Zu Besuch in der Zombiewerkstatt

Von Sophie Dannenberg · 22.03.2006
Neulich war ich zu Besuch in einem Berliner Gymnasium. Ein Lehrer hatte mich eingeladen, um mit den Schülern über Literatur zu diskutieren. Ich war voller Erwartung, als ich eine Stunde mit der U-Bahn hinfuhr, aber dann traute ich mich kaum durchs Schultor. Dort lungerten Kids mit düsteren Gesichtern, die dunklen Kapuzen ihrer Pullis tief in die Stirn gezogen.
Sie rauchten müde vor sich hin. Keiner beachtete mich, als ich, eine offensichtlich Fremde, an ihnen vorbeiging, ebenso wenig die Pausenaufsicht in der Eingangshalle. Die zwei Lehrerinnen starrten durch mich hindurch, wie die Kids vorm Eingang. Ich hätte auch ein Dealer sein können oder ein Dieb. In den Gängen schlurften mir Schüler entgegen, alle mit glasigem Blick. In der Klasse schließlich hingen sie auf den Tischen, während der Diskussion fraßen sie, tranken Cola und quatschten Privates. Die Bücher, um die es ging, fanden sie doof, weil das Lesen so anstrengend sei.

Mit Aufruhr und Widerstand hatte das nichts zu tun, da war nur selbstzufriedene Verwahrlosung. Die betraf auch den Lehrer. Er lümmelte halb liegend auf seinem Stuhl, die Hände tief in den Taschen seiner schlabbrigen Jeans vergraben, und auch er hatte diesen gelangweilten Blick ins pädagogische Nichts.

Ich begann, mich über diese Kids zu ärgern, über ihre verschlampten Lehrer und auch über ihre Eltern, die ihren Kindern offensichtlich nicht einmal Umgangsformen vermittelt hatten. Deprimiert stieg ich wieder in die U-Bahn. Bloß weg.

Diese Zombies sind doch wohl nicht unsere einzige Hoffnung, unsere Zukunft: unsere Denker und Macher, unsere Professoren, Gewerkschaftsbosse und Bundeskanzler. Jetzt, wo die demographische Katastrophe sich über uns zusammenbraut, sollen plötzlich alle Kinder kriegen, möglichst schnell und möglichst viele. Das soll die Lösung sein. Aber sind denn dies die Kinder, die uns einst retten werden? Und warum sind sie so, wie sie sind?

In der "Zeit" vom 16. März 2006 gibt uns Iris Radisch eine Erklärung: Sie warnt junge Frauen vor der Mutterschaft. Meist würden sie von ihren Kerlen sitzen gelassen, müssten nach der Arbeit die blöden Blockflötenkonzerte ihrer Kinder ertragen, müssten puzzeln und Schularbeiten kontrollieren. Der wahre Horror aber sei, wenn eine Familie irgendwie doch heil bleibt und ins Grüne zieht: Dann nämlich werden die Eltern zum Gespött ihrer "hippen Freunde".

Kinder, so meint Radisch, machen einsam, blöd und spießig. Also Finger weg. Das ist scheußlich, aber Frau Radisch hat Recht. Die Menschen, von denen sie schwärmt, die ihr soziales Vorbild abgeben, haben ganz gewiss jene Kinder, die ich bei meinem unglücklichen Schulbesuch kennen gelernt habe.

Hier passt alles. Auf der einen Seite die hassenden Eltern, auf der anderen Seite die hassenswerten Kinder. Diesen Eltern fehlt augenscheinlich die entfernteste Vorstellung von dem, was ein Kind bedeutet: Liebe und ein Versprechen an die Zukunft. Junge Eltern, die so angepasst sind, dass sie Angst vor den eigenen hippen Freunden haben, wären mit Power-Yoga besser dran. Von solchen Eltern werden meine Berliner Zombies produziert: Erst von den Vätern verlassen, dann von den ungeduldigen, schlecht gelaunten Müttern irgendwie durchgebracht.

Wie sollen Kinder neugierig werden, wenn nicht einmal ihre eigenen Eltern auf sie neugierig sind? Wie sollen sie Freude erfahren, am Lernen und am Leben, wenn niemand an ihnen Freude hat? Früher gab es das viel sagende Wort vom Menschen als Kanonenfutter; unsere nun plötzlich herbeigesehnten Kinder sind so was Ähnliches: Rentenfutter. Die Beziehung zwischen ihnen und uns gibt sich ganz offen instrumentell, auf einen einzigen Zweck reduziert. Die Kinder sollen was abwerfen, sie sollen uns retten, vor Armut und Überalterung, vielleicht auch vor Überfremdung.

Zuerst werden sie in Kindertagesstätten abgeschoben und dann vorm Fernseher geparkt, Stunde um Stunde. Später schenken wir ihnen "Dungeons & Dragon" und noch später die Ganztagsschule. Bloß weg damit, mit diesen Kindern, die keiner will.

Die Politik glaubt, sich Kinder kaufen zu können, als Haushaltstitel des Familienministeriums, ordentlich etatisiert. Wenn es nach unserer neuen Familienministerin geht, wird jeder bezahlt, der so einen lebenden Rettungsreifen in die Gesellschaft schmeißt. Es ist in den letzten Jahren viel vom sexuellen Kindesmissbrauch geredet worden. Es gibt aber noch einen anderen: den demographischen Missbrauch.

Natürlich kann man Kinder in Auftrag geben, aber dann werden sie so, wie ich sie erlebt habe. Vielleicht sollten wir uns erst mal um die Eltern kümmern, damit sie normal werden und ihre Kinder lieben können. Unsere Kinder sind doch nur so schrecklich, weil ihre Eltern so schrecklich sind: fahrig, böse und öde. Wir brauchen mehr Kinder, heißt es. Stimmt, und wir brauchen mehr - vor allem aber ganz andere - Eltern.


Sophie Dannenberg, Autorin, geboren 1971 in Gießen, studierte Philosophie und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften in Bayreuth sowie Theaterwissenschaft in Berlin, wo sie auch lebt. Sie arbeitet als Redakteurin bei der ARD. 2004 veröffentlichte Sie den Roman "Das bleiche Herz der Revolution" über die Kinder der 68er.