Zukunft braucht auch Erinnerung

Von Anja Schrum und Wojtek Mroz |
Glogau ist eine Stadt in Niederschlesien, eine Stadt in Polen und ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig Treffen von deutschen Vertriebenen und deren Familien und polnischen Neusiedlern sind. Glogau gilt als Ort, an dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ihren tiefen Brüchen besonders abzulesen ist. Umso wichtiger die zahlreichen deutsch-polnischen Projekte, die besonders nach der Wende initiiert wurden und zu vielen Begegnungen in Glogau geführt haben.
"Einer der Glanzpunkte des alten Glogau, das waren die Oderterrassen. Das war da hinten der Ruderclub Neptun und da machte man sonntags einen kleinen Spaziergang hin und ging da Kaffeetrinken."

Klaus Schneider lehnt am Brückengeländer und blickt auf die grasüberwucherten Reste der Oderterrassen. Hinter ihm donnern die Lastwagen, unter ihm strömt die Oder. Schneider beugt sich noch ein wenig weiter vor.

"Jetzt ist der Wind günstig."

Schnell hat er in die braunen Fluten gespuckt. Jetzt freut sich der 69-Jährige im dunklen Anzug wie ein kleiner Junge.

"Das ist ein Ritual, das gehört dazu. Wenn ich in Glogau bin, dann muss ich einmal auf der Oderbrücke stehen wie früher als Kind und in die Oder spucken."

Früher – das war vor Januar 1945. Bevor die Stadt in Niederschlesien evakuiert wurde, vor der herannahenden Roten Armee. Den achtjährigen Klaus mit Brüdern und Eltern verschlug es ins bayerische Hof. Erst 40 Jahre später, im August 1985 sieht Klaus Schneider seine Geburtsstadt wieder. Sie heißt jetzt Glogow (sprich: Gwoguf) und liegt in Polen.

"Und was sie da drüben sehen, das ist die Jesuitenkirche, das ist praktisch die einzige Kirche, die gleich nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde. Weil das wohl die einzig mögliche Ruine war, aus der sich wieder eine Kirche machen ließ, sagen wir es mal so."

Das alte Glogau wurde in den letzten Kriegswochen zu 95 Prozent zerstört. Und jahrzehntelang nicht wieder aufgebaut. Noch im Sommer 1985 blickte Schneider von der Oderbrücke auf die Ruine des Rathauses. Jetzt aber steht es wieder. Neu erbaut. Genau wie der über 80 Meter hohe Rathausturm. Mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Glogauer, die sich im Heimatbund zusammengeschlossen haben. Denn schon damals, im August 1985, beginnt, was heute als eine Art Lehrstück für eine gelungene deutsch-polnische Verständigung gewertet werden kann.

In einem Park am Rande der Glogauer Altstadt steht Jacek Zielinski vor einem Denkmal. Früher gedachten hier die deutschen Sozialisten ihrem Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Heute sind zwei Bronzetafeln angebracht. Die eine Inschrift auf -Deutsch, die andere auf Polnisch. Zielinski liest laut:

"'Den deutschen und polnischen Opfer von Krieg, Gewalt und Vertreibung.' - Ein bisschen umstritten war dieses Wort 'Vertreibung'. Aber was soll das? Ich wäre als Fünfjähriger auch fast Opfer von Vertreibung geworden."

Sagt der ehemalige Glogauer Stadtpräsident. In dessen Amtszeit in den 90er Jahren die ersten Gespräche über die Umwidmung des Gedenksteins fielen. Der erste Gedenkstein in Polen, auf dem die Vertreibung in deutscher Sprache beim Namen genannt wird. Zielinskis Vorgänger hatte sich – Ende der 80er Jahre – nicht einmal getraut, einen ehemaligen Bewohner des deutschen Glogau, Klaus Schneider nämlich, zu empfangen. Unter Zielinskis Präsidentschaft änderte sich das. 1989 nahm er zu Schneider Kontakt auf. Und lud er dann den Glogauer Heimatbund ein, den Verband der vertriebenen Glogauer mit Sitz in Hannover.

"Man muss ehrlich sagen, dass Glogow 700 Jahr deutsche Tradition hat. Und ich als Einwohner der Stadt war der festen Überzeugung, dass wir diese Tradition fortsetzen müssen. Wir können das doch nicht einfach abschneiden und sagen, dass Glogau aus dem Nichts entstanden ist."

Angst vor den angeblichen "deutschen Revanchisten" kannte Zielinski nicht. Der Grund war...

"Dass wir sehr deutlich darüber gesprochen haben: Ihr könnt zu uns kommen, ihr könnt hier auch bleiben, aber der Ausgangspunkt ist der: Das hier ist Polen. Und das lässt sich nicht rückgängig machen. Sollen wir sechs Millionen Polen wieder nach Osten schicken. Und sechs Millionen Deutsche hier ansiedeln. Das geht nicht. Und deswegen müssen wir deutlich sagen: Kommt zu uns. Wer will, soll kommen, dann sind wir gemeinsam hier."

Die alten deutschen Bewohner Glogaus und die neuen polnischen. Viele der letzteren waren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt angesiedelt worden, weil ihre alte, ostpolnische Heimat an die Sowjetunion fiel. - Der Glogauer Heimatbund folgte der Einladung Zielinskis. Am Anfang überwog die Skepsis, doch schnell schloss man Freundschaft und begann immer neue, gemeinsame Projekte zu entwickeln. Eine Städtepartnerschaft mit Langenhagen bei Hannover wurde vermittelt. Der Andreas-Gryphius-Preis, ein Literaturpreis, nicht wie üblich in Düsseldorf sondern in Glogow verliehen. Der Heimatstadt des Barockdichters. Außerdem organisierte der Heimatbund Geld für den Wiederaufbau des Rathauses.

"Dank des Glogauer Heimatbundes haben wir Geld bekommen für den Aufbau der Altstadt. Ich möchte betonen, dass der Rathausturm ausschließlich aus dem Fond für deutsch-polnische Zusammenarbeit wiederaufgebaut wurde. Auch das Dach des Rathauses. Wir haben das Geld unter der Bedingung bekommen, dass wir mit einer deutschen Organisation zusammenarbeiten. Und da wir haben die Unterstützung des Glogauer Heimatbundes bekommen haben, war es für uns leicht an diese Mittel zu gelangen."

Seit Anfang der 90er Jahre nehmen die polnischen und die deutschen Glogauer jedes Jahr ein neues Projekt in Angriff. Ein Meilenstein in der jahrelangen Zusammenarbeit aber bleibt die Umwidmung des Denkmals. Beide Seiten betonen, bislang habe es dort keine anti-deutschen Schmierereien und keinen Vandalismus gegeben. Ein Zeichen dafür, dass das Denkmal auch bei den polnischen Glogowern auf Zustimmung stößt.

"Das ist etwas Gemeinsames. Ein Symbol der Verbrüderung. Die Deutschen haben doch hier früher gewohnt. Jetzt wohnen die Polen hier. Einigkeit muss sein."

Sagt ein älterer Pole, der gerade vorbei spaziert. Ein Paar - so um die 30 - horcht auf, als es auf die ehemals deutsche Einwohnerschaft angesprochen wird

"Was? Keiner wurde aus Glogow vertrieben. Die Stadt war doch immer polnisch. Seit 1109. Wer sollte wen vertreiben?"

"Das ist unser Balkon-Saal....Und hier ist die Terrasse."

"Das ist unser Balkon-Saal", sagt Zbigniew Rybka. Durchschreitet den Saal und öffnet die riesige Flügeltür. Dann tritt er hinaus auf den Balkon des wieder aufgebauten Rathauses. Der Stadtpräsident blickt gerade aus, über einen alten Blechzaun und wildwuchernde Birken auf die Ruine der Nikolaus-Kirche. Auch sie solle wiederaufgebaut werden, sagt Rybka. Genau wie die Theater-Ruine zur Linken. Rechter Hand steht bereits ein Teil der neuen Altstadt. Bunte Bürgerhäuser mit Türmchen und Erkern.

Zbigniew Rybka eilt weiter durch das riesige, aufwendig renovierte Gebäude. Viele ältere Glogauer seien bei der Neueröffnung 2002, mit Tränen in den Augen durch die Gänge des prächtigen Rathauses geschritten, erzählt Rybka. Dann bleibt er vor ein paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen stehen. Das alte Glogau.

"Das sind Fotos, die uns der Glogauer Heimatbund überlassen hat. Hier ist die evangelische Kirche, die steht nicht mehr..."

Bilder von der alte Köngisstraße, dem Ratskeller und der jüdischen Synagoge. Das alles sei selbstverständlich Teil der Stadtgeschichte, sagt der Mitvierziger:

"Meine Generation hat keine Hemmungen mehr, wenn es um diese Problematik geht. Ich bin hier geboren. Die Mehrheit der Glogauer weiß, dass Geschichte der Stadt nicht nur eine polnische Geschichte ist. Es ist vor allem eine der Deutschen, aber auch eine der Tschechen und der Juden. Und diese Tradition ist meiner Meinung nach sehr wichtig für das Leben in der Stadt. Und als der Glogauer Heimatbund mit diesem Vorschlag, ein Denkmal zu errichten, zu mir kam, habe ich das mit hoher Achtung empfangen, weil ich gewusst habe, dass die Deutschen hier gewohnt haben und nicht aus eigenem Antrieb die Stadt verlassen haben. Das ist eine Tatsache, das möchte ich betonen. Aber selbstverständlich haben wir versucht, eine Formulierung zu finden, dass keine Seite sich verletzt fühlt. Auf der anderen Seite sollte die Inschrift die Geschichte nicht verfälschen."

Natürlich – die Verhandlungen waren nicht ganz einfach. Aber er habe immer offen mit Klaus Schneider - dem Vertreter des Heimatbundes - reden können, sagt Rybka. Kein Glogower fühlte sich beleidigt. Selbst die polnischen Kriegsveteranen seien zur feierlichen Umwidmung im Mai 2000 erschienen. In Glogow funktionieren die deutschen-polnischen Beziehungen. Trotz der Diskussion um das "Zentrum gegen Vertreibungen", trotz Preußischer Treuhand, trotz der national-konservativen Zentralregierung in Warschau. Vor Ort, in Glogow, hat das keine Auswirkungen, bestätigt auch Klaus Schneider vom Glogauer Heimatbund.

"Ich habe das nicht gemerkt hier, nun muss man allerdings sagen, dass Glogau – und Schlesien ist überhaupt son bisschen anders, in Glogau war immer die liberale Linie im Stadtrat vertreten war und der Bürgermeister auch gestellt wurde und es war auch immer eine ziemlich Kontinuität. Es gibt andere Städte und auch andere solche Heimatbünde, die haben da große Enttäuschungen erfahren, dass es nach 90 wunderbar losging und dann wieder die Postkommunisten dran und dann war wieder alles vorbei. Das ist hier nicht so."

Außerdem habe der Stadtrat seine Verständigungspolitik immer offensiv vertreten. Und die polnische Bevölkerung habe mitgezogen, betont Klaus Schneider, der sich als Glogauer Lokalpatriot bezeichnet. Und in Glogow auch als solcher gewürdigt wird:

"Was für mich ein großes Erlebnis war, dass bei der 750-Jahrfeier, also 750 Jahre deutsches Stadtrecht in Glogau, und da habe ich als alter Glogauer dort gesprochen, das ist so etwas unverstellbares gewesen, vor 20 Jahren hätte sich das keiner denken können... Dieser Dialog hat sich sehr gut entwickelt zwischen Deutschen und Polen."

Auf deutscher Seite wird dieser Dialog vor allem vom Heimatbund getragen. Von den alten Glogauern also.

"Das ist schon eine Organisation, die natürlich schon stirbt. Weil die Menge, derer, die sich dafür anfangen zu interessieren, immer kleiner ist als die, die weggehen."

Sagt Manfred Liersch. Auch er ist Mitglied im Heimatbund, gehört aber nicht mehr zur so genannten "Erlebnisgeneration". Liersch, in den 50er Jahren geboren, war einfach neugierig auf die Heimat seiner Großeltern. Und so beeindruckt, dass er dem Heimatbund beitrat und einige Jahre im Vorstand arbeitete. Heute veranstaltet er Busreisen für diejenigen, die sich den Besuch der Stadt allein nicht mehr zutrauen.

"In den letzten fünf, sechs Jahren findet man es sehr, sehr oft, dass Oma oder Opa nicht unbedingt ihr Kind an die Hand nehmen, sondern es ist das Enkelkind und die dann hier mit dem Enkelkind auftauchen, das ist uns also hier in den letzten zwei, drei Jahren bei den Bustouren sind dann immer wieder solche Fälle dabei."

Das Interesse an Polen und an der deutschen-polnischen Verständigung wecken, manchmal gelingt das auch mit solchen Reisen.

"Auf der letzten Fahrt hatten wir jemanden, der wirklich bekannt hat, dass er Oma nur begleitet, weil Oma Schwierigkeiten körperlicher Natur hatte. Ich hab sie auch gefragt: Wie ist ihr Eindruck gewesen? Wunderbar, ich komme also mit Sicherheit noch einmal hier her. Ich denke, man kann schon Interesse wecken."

Die Zahl 1929 prangt über der quietschenden Eingangstür. Das Erste Lyzeum, eine Schule mitten in Glogow, ist ein alter, backsteinerner Bau. 700 Schülerinnen und Schüler werden hier unterrichtet. In einem Klassenraum im ersten Stock sitzen auf schlichten Holzstühlen Kascha, Tomek, Slawek und die anderen. Die deutsche Geschichte ihrer Stadt – für sie ist das Alltag.

"Wir haben Kontakt mit den Deutschen, die früher in unserem Haus gewohnt haben. Das sind sehr nette, ältere Leute, die heute in München wohnen. In den letzten Ferien war ich dort. Sie zeigten, dass sie wissen, dass es nicht die Schuld meiner Familie ist, dass sie vertrieben wurden. Aber ich habe gemerkt, dass es ihnen sehr wehgetan hat, dass sie vertrieben wurden."

Auch Slaveks Großmutter stammt aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, die heute zur Ukraine gehören. Seine Oma verstehe die deutschen Vertriebenen, erzählt der Schüler, weil auch sie ihre Heimat verlassen musste. Im vergangenen Jahr haben die Glogower Schüler ihre Partnerschule in Deutschland besucht. In Langenhagen bei Hannover. Die jungen Polen waren überrascht:

"Die deutschen Schüler interessiert nicht, was im Land passiert. Das war für uns etwas Neues. Wenn junge Leute in Deutschland über Geschichte sprechen, dann machen sie darüber Witze. Sie machen sich lustig darüber."

Slavek schüttelt den Kopf. Demnächst werden die deutschen Austauschschüler nach Glogow kommen. Dann, so hoffen Slavek und seine Mitschüler, gelingt es ihnen vielleicht die jungen Langenhagener ein wenig für die alte deutsche und die neuere polnische Geschichte ihrer Heimstadt zu interessieren. Und so die junge Tradition deutsch-polnischer Verständigung in Glogau fortzuführen.