Zu viele Kontinuitäten in Ägypten

Von Jan Kuhlmann |
Vor einem Jahr demonstrierten Hunderttausende gegen Hosni Mubarak. 18 Tage später trat der Präsident zurück, inzwischen droht ihm gar die Todesstrafe. Von einer Revolution zu reden war dennoch voreilig, meint Jan Kuhlmann. Ägypten stehe noch ganz am Anfang der Demokratisierung.
Seien wir doch ehrlich: Wir haben uns getäuscht. Als die Ägypter vor einem Jahr ihren Diktator Hosni Mubarak zum Teufel gejagt haben, dachte die Welt, am Nil sei eine Revolution gelungen. Zu schön und romantisch war der Gedanke, dass mit einem Schlag das Gute gesiegt hat.

Wäre es tatsächlich eine Revolution gewesen, dann hätte Ägypten einen radikalen Bruch mit seinem alten politischen System erlebt. Dann wäre die komplette Führungselite ausgetauscht worden. Dann hätte heute niemand mehr etwas zu sagen, der damals schon mächtig war. Davon aber kann keine Rede sein. Dafür gibt es zu viele Kontinuitäten zwischen der Vor- und der Nach-Mubarak-Zeit.

Gestürzt worden ist vor einem Jahr die vorderste Reihe. Der einstige Präsident muss sich jetzt vor Gericht verantworten. Mit ihm seine Söhne und andere Helfershelfer der Unterdrückung. Ägypten beobachtet den Prozess gegen Mubarak und seine Schergen mit großer Aufmerksamkeit.

Es gibt nicht wenige, die sich für die Angeklagten die Todesstrafe wünschen. Ein hartes Urteil gegen die Übeltäter von einst steht außer Frage. Es ist der einfachste Weg, den Bruch mit dem alten System zu symbolisieren und den früheren Opfern zumindest etwas Genugtuung zu verschaffen.

Mag ein hartes Urteil gegen Mubarak auch wichtig sein – vielmehr als symbolischen Charakter wird es nicht haben. Es könnte sogar dazu verleiten, den Blick auf eine wichtige Tatsache zu verschließen: dass nämlich an vielen Stellen der Macht noch genau dieselben Personen sitzen, die diese Ämter schon zu Mubaraks Zeiten inne hatten.

An allererster Stelle ist hier die Armee zu nennen. Regiert wird das Land de facto vom hohen Militärrat, dem es um seine eigenen Privilegien geht – und nicht um Freiheit und Demokratie. Der Vorsitzende des Militärrats heißt Mohammed Hussein Tantawi. Unter Mubarak war er 20 Jahre lang Verteidigungsminister.

Unklar ist, wie es in dieser Woche zu den tödlichen Ausschreitungen im Fußballstadion von Port Said kommen konnte. Aber einiges spricht dafür, dass die Gewalt manchen sehr gelegen kam – alten Kräften, die das neue Ägypten destabilisieren wollen und offenbar immer noch stark sind.

Auch die gefürchtete Staatssicherheit arbeitet weiter, als wäre nichts geschehen in Ägypten. Sie hat nur ihren Namen geändert.

Überhaupt: Die Diktatur konnte nur funktionieren, weil es Millionen von Menschen gab, die sie unterstützt haben. Eine historische Aufarbeitung der Vergangenheit aber hat in Ägypten noch nicht begonnen – ohne sie wird es keinen wirklichen Übergang in eine Demokratie geben können.

War also der Sturz Mubaraks vor einem Jahr vergeblich? Das zu behaupten wäre unfair und falsch. Aber wenn es keine Revolution war, was es dann in Ägypten? Die amerikanische Denkfabrik "Brookings Institution" hat vor einiger Zeit einem Buch den Titel "The Arab Awakening" gegeben – das arabische Erwachen.

Dieser Begriff beschreibt viel besser, was in der arabischen Welt passiert ist und noch immer vor sich geht: ein Erwachen aus der Starre der Vergangenheit, gefolgt von einem Transformationsprozess – eher evolutionär statt revolutionär.

Entscheidend ist dabei, dass sich die Rolle vieler Ägypter verändert hat: Aus passiven Untertanen einer Diktatur sind aktive Bürger geworden, die sich einmischen und Forderungen an die politische Elite stellen. Aktive Bürger – sie sind die Grundvoraussetzung, um überhaupt den Weg Richtung Demokratie gehen zu können.

Transformationsprozesse, das lehrt die Vergangenheit, dauern lange. Sie verlaufen nie linear, sondern immer mit einem ständigen Vor-und-zurück. Was Ägypten vor allem braucht ist Geduld – und davon sehr viel.


Jan Kuhlmann, Jahrgang 1971, schreibt als freier Journalist in Berlin über Islam, Integration und Nahost (www.jankuhlmann.net).Studiert hat er Geschichte, Islamwissenschaft und Arabisch an der Universität Hamburg und der American University Cairo (AUC). Danach war er u.a. Politik-Korrespondent der Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" in Berlin.
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