Zügellose Fantasie

06.12.2011
Eine sexuell höchst aktive Star-Autorin zu Zeiten der Samtenen Revolution: Der Roman des tschechischen Schriftstellers Jiří Kratochvil beginnt mit konventioneller Unterhaltung und endet in einem labyrinthischen Höllenritt.
1989 war für manche auch eine Kränkung. Die historischen Ereignisse übertrafen nämlich jede Literatur. Der tschechische Schriftsteller Jiří Kratochvil hat diese Kränkung offenbar noch nicht verwunden. Sein neuer Roman erzählt von der Konkurrenz zwischen Literatur und Wirklichkeit zu Zeiten der Samtenen Revolution und lässt am Ende keinen Zweifel, wer als Gewinner aus ihr hervorgeht.

Kateřina Káničková ist die "Femme fatale" des Romantitels. Am Vorabend der umstürzenden Ereignisse reist sie aus Prag nach Brünn und bringt nicht nur hoffnungsvolle Mär, sondern auch einen Roman mit, der zwar warnend "Fallstricke" heißt, von allen jedoch als hoffnungsvolle Vorwegnahme des kommenden Regimesturzes gelesen wird. Als Katka wird die junge Frau zum Star des Literaturbetriebs und schläft zudem mit beinahe jedermann in der Stadt, um Stoff für weitere, möglichst intensive Bücher zu gewinnen. Dieser recht simple Realismusbegriff bringt ihr schließlich den Tod durch zwei Killer ein, weil ihr letzter Liebhaber, ein Rollstuhlfahrer, sich die ästhetische Sicht auf den vor seinen Augen und einer Videokamera arrangierten Beischlaf Katkas mit einem Fremden nicht zu eigen machen konnte. Ende des ersten Romanteils.

Wie immer bei Kratochvil, der dem Dualismus huldigt, wo er nur kann, gibt es einen zweiten Teil. Er ist die Antithese zum ersten: Auf den zwar temporeichen, aber doch arg konventionellen Unterhaltungsroman folgt nun ein labyrinthischer Höllenritt. Erzählt wird er nicht mehr vom promiskuitiven Sportlehrer und Fitnessclubbetreiber Zdeněk, der von Literatur wenig versteht, von Katka jedoch (aus nur kompositorisch einleuchtenden Gründen) als Beichtvater vor und nach dem Bett erwählt wurde. Nun erzählt Katka selbst – nein, ihre Doppelgängerin. Diese erlebt noch einmal die Jahre, in denen der Stern der ihr gleichenden Schriftstellerin Katka aufstieg und erlosch. Katka II weiß, was Katka I geschehen wird, kann es jedoch nicht verhindern. Sie weiß auch nicht, was ihr selbst blüht: Sie erwacht als eine beim Hütchenspiel gewonnene Haussklavin, gerät als Liliputanerin in das Miniaturreich eines Brünner Wiedergängers des böhmischen Königs Rudolf II. aus dem 16. Jahrhundert und arbeitet als Gehilfin eines halb vogel-, halb löwenartigen Vogel Greif, dem Wappentier von Böhmen und Mähren – um nur drei der zahlreichen höchst seltsamen Stationen zu erwähnen. Kratochvil legt seiner Fantasie keine Zügel an.

Dieses Wiederholungs- und Parallelleben einer Doppelgängerin ist unverkennbar von der Romantik inspiriert. Es erweist sich als viel aufregender als das von Katka im ersten Teil mit Hilfe des Sex gesuchte intensive Leben – womit Kratochvil die Realismusauffassung seiner Heldin deklassiert. Die verspielt-fantastische Haltung obsiegt.

Es ist allerdings ein Pyrrhussieg, gewinnt Kratochvil doch gegen sich selbst: Er stellt sich ja im ersten Teil seines Romans dumm: nämlich simpel realistisch. Weil das turbulente Ende zudem einige Erzählfäden in der Luft belässt, fühlt man sich zwar gut unterhalten, wünscht Jiří Kratochvil jedoch mehr erzählerische Disziplin, wie er sie in seinen großartigen Romanen "Inmitten der Nacht Gesang" oder "Unsterbliche Geschichte" bewiesen hat.

Besprochen von Jörg Plath

Jiří Kratochvil: Femme fatale
Aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve und Christa Rothmeier
Braumüller, Wien 2011
257 Seiten, 19,95 Euro