Zorniges Trostbuch für Mütter

15.02.2012
Rachel, Helen Walshs Romanheldin, kann und kann nicht schlafen: Ihr kleiner Sohn schreit immerzu, Hilfe will sie nicht annehmen, sie empfindet nichts, wenn sie ihn sieht. Ein Tabubruch - wie hin und wieder geschrieben - ist das Buch nicht, aber gut geschrieben allemal.
Schlafmangel kann schrecklich sein. Ein paar schlaflose Nächte genügen, um vernünftige Menschen in Zombies zu verwandeln. Und besonders vernünftig ist Rachel, die Heldin des neuen Romans von Helen Walsh, ohnehin nicht. Als sie Ruben, ihren ersten Freund, der sie schmählich verlassen hat, nach Jahren zufällig wiedertrifft, gibt es kein Halten mehr. Noch einmal will sie die sexuelle Leidenschaft erleben, die ihr seither nie mehr begegnet ist. In einem Hauseingang kommt es zum klassischen Abschiedsfick. Danach hält sie die Sache für erledigt und will nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Als ihre Periode ausbleibt, braucht sie keinen Schwangerschaftstest. Es ist klar, dass sie das Kind will, sie fühlt sich stark genug, es alleine zu schaffen, und als sie die kleine "Bohne" im Ultraschall sieht, ist es um sie geschehen. Voller Erwartung erlebt sie die Schwangerschaft, arbeitet weiter als Sozialarbeiterin in einem Jugendclub, und ist auch im Mutterschaftsurlaub jederzeit bereit, sich für ihre Schützlinge einzusetzen. Und dann läuft alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hat.

Die Strapazen der Geburt sind so grauenhaft, dass sie ein Komplott der Mütter vermutet, zu Zwecken des Gattungserhalts auf die Weitergabe ihres Wissens zu verzichten. Und auch das Kind macht sie nicht glücklich. Sie empfindet nichts, es ist ihr fremd. Allen Müttern um sie herum geht es besser als ihr. Denn ihre Kinder schlafen, während Joe, die ehemalige Bohne, schreit und schreit. Rachels Brüste sind wund von zahlreichen Stillversuchen, aber der Knabe scheint nicht satt zu werden. So schnell wie möglich verlässt sie das Krankenhaus, um den genervten Blicken der Mütter und den lieblosen Anweisungen der Hebammen zu entkommen.

Doch zuhause beginnt das eigentliche Martyrium. Schlaflose Nächte, schlaflose Tage, ein schreiendes Kind, Halluzinationen, Angstzustände, Hass und immer wieder die helle Panik, dem Sohn etwas anzutun. Rachels Mutter ist schon vor längerer Zeit gestorben, ihr Vater, ein Professor für Tropenmedizin, der schwer damit kämpft, dass sein Enkelsohn dunkelhäutig ist, unterstützt sie zwar nach Kräften, aber sie wehrt seine Hilfsangebote ab. Und so ist die verzweifelte Mutter meistens mit ihrem Sohn allein. Wir sehen sie schlaflos in der Wohnung herumtigern, mit dem schreienden Säugling aus Supermärkten fliehen, nachts durch die Straßen Liverpools streifen, völlig verloren und verzweifelt, beseelt von einem einzigen Wunsch: endlich wieder richtig zu schlafen.

Wie in ihrem ersten Roman, "Millie", der von Party-, Sex- und Drogen-Exzessen im Liverpool der 1990er Jahre erzählte, drückt die 1976 geborene Helen Walsh auch in ihrem dritten Roman, "Ich will schlafen!" ("Go to sleep") kräftig auf die Tube. Der Roman ist aus der Ich-Perspektive erzählt, meistens im Präsens, er taucht vollständig ein in die halluzinatorische Sicht seiner Heldin. Das ist gut gemacht, wenn auch sicherlich nicht "grandios", wie Charlotte Roche jubelte, die der Verlag zu Werbezwecken zitiert. Wie überhaupt das ganze Gerede von einem Tabubruch ziemlich albern ist. Denn welches Tabu soll hier gebrochen werden? Dass Babys ihre Mütter nicht schlafen lassen? Das ist hinreichend bekannt. Dass eine postnatale Depression mit Schlafmangel zu tun haben kann? Auch das ist nicht gerade neu. Ein zorniges Trostbuch für junge Mütter ist der Roman aber allemal. Und das sollte man nicht gering schätzen.

Besprochen von Meike Feßmann

Helen Walsh: "Ich will schlafen"
Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2012
320 Seiten, 19,99 Euro
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