Zuflucht in Slowenien

Rezensiert von Martin Sander |
In Lojze Kovačičs Roman "Die Zugereisten" beginnt im Jahr 1938 für einen Jungen eine Irrfahrt durch eine ihm fremde Welt. Seine Eltern hatten sich in ihrer Wahlheimat Basel über viele Jahre hindurch eine bürgerliche Existenz aufgebaut. Doch ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wird die Familie von den Behörden ausgewiesen. Zuflucht sucht sie in Slowenien.
Im Jahre 1938 beginnt für einen Jungen eine Irrfahrt durch eine ihm fremde Welt. Der Vater, Kürschner slowenischer Herkunft, und die Mutter, aus dem deutsch-französischen Grenzland gebürtig, hatten sich in ihrer Wahlheimat Basel über viele Jahre hindurch eine bürgerliche Existenz aufgebaut. Doch dann, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wird die Familie von den Schweizer Behörden ausgewiesen, weil sie nicht im Besitz der Schweizer Staatsbürgerschaft ist. Zuflucht sucht die Familie im Heimatland des Vaters, und der knapp zehnjährige Junge, vor kurzem noch ein deutschsprachiger Bürgersohn ohne Kenntnisse des Slowenischen, wird in eine andere Wirklichkeit katapultiert. In Slowenien begegnet man dem "Ausländer" weniger mit Verständnis und Zuneigung als mit Befremden und sogar offenem Hass. Gleichwohl wird diese fremde Welt irgendwann seine eigene werden.

Der slowenische Dichter Lojze Kovačič, geboren 1928 in Basel, gestorben 2004 in Ljubljana, gilt als einer der bedeutendsten slowenischen Autoren. Im vergangenen Jahr hat der Drava Verlag den ersten Band seiner dreibändigen Romanchronik "Die Zugereisten" auf Deutsch vorgelegt. Jetzt lässt der Verlag den zweiten Teil folgen. Von der Kritik wurden die "Zugereisten" bereits als Jahrhundertwerk gerühmt und ihre poetische Dichte mit der Erinnerungsprosa eines Danilo Kiš oder Bruno Schulz verglichen. Kovačič entwirft seine Lebensgeschichte in einer schier unendlichen Abfolge von Nahaufnahmen. Er ist besessen vom Detail. In barocker Manier wechseln düstere, nahezu albtraumhafte Bilder vom verzweifelten Existenzkampf seiner degradierten Familie mit Szenen höchster Lebensgier. Auf der Suche nach sich selbst entdeckt der jugendliche Erzähler die Reize der Sexualität, deren derbe Darstellung immer wieder ans Obszöne grenzt. Er sucht Anerkennung in Banden und ringt zugleich um neue Ausdrucksmöglichkeiten. Nach Experimenten mit der Malerei und dem Theater gelangt er zur Literatur.

Der zweite Band der "Zugereisten" lässt die Dramatik persönlichen Erlebens ein wenig zurücktreten - zugunsten der Weltpolitik, die immer häufiger in den Alltag einbricht. Die Achsenmächte haben Slowenien erobert. Ljubljana wird erst von italienischen, dann von deutschen Militärs besetzt. Zeitweilig findet die Familie Unterstützung bei deutschen Bürgern der Stadt, slowenischen Parteigängern des Nationalsozialismus. Vor allem aber versucht sie, zwischen den Fronten zu lavieren, ohne sich und anderen zu schaden. Am Ende des zweiten Bandes der "Zugereisten" ist der Frühling des Jahres 1945 angebrochen. Die deutschen Soldaten fliehen aus Slowenien, während Titos Partisanen die Oberhand gewinnen. Den Erzähler und seine Angehörigen erwartet ein ungewisses Schicksal. Der Vater ist nach langer schwerer Krankheit verstorben.

Auf die Frage, wo in seiner autobiografischen Romantrilogie die Wahrheit zu finden sei, hat Lojze Kovačič einmal geantwortet, man könne sie am sichersten dort aufspüren, wo man sie nicht bemerke: zwischen den Zeilen.


Lojze Kovačič: Die Zugereisten. Eine Chronik. Zweites Buch. Aus dem Slowenischen übersetzt von Klaus Detlef Olof, Drava Verlag, 344 S., 21,00 Euro.