramponiert. Tapetenfetzen hängen ab, die Fußböden haben Flecken, im Wohnzimmer steht ein PC in Einzelteilen herum. Spiele und Plastiktüten liegen überall. Nur das Zimmer des Jungen ist frisch renoviert. Hier half der Opa. Ansonsten fehlt das Geld für Reparaturen. Frau Weisensee, 34 Jahre alt, fordert nicht gern vom Vater der Kinder etwas ein. Sie ist motiviert, und im nächsten Moment zerstreut.
"Frau Weisensee, ich hatte bestimmt vor zwei Wochen nachgefragt, Sie drauf hingewiesen, dass die Küche ja noch mal abgewaschen werden könnte. Was gibt’s denn da für’n Grund zu, dass das noch nicht erledigt ist?
Nen Grund direkt nicht.
Warum es noch nicht geschehen ist, weiß ich selber noch nicht.
Die Küche sollten Sie doch in den nächsten Tagen mal abwaschen. Und das auch noch mal in den Wochenplan anders einarbeiten."
Jeder Tag läuft nun nach Plan. Am Kühlschrank ist aufgelistet: Montags: Frühstück, Wäsche, Waschmaschine anstellen, einkaufen, Bad und WC, Wäsche aufhängen, Betten machen. – "Küche sauber machen" nun Donnerstagnachmittag.
"Sehr gut geht’s einem damit. Man kommt ja viel besser wieder parat. Wenn man so’n Plan hat, wo man sich n bisschen dran halten kann."
Ein Haushalts-Training. Bezahlt vom Jugendamt. Das erste Befremden darüber hat nachgelassen, sagt Monika Steffen von der Caritas.
"Familien, die sich oft in ner prekären Lebenssituation befinden, die das von ihren Eltern auch so kennen gelernt haben, kriegen auch sehr früh Kinder Haben es von den Eltern nicht lernen können, wie ein Haushalt geführt wird, wie Kinder versorgt werden. Das ist nämlich auch noch mal ein wichtiger Aspekt, dass wir auf die Säuglingspflege achten. Und wenn die das nicht gelernt haben, diese jungen Mütter, können die das auch nicht weiter vermitteln. Und das ist ein Verlauf, den wir auch mit Sorge beobachten."
Monika Steffen geht stets als Erste in die Familien.
"Ich glaube schon, dass es für den einen oder anderen Klienten wichtig ist, dass die vielleicht dann sagen können, zu den Nachbarn oder Verwandten: Es kommt jemand von der Caritas. Anstatt dass man sagt: es kommt jemand vom Jugendamt zweimal die Woche zu mir. Ich glaube schon, dass das ein wichtiger Aspekt ist."
"So, meine Damen und Herren, liebe Ausschussmitglieder, ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu unserer 11. Sitzung…"
Am Nachmittag tagt der Dormagener Jugendhilfeausschuss. 28 Vertreter der politischen Fraktionen, der Verwaltung, der freien Träger, der Kirchen und ein Richter beraten die Jugendhilfearbeit der Stadt. Auch Bürgermeister Heinz Hilgers sitzt in der Runde. Ein Bürgerantrag wird aufgerufen: Es geht um Notplätze in Horten und Kindergärten. Eltern sollen sie nutzen können, wenn sie auf Dienstreise gehen.
""Meines Erachtens sollte die Verwaltung noch mal verstärkt darauf hinweisen, dass es so was gibt. Zum Beispiel bei dem Bayer Industriepark in die Personalabteilungen. Dass man weiß: wen sprech ich an? Da scheint das Defizit zu sein, das scheint aber auch in anderen Betrieben, in kleineren Betrieben zu sein."
Der Ausschuss nimmt den Antrag an. – Martina Hermann und Uwe Sandvoss vom Jugendamt haben das Wort. Sie berichten von neuen Aktionen und Programmen. Kindergärten und Schulen etwa sollen mehr auf die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen achten:
"So soll bei der Aufnahme in den Kindergarten jede Familie das U-Heft vorlegen. Das heißt so, dass die U8 und U9 von den Erzieherinnen bei den Eltern abgefragt werden und bei Bedarf die Erzieherinnen auch direkt persönlich die Eltern motivieren können."
Auf den Tischen liegen weiße Hefte aus. Der Titel: "Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch". Ein neuer Leitfaden. Die Ausschussmitglieder blättern darin.
"Die Infobroschüre liegt Ihnen auch vor. Die haben wir ausgeteilt. Da geht es vor allen Dingen um den Punkt "Erkennen und Handeln". Bei der Risikoabwägung geht es vor allem um das ‚Beurteilen’. – Wir haben bis jetzt insgesamt 352 Fachkräfte geschult in der Risikoabwägung.
Und auch da ist unser Anspruch, dass wir alle weiterbilden und fortbilden. So dass wir hier in der Stadt, was den Kinderschutz angeht, in einer Sprache sprechen. – Das war’s."
"Familien ergänzen, vor Familien ersetzen, früh und kreativ", wiederholt der Bürgermeister das Credo der Stadt. Der Familienrichter stimmt zu:
"Die Entwicklung, die Prävention wirklich ernst in den Vordergrund zu stellen, die hat sich ja erst in den letzten Jahren gezeigt, und in die richtige Richtung geführt."
Der Leiter eines Kinder- und Jugendheims:
"Wir sind auf dem Weg, wir sind noch nicht am Ende, aber ich kann sagen, dass es sowohl bei den Profis der Jugendhilfe als auch bei den Ehrenamtlern ein verstärktes Wir-Gefühl gibt und dieses Wir-Gefühl auch bereit ist, diesen Weg weiter mit zu tragen und mit zu gehen."
"Und die ersten Fragen sind immer: Was hat das gekostet? Und wie viel Personalzuwachs hatten Sie?"
Kein Personalzuwachs, kein zusätzliches Geld. Dormagens große SPD-CDU-Koalition saniert den Haushalt, gliedert städtische Aufgaben wie den Straßenbau in Beteiligungsgesellschaften aus - Das kommt auch dem Jugend- und Sozialbereich zugute. Die Sozialarbeiter wissen: Trotzdem erreichen sie nicht alle Familien, deren Kinder in Gefahr sind. So sind sie laufend auf der Suche nach neuen Angeboten: Erfahrene Familien übernehmen Patenschaften für bedürftige Familien. Eine junge Mutter lernt in einer Kindertagesstätte Säuglingspflege. Die Jugendhilfe sucht Kontakt zu Schwangeren über Kinderärzte, Frauenärzte und Hebammen. Auf freiwilliger Basis. Das Meiste ist unspektakulär. Aber schnell und effektiv. Das "Dormagener Modell" soll nun landesweit in Nordrhein-Westfalen Schule machen. Bürgermeister Heinz Hilgers findet, es sei sowieso auf jede Kommune und jeden Großstadtbezirk übertragbar.
"Wobei ich das Wort Frühwarnsystem schrecklich finde. Das hört sich so an, als würde irgendwo ein Kind misshandelt und dann klingelt auf irgendeinem Schreibtisch das Telefon. Wir nennen das bei uns bewusst: Präventionsnetzwerk frühe Kindheit."
"Es geht um eine Mutter, die zwei Kinder hat, jetzt grade ein Neugeborenes im Januar geboren, und eine ältere Tochter, die beim Vater lebt."
Acht Sozialarbeiterinnen beraten einen neuen Fall. "Es brennt", sagt Marita Scherp-Holzberg.
"Wobei in der Vergangenheit die älteste Tochter wohl körperlich recht gut versorgt war. Also die hatte wohl einigermaßen genug zu essen. Und Anziehsachen waren auch da. Aber es gab halt so Fälle, dass die mit zwei Jahren nackig draußen durch die Gegend lief und die Nachbarn dann ne Meldung zum Jugendamt gegeben haben."
30 Jahre alt, ohne Berufsausbildung. Die Mutter lebt allein. Ihr erstes Kind hat der Vater aufgenommen. Wie wird sie ihr zweites behandeln?
"Ergebnis der kollegialen Beratung: erstmal in Beziehung treten und im Prinzip ein Clearing machen, zu gucken: Was kann die Mutter tatsächlich leisten? Ja ne Entscheidung treffen, möglichst rasch: Ob ne Entwicklung möglich ist, ob man pädagogisch arbeiten kann..."
Oder ob der Mutter auch das zweite Kind genommen werden muss. – Ein klassischer Fall fürs Jugendamt. Marita Scherp-Holzberg und ihr Team arbeiten aber nicht bei der Behörde, sondern bei den Verbänden der Wohlfahrtspflege: Caritas, Arbeiterwohlfahrt und Diakonisches Werk. Die acht Frauen leisten so genannte "flexible erzieherische Hilfen". Im Auftrag des Jugendamts der Stadt Dormagen.
"Paragraph 8a im Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung.
Zitat: Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen."
Missbrauchsfälle, die zu spät erkannt werden, überforderte Jugendämter, tote Kinder. Der Gesetzgeber versucht gegenzusteuern und nimmt seit 2005 alle Träger und Einrichtungen der Kinder– und Jugendarbeit mit in die Pflicht, Verantwortung für das Kindeswohl zu tragen. Allerorten werden nun Netzwerke für den Kinderschutz aufgebaut. Sozialverbände, Ärzte, Schulen und Kindergärten sollen mit den Jugendämtern zusammenarbeiten. Das ist in Dormagen schon länger so. – Denn: "Zur Erziehung eines Kindes bedarf es eines ganzen Dorfes." Ein afrikanisches Sprichwort, ein Lieblingssatz von Heinz Hilgers, Dormagens Bürgermeister.
"Dormagen ist meine Heimat. Das ist eine Stadt mittendrin im Leben so zwischen Köln und Düsseldorf. Natürlich geprägt durch die chemische Industrie …"
Eine Fußgängerzone, wie sie überall sein könnte. Ein paar Marktstände, ein Straßenmusikant spielt Flöte. Ältere flanieren gemächlich, Mütter mit Kinderwagen eilen mit dem Einkauf vorbei. 65.000 Einwohner hat Dormagen. Hauptarbeitgeber ist der Chemiepark auf dem riesigen Gelände des ehemaligen Bayer-Werkes. Siebeneinhalb Prozent der Menschen sind arbeitslos. Viele davon auf lange Zeit, ohne Ausbildung, Hartz-IV-Empfänger. Dormagens Eckdaten sind nicht Aufsehen erregend. Und doch macht die nordrhein-westfälische Stadt positive Schlagzeilen – mit erfolgreicher Jugendhilfe, mit aktivem Kinderschutz. Aus eigenem Ansporn.
"Weil wir mit Mut und mit großer Kreativität die Probleme angehen. Ich hab gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Manchmal reicht das einfach, wenn ich die ihre Ideen umsetzen lasse. Manchmal hab ich dann auch ne gute Idee. Wir sind früh da, weil alle wissen, jede frühe Hilfe ist kostengünstig und wirksam und jede später Hilfe ist sehr teuer und sehr, sehr oft unwirksam."
Dormagens Bürgermeister kennt das Metier. Bis 1985 war er selbst Jugendamtsleiter, dann unter Johannes Rau Sprecher der Landes-SPD für Familienpolitik. Heinz Hilgers, 58 Jahre alt, trägt das Logo des Kinderschutzbundes am Revers. Seit 15 Jahren ist er dort Präsident. Scharf kritisiert der stattliche Mann mit strenger Bassstimme eine Jugendhilfe, die Kinder nicht schützen kann.
"Aber ich würde sie nicht auf die Mitarbeiter in den Jugendämtern fokussieren. Sondern wir haben ne Situation, wo sich viele Städte in einem Teufelskreis befinden. Das sind die Städte, in denen ist die Arbeitslosigkeit hoch, in denen gibt es dadurch viele Risikofamilien und dadurch sind aber auch deren Steuereinnahmen niedrig. Und im Ergebnis kürzen sie dann bei der Prävention. Bei den freiwilligen Ausgaben, wo nicht ne unmittelbare gesetzliche Verpflichtung besteht."
Prävention. Früh in den Familien sein und sie unterstützen, bevor sie in Not geraten. Die jüngste Dormagener Idee dazu geht tatsächlich auf das Konto des Chefs. Heinz Hilgers hat sie sich in Dänemark abgeschaut. Jedes Neugeborene erhält ein Babybegrüßungspaket, persönlich überbracht, vom Jugendamt. An der Haustür steht Martina Hermann.
"Hallo, guten Tag, Martina Hermann…
…Schön, dass wir kommen dürfen…"
Martina Hermann betritt die gute Stube. Eine schlanke Frau in Jeans und bunter Jacke, mit frischem Auftritt. Sie beugt sich kurz über die Wiege im Esszimmer. Das Baby schläft. Die Mutter bittet auf die Eckcouch und bietet Kaffee an.
"Herzlichen Glückwunsch erst mal zu ihrer Tochter – wir sind ja wat spät, normalerweise kommen wir früher."
Die Frau vom Jugendamt leert die mitgebrachte Begrüßungstasche und legt auf den Sofatisch: Ein Märchenbuch und einen Brandmelder, die von Firmen gestiftet wurden, eine Zahnbürste vom Gesundheitsamt und einen Ordner – das Elternbegleitbuch "Willkommen im Leben"
"Dann sind hier Hilfen aufgelistet und allgemeine Informationen, zum Elterngeld, zum Erziehungsgeld. Da sind auch Anträge drin …"
Die Liste der Formulare und Adressen ist lang. Wohngeldantrag. Babysitter. Tagesmütter. Dazu Gutscheine fürs Hallenbad und eine Schnupperstunde für Babys in der Musikschule.
"Ihre erste Reaktion: Haben Sie gedacht, jetzt wollen die bei uns gucken, ob alles in Ordnung ist oder was haben Sie gedacht?
Ich denk schon, dass das Teil eurer Idee ist, ja, aber hier ist ja auch das Begrüßungsgeschenk.
Wir besuchen ja jede Familie, ganz egal wer das ist, ob deutsch oder türkisch oder russisch, oder allein erziehend, oder erstes Kind, oder drittes Kind, ob arm ob reich… Das ist in aller Regel so, dass die Familien erstmal total glücklich sind, wenn sie Nachwuchs haben, und alles ist in bester Ordnung. Und trotzdem kann es sein, dass irgendwann mal was Unvorhersehbares passiert oder ein Schicksalsschlag kommt...Und wichtig ist uns dann, dass Sie a) Informationen haben und b) vielleicht auch ein Gesicht in Erinnerung.
Wenn was nicht stimmt mit dem Kind, wenn die Eltern net gut sind zu den Kindern, dann muss das Jugendamt kommen, hat so nen kleinen bösen Ruf, und ich denk, das Image kann man jetzt ganz schön widerlegen mit dem Besuch und ich find dat sehr nett, sehr freundlich."
Nichts Besonderes, nichts Auffälliges. Der Laufzettel zu diesem Neugeborenen wird abgeheftet. Martina Hermann fährt zurück ins Büro.
Das Dormagener Rathaus ist ein moderner Zweckbau am Marktplatz – im Erdgeschoss befindet sich das Bürgerbüro, ganz oben im dritten Stock residiert der Bürgermeister. Das Jugendamt im ersten Stock…
"Ist erstmal nicht wirklich einladend. … es sind lange Gänge, relativ steril – leider sitzen in vielen Büros zwei Kollegen, das ist auch nicht so günstig. Wenn Eltern sich beraten lassen wollen, dann geht es oft um sehr intime und heikle Themen, und das ist nicht ganz glücklich, aber die Raumnot zwingt uns dazu."
Ein Besprechungsraum ist nun der Kompromiss. An den Wänden im Flur hängen die Kunstwerke von Drei- und Vierjährigen – Wale, Kugelfische, Leuchtfische in Blau und Grün. Das Büro des Kinderpflegedienstes hat einen Kaufladen, hier und dort hängen Mobiles und Hexen von der Decke. Familien sollen willkommen sein.
"Wir haben ganz viel an unserer Haltung gearbeitet, an unserem Zugang zu den Menschen, wie wir es schaffen, den Menschen die Angst von uns zu nehmen."
Die Öffnung der Zugänge – schon im Vorfeld der Hilfe. Diese Maxime haben die Dormagener an die Spitze ihrer Arbeit gestellt. Zitat:
"Auf diejenigen, die Hilfe wollen und brauchen, zugehen.
Outreach – mit der Hilfe hinausreichen.
Rheinisch: Dä Fahn russhänge! Vgl. BAP, Kölner Rockgruppe"
Das heißt im Alltag: Pressearbeit, Infobroschüren, regelmäßige Kontakte zu den Partnern der Kinder- und Jugendarbeit. Auch zu Unzeiten erreichbar sein. Sich einladend und kundenfreundlich verhalten.
"Keine Großraumbüros. Dass man das Einmaleins des guten Tons beherrscht. Hört sich komisch an, aber ich find, wir sind alles Menschen, und dass jeder eben nur vielleicht in unterschiedlichen Lebenslagen ist. Probleme werden ernst genommen und wichtig ist: Dass man gemeinsam kuckt: Was ist denn da, was möchte denn die Familie verändern?"
Das Jahr 1998 brachte in Dormagen den großen Schub. Die Sozialarbeiter vom Jugendamt und die Fachkräfte von den Wohlfahrtsverbänden waren damals unzufrieden mit der Kooperation. Sie baten den Berliner Sozialexperten Professor Reinhard Wolff um Unterstützung, und auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Vorgesetzten legten sie dann selbst die Richtlinien für ihre Arbeit fest. Im ersten deutschen Qualitätskatalog der Jugendhilfe. Drei Jahre lang studierten die Kinder- und Jugendhelfer neue Literatur. Diskutierten, saßen nächtelang zuhause am PC.
"Wofür werden wir eigentlich bezahlt, und was wird von uns erwartet und wie stellen wir uns gemeinsam auf für Familien?"
Für 23 Bereiche der Jugendhilfe sind in dem Dormagener Katalog Qualitätsstandards formuliert. Wie verhalten wir uns im Umgang mit Fremdmeldern – ohne die Jugendhilfe nicht funktionieren kann? Wie arbeiten wir mit unfreiwilligen Klienten? Wie wird bei Trennung und Scheidung beraten? – Jeder Bereich ist nach Schema behandelt: Die Aufgabe. Rechtliche Grundlagen. Probleme. Dann die Zielvorgaben und die Schritte dahin. Die laufend dokumentiert und hinterfragt werden müssen.
"Kapitel Kinderschutz. Vorfeldarbeit: Da die beiden wichtigsten Faktoren der Kindeswohlgefährdung Armut sowie die unzureichende Bereitschaft und Möglichkeit der Erwachsenen, sich auf Kinder und deren Bedürfnisse einzulassen, sind, ist präventive Arbeit notwendig. Das heißt: Die Fachkräfte (…) übermitteln ihre Ergebnisse über bestehende soziale Notlagen den Leitungskräften ihrer Einrichtungen sowie den politischen Entscheidungsträgern. (…) Insbesondere entwickeln die Fachkräfte präventive Hilfeprogramme vor allem für junge Familien und deren Kinder. (…) Ihre Hilfen orientieren sich im Besonderen an den Lebensbedürfnissen und Belastungen von Familien, deren Kräfte und Ressourcen sie mobilisieren wollen. Die Hilfen werden offensiv bekannt gemacht."
Andrea Bierewirtz ist auf dem Weg zu einem HOT-Einsatz. Ein Haushalts-Organisations-Training. Im Stadtteil Horrem, einem der sozialen Brennpunkte Dormagens, besucht sie Frau Weisensee in einem tristen Wohnblock.
"Guten Morgen Frau Weisensee… Hui, das ist aber ein Anblick, das Bügelbrett hier. Wie kommt es denn, dass Sie jetzt schon bügeln oder noch bügeln? …
Ich hab erst grad fertig gebügelt, staubsaugt, ausgefegt, schon durchgewischt,… uiui"
Erziehungshelferin Andrea Bierewirtz setzt sich erstmal zu Frau Weisensee an den Esstisch. Der steht mitten im kleinen Flur einer Vier-Zimmer-Wohnung. Frau Weisensee hat einen 12-jährigen Sohn und eine 14-jährige Tochter. Vor knapp zwei Jahren verließ ihr Mann die Familie. Frau Weisensee hielt erst noch alles in Gang…
"Dann kam so ein kleiner Einbruch … und dann kam auch von Marcel die Grundschullehrerin drauf, dass ich Hilfe annehmen könnte."
Der Sohn stürzte in der Schule ab, und die Lehrerin informierte das Jugendamt. Nun kommt Andrea Bierewirtz zweimal die Woche für zwei Stunden.
"Machen Sie mir dann auch schon ein Eimerchen fertig?"
Das Haushalts-Organisations-Training ist ein Angebot des katholischen Caritasverbandes. Eine Idee aus Freiburg, auf die Dormagen vor drei Jahren aufmerksam wurde. Das Jugendamt bezahlt. Denn wenn der Haushalt verwahrlost, lässt oft aller Antrieb nach. Die Kinder werden nicht rechtzeitig geweckt, bekommen kein ordentliches Frühstück. Verwahrlosen selbst. Das Kindeswohl ist in Gefahr. – Frau Bierewirtz und Frau Weisensee wollen heute Fenster putzen. Die eine im Bad, die andere im Wohnzimmer.
"Dass die Frau Weisensee nicht das Gefühl hat, ich guck ihr jetzt permanent auf die Finger. Das läuft ja auch nicht darauf hin ab, dass sie nach einem ganz bestimmten System die Fenster lernt zu putzen, sondern das Wichtige ist hier halt, dass die Arbeit gemacht wird."
Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, zwei Kinderzimmer, Küche und Bad. Die 80-Quadratmeter-Wohnung ist schon recht ramponiert. Tapetenfetzen hängen ab, die Fußböden haben Flecken, im Wohnzimmer steht ein PC in Einzelteilen herum. Spiele und Plastiktüten liegen überall. Nur das Zimmer des Jungen ist frisch renoviert. Hier half der Opa. Ansonsten fehlt das Geld für Reparaturen. Frau Weisensee, 34 Jahre alt, fordert nicht gern vom Vater der Kinder etwas ein. Sie ist motiviert, und im nächsten Moment zerstreut.
"Frau Weisensee, ich hatte bestimmt vor zwei Wochen nachgefragt, Sie drauf hingewiesen, dass die Küche ja noch mal abgewaschen werden könnte. Was gibt’s denn da für’n Grund zu, dass das noch nicht erledigt ist?
Nen Grund direkt nicht.
Warum es noch nicht geschehen ist, weiß ich selber noch nicht.
Die Küche sollten Sie doch in den nächsten Tagen mal abwaschen. Und das auch noch mal in den Wochenplan anders einarbeiten."
Jeder Tag läuft nun nach Plan. Am Kühlschrank ist aufgelistet: Montags: Frühstück, Wäsche, Waschmaschine anstellen, einkaufen, Bad und WC, Wäsche aufhängen, Betten machen. – "Küche sauber machen" nun Donnerstagnachmittag.
"Sehr gut geht’s einem damit. Man kommt ja viel besser wieder parat. Wenn man so’n Plan hat, wo man sich n bisschen dran halten kann."
Ein Haushalts-Training. Bezahlt vom Jugendamt. Das erste Befremden darüber hat nachgelassen, sagt Monika Steffen von der Caritas.
"Familien, die sich oft in ner prekären Lebenssituation befinden, die das von ihren Eltern auch so kennen gelernt haben, kriegen auch sehr früh Kinder Haben es von den Eltern nicht lernen können, wie ein Haushalt geführt wird, wie Kinder versorgt werden. Das ist nämlich auch noch mal ein wichtiger Aspekt, dass wir auf die Säuglingspflege achten. Und wenn die das nicht gelernt haben, diese jungen Mütter, können die das auch nicht weiter vermitteln. Und das ist ein Verlauf, den wir auch mit Sorge beobachten."
Monika Steffen geht stets als Erste in die Familien.
"Ich glaube schon, dass es für den einen oder anderen Klienten wichtig ist, dass die vielleicht dann sagen können, zu den Nachbarn oder Verwandten: Es kommt jemand von der Caritas. Anstatt dass man sagt: es kommt jemand vom Jugendamt zweimal die Woche zu mir. Ich glaube schon, dass das ein wichtiger Aspekt ist."
"So, meine Damen und Herren, liebe Ausschussmitglieder, ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu unserer 11. Sitzung…"
Am Nachmittag tagt der Dormagener Jugendhilfeausschuss. 28 Vertreter der politischen Fraktionen, der Verwaltung, der freien Träger, der Kirchen und ein Richter beraten die Jugendhilfearbeit der Stadt. Auch Bürgermeister Heinz Hilgers sitzt in der Runde. Ein Bürgerantrag wird aufgerufen: Es geht um Notplätze in Horten und Kindergärten. Eltern sollen sie nutzen können, wenn sie auf Dienstreise gehen.
""Meines Erachtens sollte die Verwaltung noch mal verstärkt darauf hinweisen, dass es so was gibt. Zum Beispiel bei dem Bayer Industriepark in die Personalabteilungen. Dass man weiß: wen sprech ich an? Da scheint das Defizit zu sein, das scheint aber auch in anderen Betrieben, in kleineren Betrieben zu sein."
Der Ausschuss nimmt den Antrag an. – Martina Hermann und Uwe Sandvoss vom Jugendamt haben das Wort. Sie berichten von neuen Aktionen und Programmen. Kindergärten und Schulen etwa sollen mehr auf die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen achten:
"So soll bei der Aufnahme in den Kindergarten jede Familie das U-Heft vorlegen. Das heißt so, dass die U8 und U9 von den Erzieherinnen bei den Eltern abgefragt werden und bei Bedarf die Erzieherinnen auch direkt persönlich die Eltern motivieren können."
Auf den Tischen liegen weiße Hefte aus. Der Titel: "Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch". Ein neuer Leitfaden. Die Ausschussmitglieder blättern darin.
"Die Infobroschüre liegt Ihnen auch vor. Die haben wir ausgeteilt. Da geht es vor allen Dingen um den Punkt "Erkennen und Handeln". Bei der Risikoabwägung geht es vor allem um das ‚Beurteilen’. – Wir haben bis jetzt insgesamt 352 Fachkräfte geschult in der Risikoabwägung.
Und auch da ist unser Anspruch, dass wir alle weiterbilden und fortbilden. So dass wir hier in der Stadt, was den Kinderschutz angeht, in einer Sprache sprechen. – Das war’s."
"Familien ergänzen, vor Familien ersetzen, früh und kreativ", wiederholt der Bürgermeister das Credo der Stadt. Der Familienrichter stimmt zu:
"Die Entwicklung, die Prävention wirklich ernst in den Vordergrund zu stellen, die hat sich ja erst in den letzten Jahren gezeigt, und in die richtige Richtung geführt."
Der Leiter eines Kinder- und Jugendheims:
"Wir sind auf dem Weg, wir sind noch nicht am Ende, aber ich kann sagen, dass es sowohl bei den Profis der Jugendhilfe als auch bei den Ehrenamtlern ein verstärktes Wir-Gefühl gibt und dieses Wir-Gefühl auch bereit ist, diesen Weg weiter mit zu tragen und mit zu gehen."
"Und die ersten Fragen sind immer: Was hat das gekostet? Und wie viel Personalzuwachs hatten Sie?"
Kein Personalzuwachs, kein zusätzliches Geld. Dormagens große SPD-CDU-Koalition saniert den Haushalt, gliedert städtische Aufgaben wie den Straßenbau in Beteiligungsgesellschaften aus - Das kommt auch dem Jugend- und Sozialbereich zugute. Die Sozialarbeiter wissen: Trotzdem erreichen sie nicht alle Familien, deren Kinder in Gefahr sind. So sind sie laufend auf der Suche nach neuen Angeboten: Erfahrene Familien übernehmen Patenschaften für bedürftige Familien. Eine junge Mutter lernt in einer Kindertagesstätte Säuglingspflege. Die Jugendhilfe sucht Kontakt zu Schwangeren über Kinderärzte, Frauenärzte und Hebammen. Auf freiwilliger Basis. Das Meiste ist unspektakulär. Aber schnell und effektiv. Das "Dormagener Modell" soll nun landesweit in Nordrhein-Westfalen Schule machen. Bürgermeister Heinz Hilgers findet, es sei sowieso auf jede Kommune und jeden Großstadtbezirk übertragbar.
"Wobei ich das Wort Frühwarnsystem schrecklich finde. Das hört sich so an, als würde irgendwo ein Kind misshandelt und dann klingelt auf irgendeinem Schreibtisch das Telefon. Wir nennen das bei uns bewusst: Präventionsnetzwerk frühe Kindheit."