Zum 70. Geburtstag von Slavoj Žižek

Warum wir radikaler denken müssen

35:29 Minuten
Der berühmte slowenische Philosoph Slavoj Zizek nimmt am 17. November 2011 an einer Demonstration, organisiert von der Initiative ProAlt und anderen Menschenrechtsorganisationen teil. Die Demonstration fand auf dem Wenzelsplatz in Tschechiens Hauptstadt Prag statt.
Zynischer Zweifel führt nicht aus der Misere: der Philosoph Slavoj Žižek bei einer Demonstration in Prag. © CTK/Sona Remesova
Moderation: Stephanie Rohde · 17.03.2019
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Wir haben die Welt genug verändert, jetzt kommt es darauf an, sie besser zu interpretieren, sagt Slavoj Žižek. Mit Thesen wie diesen stellt der Philosoph Karl Marx auf den Kopf und provoziert Linke wie Konservative. Am 21. März wird er 70 Jahre alt.
Wer mit 20 nicht links ist, der hat kein Herz, wer mit 40 immer noch links ist, hat keinen Verstand? Nein, diese viel zitierte Coming-of-Age-Formel hält Slavoj Žižek für völligen Blödsinn. Als ob jeder Lebensweg naturwüchsig von der Utopie zum Pragmatismus verliefe. "Im Gegenteil", meint Žižek, "ich finde ja, dass alle interessanten Denker heutzutage mit den Jahren immer radikaler werden."

Internet-Bosse diktieren der Politik ihre Regeln

Gilt das auch für den slowenischen Star-Philosophen selbst? Als wortgewaltiger Kulturkritiker denkt Žižek Psychoanalyse und Politik, Marx und Hollywood zusammen. In seinem neuen Buch "Wie ein Dieb bei Tageslicht" attackiert er die Konzernchefs großer Internetfirmen, die - von der Politik weitgehend unbehelligt – ihre Macht ausbauen und der Weltgesellschaft die Regeln ihrer digitalen Geschäftsmodelle aufzwingen.

Hören Sie hier das Gespräch mit Slavoj Žižeks im englischen Original belassenen Antworten: Audio Player

Die vermeintlich post-ideologischen Demokratien des Westens seien in einer Täuschung gefangen, sagt Slavoj Žižek im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Denn der Kapitalismus der Gegenwart kalkuliere Systemkritik längst ein.

Besser sehen mit der richtigen Brille

"Die tonangebende Haltung liegt heute in einer Art von zynischem Zweifel", sagt Žižek. "Man geht davon aus, dass Politik sowieso korrupt sei, das könne man nicht mehr ernst nehmen, also solle doch jeder irgendwie versuchen, so zu sein, ‚wie er wirklich ist‘, und irgendwie daran teilnehmen. Aber das ist natürlich auch nur wiederum eine Vision, eine Utopie – und auch ein Trugschluss."
Ideologiekritik ist eines von Žižeks Lebensthemen. Jetzt kritisiert er die Illusion der Ideologiefreiheit. Die Vorstellung, es ginge darum, die Wirklichkeit "ohne eine ideologische Brille zu betrachten", um unbezweifelbare Wahrheiten zu erkennen, führe auf den Holzweg. Tatsächlich seien wir immer und überall mit Ideologien konfrontiert, sagt Žižek, und es komme darauf an, die richtigen Brillen aufzusetzen, um diese Verblendungszusammenhänge zu erkennen.

Es fehlt eine linke Vision

Der entschiedene Kritiker des globalen Kapitalismus schont aber auch die politische Linke nicht. "Je radikaler ich werde, umso kritischer bin ich auch mit allen Formen der linken Parteien", erklärt Žižek. "Das tiefere Problem liegt doch darin, dass die Linke zurzeit überhaupt kein alternatives Projekt hat." Das gelte für die Sozialdemokratie ebenso wie für sozialistische Parteien und Bewegungen:
"Wenn wir uns anschauen, wo eine radikalere Linke versucht hat, die politische Führung zu übernehmen, sei es Syriza in Griechenland oder die Linke in Venezuela, dann ist auch da alles nur schrecklich schief gelaufen."

Lernen von Lenin: zurück auf Null

Die wichtigste Aufgabe der Linken bestehe nun darin, eine Beschreibung der Gegenwart zu leisten, auf deren Grundlage sich eine überzeugende politische Alternative denken lässt. Žižek unterstreicht diese Idee durch eine Umkehrung der elften Feuerbachthese von Karl Marx: Im 20. Jahrhundert sei die Welt genug verändert worden, nicht selten mit katastrophalen Folgen, jetzt komme es wieder darauf an, sie zu interpretieren.
"Wenn etwas nicht funktioniert hat, dann kehrt man zurück zum Punkt Null", sagt Žižek. Als Vorbild dafür dient ihm Lenin, der nach seiner Beobachtung die Qualitäten eines besonnenen Bergsteigers besaß: "Wenn man einen Berg besteigt und man ist kurz vor dem Gipfel, aber man merkt, der Weg, den man eingeschlagen hat, ist falsch, dann muss man zurück ins Tal gehen."

Nichtstun führt in die größte Katastrophe

Wohin aber könnte ein linkes Projekt sich von diesem Nullpunkt aus wenden? Welchen Weg würde Žižek einschlagen, der dem europäischen Demokratie-Netzwerk DiEM 25 angehört? Träumt er von einer Revolution? Der Philosoph antwortet mit einem Paradox: Der brutalste revolutionäre Umsturz unserer Lebensverhältnisse sei heute ja zu erwarten, wenn wir nicht handeln:
"Nehmen wir das Beispiel der Ökologie: Neue Analysen haben bewiesen, dass wir einen ganz radikalen Wechsel brauchen, wenn es darum geht, wie wir uns in Zukunft ernähren wollen. Wir brauchen weniger Fleisch, wir haben das Problem der globalen Erderwärmung, und es ist ganz klar, das wird eine echte Katastrophe werden, eine echte ‚Revolution‘ werden – aber nur dann, wenn wir nichts tun. Und ich hoffe, das wird den Leuten immer klarer."

Slavoj Žižek: Wie ein Dieb bei Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus.
Aus dem Englischen von Karen Genschow
S. Fischer Verlag, 2019, 288 Seiten, 19 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Philosophischer Kommentar zur Aktion "Lügenfasten"
Unter dem Titel "Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen" ruft die evangelische Kirche zum Lügenfasten auf. Noch besser wäre es, wir würden auf die Lust am Lügenkonsum verzichten, kommentiert die Wiener Publizistin Andrea Roedig.

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