Zukunftsvergessenes Deutschland

Von Christian Schwägerl · 01.12.2010
Die DDR reklamierte in der ersten Strophe ihrer Nationalhymne für sich, der Zukunft zugewandt zu sein. Das stimmte nie, die DDR währte nur 40 Jahre. Doch stimmt es für die 82 Millionen Deutschen von heute? Heute geht es darum, sich Herausforderungen zu stellen, die weit über die nächsten 40 Jahre hinausreichen.
Weltweit mehren sich die Zeichen von Rohstoffknappheit und Umweltkrise. Die Deutschen müssen es also schaffen, ihren Wohlstand künftig mit erneuerbaren Energien und ohne Müll zu erzeugen. Wir müssen einen Weg aus dem Raubbau finden, und gleichzeitig den Planeten bald mit neun Milliarden anderen Menschen teilen, die auch im Wohlstand leben wollen.

Eine zweite Herausforderung ist der wirtschaftliche Wettbewerb. Vor allem in Asien und Südamerika ist eine atemberaubende Modernisierung in Gang. China, Indien und Brasilien investieren so intensiv in Bildung und Forschung, dass die nächsten Wellen technologischer Erneuerung auch von dort kommen könnten. Wollen die Deutschen ökonomisch erfolgreich bleiben, müssen sie an der Spitze der Innovationen stehen.

Das gilt umso mehr angesichts der dritten Herausforderung, des demografischen Wandels. Während sich andere Erdregionen verjüngen, ist schon heute jeder fünfte Deutsche älter als 65 Jahre. Die Bevölkerungsgruppe, die am schnellsten wächst, sind die Überachtzigjährigen.

Eigentlich gibt es keine Alternative dazu, dass wir uns radikal der Zukunft zuwenden. Doch unser Land ist heute geprägt von Vergangenheitsfixierung, Gegenwartsegoismus, Zukunftsvergessenheit.

Im leeren Zentrum der Berliner Republik, auf dem Schlossplatz, soll mit dem Stadtschloss ein Retrokasten entstehen, so als ob nur das alte Preußen Glanz und Glorie spenden könnte – warum kein topmodernes Forschungsinstitut, das einen nachhaltigen Lebensstil entwickelt?

Landauf, landab regen sich Bürgerinitiativen gegen alles und jedes, gegen unterirdische CO2-Speicher, gegen Windräder, gegen Stromtrassen, gegen Bahnstrecken. Wir verschwenden tagtäglich Energie und frönen dem Auto. Aber wenn es darum geht, Energie wenigstens umweltfreundlich zu erzeugen und Alternativen zum Auto zu stärken, empfinden wir das als Zumutung.

Wo bleiben die Bürgerinitiativen, die für neue, gewöhnungsbedürftige Technologien eintreten und auch da für Veränderungen kämpfen, wo es unangenehm wird? Lieber hegen und pflegen wir das Altvertraute, besonders dann, wenn es billig zu haben ist.

Wir sind darauf gepolt, unsere Ansprüche von heute zu verteidigen, unseren Konsum zu maximieren, Besitzstände zu wahren. Während eine halbe Rentnergeneration sich auf Kreuzfahrten verlustiert, bröckelt an den Grundschulen der Putz, wandern junge deutsche Akademiker aus, weil es anderswo bessere Chancen gibt. Keine Generation zuvor hat so sehr von billigen Rohstoffen, billigen Lebensmitteln und kostenloser Umweltverschmutzung profitiert wie die Rentner von heute, niemand zuvor hatte größere Chancen auf materiellen Wohlstand. Trotzdem stockt der Staat die Rentenkasse jährlich um 80 Milliarden Euro auf. Geld, das für Bildung und Forschung bitter fehlt.

Deshalb ist es auch so bezeichnend, dass die Protestinitiativen von heute, die ganze Dagegen-Kultur, nicht die Jungen, sondern hauptsächlich Ältere anführen. Die Frage nach der Zukunft ist heute vor allem eine Frage nach der Mentalität der Älteren. Die Mentalität von heute, das Anspruchsdenken, die Technologiefeindlichkeit, das Desinteresse an den Umweltbedingungen von morgen, führen uns direkt ins Abseits.

Die DDR zeigt, wie schnell das Falsche untergehen kann. Nur wird für ein zukunftsvergessenes Deutschland von heute kein größerer Bruder bereitstehen, der es auffängt. Wollen wir wirklich zur Konsumkolonie Chinas werden, ein partylustiges Altersheim auf einem ökologisch verarmten Planeten?

Christian Schwägerl ist Autor des im Riemann-Verlag erschienenen Buches "Menschenzeit: Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten". Mit Politik und Umwelt befasst sich der 42-jährige Biologe schon seit mehr als 20 Jahren. Beim SPIEGEL arbeitet er seit 2007 als Redakteur mit den Schwerpunkten Umwelt-, Energie- und Forschungspolitik. Zuvor war er als Feuilletonkorrespondent der F.A.Z. in Berlin tätig. Für seine Leistungen hat er den "Georg-von-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus" und den "Econsense-Journalistenpreis" für Nachhaltigkeit erhalten. Schwägerl lebt mit seiner Familie in Berlin.
Christian Schwägerl
Christian Schwägerl© Matthias Lüdecke