Zu schön, um wahr zu sein

Moderation: Ralf Müller und Claus Vogelgesang. Studiogäste: Prof. Uta Brandes, Prof. Harry Pross, Petra Perle · 09.10.2010
Lange Zeit war es peinlich, sich zum Kitsch zu bekennen. Die Anhänger einer lupenreinen Hochkultur ergriff Übelkeit beim Gedanken an Sissi, Heintje und den röhrenden Zwölfender aus Porzellan. Die Zeiten sind vorbei. Der Kitsch der Vergangenheit hat die Museen und Bühnen der Gegenwart erobert. Von Jeff Koons bis Christoph Schlingensief, Kunst spielt mit dem Kitsch und Kitsch ist scheinbar Kunst geworden.
Maaaama, sollst doch nicht um deinen Jungen weinen! Warum Kitsch so weh tut und warum er wohl tut: Die Lange Nacht präsentiert Träume und ihre Wirklichkeit, Kitschkritiker und ihre Lieblingsschnulzen, Streit und süße Versöhnung. "Ihr seid in der Tonalität gefangen" schreit Gustav. "In der Falle. Tonalität ist ein Spiel. Alle Tonalitäten. Aber ihr seid zu alt. Ihr werdet niemals über das Spiel hinausgelangen bis zur Reihe. Die Reihe ist Erleuchtung." "Die Reihe ist genauso ein Spiel", Thomas Pynchon "Die Enden der Parabel".

Also wie an diesem Abend im Konzert. Gespielt wird die Zweite von Gustav Mahler. Auferstehungssymphonie. Die Musiker geben ihr Bestes, die Zuhörer lauschen gebannt. Sie lauschen besonders gebannt, während die Symphonie sich ausführlich mit der finsteren Grube beschäftigt, in die gerade jemand gefahren ist. Man sagt, es handle sich um den Freund des Komponisten, der viel zu jung ... die Bässe wühlen förmlich in der feuchten Erde, dass einem die Finger klamm werden. Das Grab ist tief. Dunkel. Was bist du Mensch? Ein Paukenhieb zerschlägt die Frage. - Doch dann richtet sich der Blick nach oben. Tastend zunächst, dann freudig, dann ist es Gewissheit: ein Lichtstrahl! Die Wolken tun sich auf, das Unwetter zieht vorbei, die Klänge wirbeln empor, und die Musik verspricht vom klaren Himmel herab das ewige Leben.

In diesem Moment hält es meinen Vordermann nicht mehr. Zuerst zuckt er nur ein bisschen. Dann ein bisschen mehr. Da reißt es ihn plötzlich aus dem Stuhl, aber er muss sich nicht übergeben, denn gleich sitzt er wieder, um sofort wieder aus dem Sitz zu fahren. Während es ihn derart rhythmisch hebt und senkt, stößt er die geballte Faust immer wieder im triumphalen Rhythmus der anschwellenden Musik nach unten in die entgegengesetzte Richtung, von wo die Engel normalerweise kommen. Er stöhnt leise. Vielleicht spricht er auch mit sich selbst. Oder er lässt womöglich einfach die angestaute Luft heraus. Wie beim Zieleinlauf. Oder eben wie jemand, der sich über seine Auferstehung freut.

Da ich genau hinter ihm saß, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Aber es muss wohl verzückt gewesen sein. Glänzende Augen gen Himmel gedreht, den Mund offen irgendwo zwischen Ein- und Ausatmen, wie die mittelalterlichen Ekstatiker, wenn sie Gott schauten. Gedanken mögen da nicht sein, so ich verloren hab das Mein.

Das alltägliche Leben wird natürlich leichter, wenn man die Hauptprobleme in zwei Hälften teilt. Gut und Böse, unten und oben, Wahrheit und Lüge, richtig und falsch; so wird man je nachdem Pfarrer, Politiker, Jurist oder Wissenschaftler. Wer vom Unterschied zwischen Kunst und Kitsch überzeugt ist, wird Künstler oder Kritiker.

Kann man dem Begeisterten aus dem Konzertsaal wirklich nachweisen, dass seine Gefühle nicht echt waren, dass er sich seine Leidenschaft nur eingebildet hat, und dass sein musikalischer Orgasmus bloß vorgetäuscht war? Was ist mit Wagner? Nothung, Nothung, neidliches Schwert! Hat das je ein Konzertbesucher aufrichtig gefühlt?

Was ist Kitsch? Ein bestimmter Text, ein Bild, eine Melodie oder die Art und Weise wie wir damit umgehen? Als ich Claus Vogelgesang sage, dass für mich die Frage aller Fragen von Cliff Richard die größte Sülze ist, die ich kenne, ist er empört. Für ihn ist das ein schönes Lied. Claus findet Puccini kitschig. Er muss manchmal fast weinen, wenn er Tosca auflegt. Nur du kannst mir die Antwort sagen.

In der Kritik der Urteilskraft definiert Immanuel Kant die Art und Weise wie man Kunstwerken begegnet als interesseloses Wohlgefallen. Seither geben sich manche alle Mühe, möglichst uninteressiert vor einem Kunstwerk zu stehen. Und seither gilt umgekehrt: da wo man mitklatscht, laut lacht oder Spaß hat, da kann es mit der Kunst nicht weit her sein. Heintje singt: Mama, du musst doch nicht um deinen Jungen weinen. Dann muss ich an meine Mutter denken, und dann werde ich melancholisch, weil wir früher diese Platte auch zu Hause hatten und ich mich genau daran erinnere, auch an die Siebziger-Jahre Einrichtung mit Glastisch. Das darf doch nicht wahr sein.

Bundesdeutsche Politiker sprechen oft von Visionen, die sie gerne hätten. Im real existierenden Sozialismus waren Visionen an der Tagesordnung. Vom Haus des Volkes bis zur doppelten Erfüllung des Planziels. Einer der immer der Erste ist, das ist Fritz der Traktorist. Sozialkitsch. Es gibt eine Skulptur von Jeff Koons, bei der ein etwa 2,5 m großer Teddybär im Streifenrolli einem englischen Bobby freundschaftlich die Tatze auf die Schulter legt. Der Bär ist offensichtlich ein Kumpel des Polizisten. Was für ein Werk!

Roy Black streut rote Rosen, unsere Studiogäste tragen herrlich bunte Krawatten, Marianne Rosenberg singt, das Weiße Rössl wiehert, Elvis geht mit seinem Glitzeranzug im Getto spazieren, wir machen eine friedliche Revolution und wandern durch blühende Landschaften, in denen kraftstrotzende Proletarier Hammer und Sichel schwingen. Claus Vogelgesang spricht mit dem Soziologen und ausgewiesenen Kitschforscher Harry Pross, der Kitschliebhaberin und besten Schlagersängerin Europas, Petra Perle, und der Ästhetikprofessorin Uta Brandes. Wir haben auch einen Hirsch, der für uns röhrt. Im Hintergrund schweigt der deutsche Wald. Niemand weiß genau, wie das Wort Kitsch entstanden ist. Um 1870 war es plötzlich da. Ein Freund sagt mir dazu am Telefon: Kitsch ist, wenn man ernste Sachen zu ernst nimmt. Wir werden uns hüten.

Ralf Müller

Mit der Wiederholung aus der Langen Nacht aus dem Jahr 1999 erinnern wir an Harry Pross, der im Mai dieses Jahres im Alter von 86 Jahren verstorben ist.

Harry Pross: Nachruf der Freien Universität Berlin

Harry Pross
Medium Kitsch und Medienkitsch.
Freie Universität Berlin - Universitätsreden.
1985 Duncker & Humblot


Zeichen und Ordnung. Das Ding als Zeichen
aus: Harry Pross,
Zwänge - Essay über symbolische Gewalt,
Berlin 1981
Sabine Lippmann
Harry Pross
Ein Leben für freie Medien und unzensierte Meinungen
Akademische Schriftenreihe, Bd. V123569
2009 GRIN Verlag


Petra Perle
"Die Hausfrau 2000"

Petra Perle und Conny Sü Prem
"Die Hausfrau 2000"
Heyne Verlag



Uta Brandes
FH Köln
Im April wurde Dr. Uta Brandes als Professorin für "Frauenorientiertes Design" an den Fachbereich Design der Fachhochschule Köln berufen. Mit dieser Professur sind gleich zwei "Premieren" verbunden. Es handelt sich um die erste Professur, die: aus dem 1987 ins Leben gerufenen Hochschulsonderprogramm "Netzwerk Frauenforschung" an eine Fachhochschule ging europaweit im Design ausdrücklich dem Geschlechterverhältnis gewidmet ist.
Netzwerk Frauenforschung

Designtheorie und Designforschung
von Brandes, Uta; Erlhoff, Michael; Schemmann, Nadine;
UTB Uni-Taschenbücher Nr.3152 UTB Mittlere Reihe Design Studieren
2009 UTB Fink (Wilhelm)


Weitere Literaturtipps:

Friedländer, Saul:
Kitsch und Tod
Der Widerschein des Nazismus.
Die Zeit des Nationalsozialismus
2007 Fischer (TB.), Frankfurt


Killy, Walther:
Deutscher Kitsch.
Ein Versuch m. Beispielen.
VANDENHOECK & RUPRECHT-

Körner, Wolfram:
Erotisches im Alltag zwischen Kunst und Kitsch.
Sonderausg. 1999.
- EDITION Q-

Gabriele Thuller:
Kitsch.
Balsam für Herz und Seele
2007 Belser

Hrsg. v. Ute Dettmar u. Thomas Küpper :
Kitsch.
Texte und Theorien.
2007 Reclam, Ditzingen