Zu den Filmfestspiel-Gewinnern in Venedig

"'Nomadland' war eine augenöffnende Erfahrung"

08:39 Minuten
Regisseurin Chloé Zhao, Kameramann Joshua James Richards und Frances McDormand beim Dreh zu "Nomadland". Vor karger Landschaft und bewölktem Himmel.
Um sich in die Hauptfigur von "Nomadland" hineinzufühlen, fuhr Schauspielerin Frances McDormand fünf Monate durch die Staaten. © picture alliance / Associated Press / Searchlight Pictures
Anke Leweke und Patrick Wellinski im Gespräch mit Eckhard Roelcke · 12.09.2020
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Die Preise bei den 77. Filmfestspielen in Venedig sind vergeben. "Nomadland" wurde zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, urteilen unsere Kritiker. Auch die anderen prämierten Filme zeigen sich ausgesprochen politisch.
Es war das erste große Filmfestival, was seit Ausbruch der Corona-Pandemie wieder physisch stattgefunden hat. Nun sind die Preise bei den 77. Filmfestspielen in Venedig vergeben worden.
Der Gewinner des Goldenen Löwen, "Nomadland" von Chloé Zhao, schildere die dunkle Seite des amerikanischen Traums, sagt unser Filmkritiker Patrick Wellinski. Die Geschichte einer Frau, die durch die Finanzkrise 2008 alles verliert und entscheidet, in und aus ihrem Van heraus zu leben, sei für ihn sofort ein Favorit gewesen. "Allen war nach fünf Minuten klar, das muss es sein."
Der Film erzähle die Chronik einer gesellschaftlichen Verwüstung mit poetischer Unaufdringlichkeit. "Das war ein augenöffnende Erfahrung", so Wellinski.
Hauptdarstellerin Frances McDormand sei für die Vorbereitung auf diesen Film fünf Monate durch die Staaten gefahren, berichtet unsere Filmkritikerin Anke Leweke. Sie habe die Erfahrung machen wollen, wie es ist, in einem Van zu leben. "Und als dann jemand gesagt hat: Brauchen sie vielleicht einen Job? Sie können hier die Toilette putzen. Da wusste sie, jetzt kann sie diese Rolle spielen."

Ein zynisches Sittengemälde

Auch "Nuevo orden" von Michel Franco, ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Jury, sei eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung, so Leweke: "Man könnte von einem Sittengemälde sprechen." Geschildert werde eine gescheiterte Revolution. "Am Ende trifft es doch auch bei der Revolution wieder die Armen und die Ausgebeuteten, auch da sind sie die Opfer."
Die Gelbwesten-Demonstrationen und die Proteste in Hongkong hätten Regisseur Franco zu diesem Film inspiriert, berichtet Wellinski. "Aber er glaubt anscheinend nicht an den Wechsel." Das mache "Nuevo orden" leider etwas zynisch.

Vanessa Kirby als beste Darstellerin ausgezeichnet

Menschen, die sich politisch positionieren müssen, seien ein roter Faden der 77. Filmfestspiele von Venedig gewesen, meint Leweke. So auch in "Wife of a Spy" von Kiyoshi Kurosawa, der den Silbernen Löwen für die beste Regie gewonnen hat. Ein japanisches Ehepaar entdeckt während des Zweiten Weltkrieges, welche Kriegsverbrechen Japan in der Mandschurei begangen hat. Dieses Wissen bringt ihre Weltsicht ins Wanken. "Und über diese Erschütterung werden autoritäre Regime und Systeme skizziert", so Leweke.
Dass Pierfrancesco Favino für seine Rolle eines Richters, der in den 1960er-Jahren von radikalisierten Linken verfolgt wird, als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, habe ihn nicht überrascht, sagt Wellinski, "weil es gar nicht so viele männliche Hauptdarsteller gab, die um den Preis konkurrierten".
Ganz anders habe das bei den Darstellerinnen ausgesehen. Vanessa Kirby spielte ihre erste Hauptrolle in "Pieces of a Woman" von Kornél Mundruczó: eine Frau, die eine Totgeburt erlebt. "Und wie sie das spielt, ist außergewöhnlich." Ein Name, den man sich merken müsse, meint Patrick Wellinski.
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