Zum dritten Mal London

Michael Krüger im Gespräch mit Dieter Kassel · 27.07.2012
Als einzige Stadt der Welt ist London nun schon zum dritten Mal Gastgeber der Olympischen Spiele. Der Sporthistoriker Michael Krüger zieht Vergleiche zu den bisherigen Spielen: 1908 sei es eine deutlich "kleinere Veranstaltung" gewesen und 1948 habe bittere Armut und Not geherrscht - auch in England.
Dieter Kassel: Ab heute ist London Gastgeber der Olympischen Spiele, und das dann als bisher einzige Stadt schon zum dritten Mal. 1908 war London Austragungsort der damals erst vierten Olympischen Spiele der Neuzeit, und 1948 der ersten Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Blick auf diese jeweiligen Spiele in London bietet also ideale Gelegenheit, die Geschichte dieses Sportgroßereignisses nachzuverfolgen, und genau das wollen wir jetzt tun im Gespräch mit Michael Krüger, er ist Professor für Sportpädagogik und Sportgeschichte an der Universität Münster und Leiter des dortigen Instituts für Sportwissenschaft. Schönen guten Morgen, Professor Krüger!

Michael Krüger: Guten Morgen!

Kassel: Heute ist das eine riesige Veranstaltung: 35.000 Journalisten, 39 Disziplinen, ein Etat von fast 10 Milliarden Pfund. Die Olympischen Spiele 1908, nehme ich mal an, waren doch sicherlich noch eine sehr viel kleinere Veranstaltung.

Krüger: Die Spiele von 1908 waren in der Tat eine sehr viel kleinere Veranstaltung, nur ein paar hundert Athleten waren anwesend, aber gleichwohl war es doch die erste wirklich olympische Veranstaltung nach den Spielen von 1896 in Athen, wo ja die ersten Spiele der Neuzeit gefeiert wurden. Und nun wurde also in London 1908, zum ersten Mal im Mutterland des Sports, wirklich würdige Olympische Spiele gefeiert, wenn auch die ganz im Zeichen der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich standen. Sie fanden ja im Rahmen der franco-britischen Ausstellung statt, die zur selben Zeit in London durchgeführt wurde.

Kassel: Hat man dadurch andere Nationen, die ja anwesend waren zum Teil, quasi ideell ausgeschlossen, also war das eine franco-britische Sache, wo sich jemand anders anschließen konnte oder eben auch nicht?

Krüger: Also man muss sagen, die Olympischen Spiele waren von Anfang an eine europäische Erfindung und eine Initiative der großen europäischen Mächte England, Frankreich und im Endeffekt auch Deutschland, obwohl Deutschland immer eine gewisse Sonderrolle dabei gespielt hat, es war im Zeitalter des Nationalismus und des Imperialismus, und die Olympischen Spiele wollten auf ihren Gründer Pierre de Coubertin zurückgehen, ein Zeichen des internationalen Friedens setzen mit diesem Event, und da sollte prinzipiell niemand ausgeschlossen werden. Alle Nationen waren eingeladen, all games, all nations. Übrigens, Nordamerika war natürlich auch eine große Delegation da, und die Spiele von London 1908 standen in gewisser Hinsicht auch im Zeichen der Konkurrenz der USA und Großbritanniens.

Kassel: Inwieweit war das denn damals eigentlich schon Hochleistungssport?

Krüger: Es war Leistungssport auf jeden Fall, es war kein Hochleistungssport, wie wir ihn kennen, sondern an den Start durften nur Amateure gehen, also Liebhaber des Sports, und das waren im britischen Verständnis Gentleman, die Zeit, Geld und Lust dazu hatten, Sport zu treiben, sich auch anzustrengen, aber vor allem Spaß dran haben wollten und auch den Sport als eine Demonstration ihrer Macht, ihres Ansehens, ihrer Haltung, auch ihres Wohlstands zu zeigen.

Kassel: Das heißt, das war auch in Teilen eine elitäre Veranstaltung?

Krüger: In der Tat war es eine elitäre Veranstaltung, man zeigte es ja eben gern daran, wie das Olympische Komitee zusammengesetzt war, dem gehörten meistens Personen aus bürgerlichen und adeligen Kreisen an, Baron Pierre de Coubertin war selber Adeliger, die anderen Mitglieder aus den europäischen Ländern im Exekutivkomitee waren ebenfalls Adelige. Also es war schon ein Stelldichein der Haute Volée aus Europa.

Kassel: Spielte Deutschland denn sportlich eine Rolle damals, 1908 bei den Spielen?

Krüger: Der Sport in Deutschland war weit verbreitet bereits, insbesondere auch das deutsche Turnen. Und da taucht ja schon ein Problem auf, was die deutsche Rolle bei Olympia angeht, weil die deutschen Turner eigentlich Repräsentanten der bürgerlichen Mittelschicht waren, der arbeitenden Klassen der Handwerker, eher das, was man heutzutage als Kleinbürger bezeichnen wollte, und die fühlten sich sowohl von der sozialen Lage her im olympischen Kreis, in der olympischen Familie, wie man es ja auch nannte, nicht so besonders wohl, ganz abgesehen davon, dass die Turner ein ganz anderes Verständnis von Leibesübungen – ich benutze den Begriff bewusst – hatten, als es der englische Sport zeigte.

Kassel: Man sagt ja gerne so nebenher, Pierre de Coubertin hätte Ende des 19. Jahrhunderts die Spiele der Antike wiederbelebt, aber das, was Sie da beschreiben, was schon damals aus den Olympischen Spielen geworden war – hat das eigentlich so arg viel mit dem Geist der Spiele der Antike noch zu tun gehabt?

Krüger: Doch, doch. Es hat auf jeden Fall was mit dem Geist der Antike zu tun gehabt, wenn es auch eine sehr freie Interpretation des antiken Ideals war. Man hat ein bestimmtes ideales Bild der Antike gezeichnet, das man wieder in die Gegenwart retten wollte. Das war eine breite Stimmung in den educated classes, in den gebildeten Schichten ganz Europas, man wollte das neue Europa im Geist der Antike und aus dem Geist der griechischen Antike heraus neu begründen. Der Philhellenismus, wie man das nannte, war eigentlich seit Langem in Europa eine weit verbreitete Strömung, und auch die Wiederbelebung der Olympischen Spiele fußt auf diesem Geist des Philhellenismus.

Kassel: Wir reden gerade hier im Deutschlandradio Kultur mit Professor Michael Krüger, Sporthistoriker an der Uni Münster, über die Olympischen Spiele von London, allerdings nicht die, die heute eröffnet werden – das vielleicht noch ganz zum Schluss am Ende –, sondern die beiden anderen. 1908 haben wir jetzt ausführlich besprochen, Herr Krüger, lassen Sie uns ins Jahr 1948 gehen, die ersten Olympischen Spiele nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder in London. Sie haben schon erwähnt: 1908 war das eine doch auch relativ noble Veranstaltung zum Teil, das war es doch vermutlich zu dieser Zeit 1948 dann nicht?

Krüger: Nein. 1948 war natürlich eine vollständig andere Situation, der Krieg war noch nicht lange zu Ende und sowohl die Sieger als auch die Besiegten waren vollständig am Ende, materiell ohnehin. Die Besiegten, also Deutschland und seine Verbündeten und Japan, waren dagegen nicht nur materiell, sondern letztlich auch moralisch am Ende. Es gab ja gar kein Deutschland, der deutsche Staat war aufgelöst.

Aber auch den Siegern ging es nicht viel besser. Also es herrschte bittere Armut und Not in England, in London, wo die Spiele ausgetragen wurden. Es gibt ein schönes Buch mit dem Titel "The Games of Austerity" oder "The Austerity Games", also die Notspiele, die Knappheits-Spiele, die improvisierten Spiele, die aus der Not geboren waren, und das trifft es eigentlich sehr gut.

Man wollte unbedingt ein Zeichen setzen, dass das Leben weitergeht, dass die Jugend wieder eine Zukunft hat, und Olympische Spiele sind ja immer ein Event, das vor allem für die Jugend und für die Hoffnung auf die Zukunft kreiert wurde. Und deshalb legte das IOC großen Wert darauf, dass man den Rhythmus der Spiele fortsetzen konnte und 1948, nachdem es eben 1940 und 1944 ausgefallen war, wieder Spiele nach dem überwundenen Krieg durchführen konnte.

Kassel: Damals, 48, war Deutschland nicht dabei, zum einen – Sie haben schon erklärt –, weil es das so als Staat ja nicht gab, aber auch ganz konkret aus dem verwaltungstechnischen Grund: Man hatte kein Nationales Olympisches Komitee, was immer die Grundvoraussetzung ist. Kann man damit auch sagen – man hat es glaube ich kurz danach ja dann gegründet –, kann man sagen, Teil dieser olympischen Bewegung zu sein, teilnehmen zu dürfen hat auch etwas damit zu tun, ein Teil der Weltgemeinschaft zu sein?

Krüger: In der Tat. Das hat auf jeden Fall was damit zu tun. Jetzt muss man sagen: Das war der formale Grund, warum keine deutschen Athleten teilnehmen konnten, aber der tiefere, politische und moralische Grund war natürlich der, dass zunächst nach diesem schrecklichen Krieg Deutschland auf der Anklagebank stand und man eigentlich keine deutschen Athleten dort sehen wollte.

Es war auch eine Art von Siegesfeier, muss man sehen, aus der Sicht der Länder, die den deutschen Nationalsozialismus, das Dritte Reich niedergerungen hatten, und da wollte man nicht so früh eine Art von Verbrüderung mit den ehemaligen Todfeinden zelebrieren. Deshalb waren keine Deutschen und Japaner in London dabei, obwohl es schon Überlegungen gab, wie man denn den Eintritt deutscher und japanischer Athleten in die Gemeinschaft des olympischen Sports organisieren könnte.

Kassel: Irgendwann begannen die Spiele dann auch immer, immer größer zu werden, wir erleben das jetzt in London, ich habe ja ein paar Zahlen genannt, ein Etat, von dem man selbst inflationsbereinigt wahrscheinlich nur hätte träumen können 1908 oder 1948. Glauben Sie, dass vielleicht zum Schluss, wenn Pierre de Coubertin diese Spiele, die dritten in London jetzt, erleben könnte, dass er sich darüber freuen würde, was aus den Olympischen Spielen geworden ist?

Krüger: Er würde sich auf der einen Seite freuen über die Leistungen der Athleten, über ihre Anstrengungsbereitschaft, über ihren Mut, über die Atmosphäre, die diese Spiele nach wie vor haben, aber auf der anderen Seite würde er sich mit Grausen von einigen Dingen abwenden, insbesondere die völlige Abkehr von dem Amateur-Gedanken, der bis dahin lange die olympische Bewegung getragen hatte.

Das würde er sehr bedauern, weil diese Abkehr vom Amateur-Gedanken im Grunde alle Schranken niedergerissen hatte und dem Exzess des Sports, des Leistungssports, des Hochleistungssports kein Halt mehr geboten wurde, und damit natürlich verbunden auch alle Nebenerscheinungen, wie die Kommerzialisierung des Sports, dass viel Geld damit verdient werden kann, dass die Spiele in eine Spirale von Gigantismus und kommerziellen Interessen gerät, denen am Ende auch die Athleten und ihre Gesundheit zum Opfer fallen können, möchte ich mal dazu sagen.

Kassel: Michael Krüger, Professor für Sportpädagogik und Sportgeschichte an der Universität Münster, über die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit, dargestellt an den Spielen in der einzigen Stadt, die nun schon ab heute zum dritten Mal Gastgeber ist – London. Herr Krüger, ich danke Ihnen sehr!

Krüger: Ja, vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.