Zivilisation am Scheideweg

Von Josef Schmid |
Der Wind der Veränderung weht immer stärker. Was und wen berührt er eigentlich nicht? Mit einem Gefühlsgemenge aus Abgestumpftheit und vager Hoffnung lassen wir uns Worte wie Globalisierung, Europäisierung, Weltmarkt um die Ohren fliegen. Doch scheinen sich diese tiefen Einflusse auf unser Dasein jeder Steuerung zu entziehen.
Wirtschaft und Gesellschaft, dieses komplizierte Zusammenspiel, hat das gerade noch überschaubare Spielfeld nationalstaatlicher Politik verlassen. Wir können nur hinterher sehen und abwarten, was uns ins Haus steht. Die Belastungen und Fehlentwicklungen sind immer weniger mit den herkömmlichen Mitteln eingreifender Politik abzumildern, weil sie zu einer Zeit erfunden wurden, die von heutigen Gegebenheiten noch nichts wusste. Gewiss gab es Außenhandel und Kolonialwirtschaft, aber nicht jenes Ausmaß von Direktinvestitionen rund um den Globus, der von Informationskanälen durchzogen ist. Auch weiß man, dass bei allgemeinen Verbesserungen die Frühsterblichkeit der Menschen zurückweicht, doch eine Verdoppelung der Lebenserwartung in gut 100 Jahren war nicht vorstellbar.

Unsere Zivilisation steht an einem Scheideweg: Denn zwischen dem Anstoß an Gütern und Leistungen, den das Gemeinwesen dringend braucht, und den Kräften, die diesen Anstoß möglich machen sollen, den Kräften der Erneuerung und Verjüngung, tut sich eine Lücke auf. Sie ist mit bloßen Reformen dort und da nicht zu füllen.

Der Nationalstaat ist der Organisator gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erneuerung. Er muss sich um Einnahmen kümmern, um die kollektiven Aufgaben, die er sich in der industriellen Moderne aufgeladen hat, wie die Bismarck'sche Alterssicherung zu bewältigen. Das fällt bei global vagabundierenden Wirtschaftseinheiten immer schwerer. Und so hält er sich an diejenigen, die nicht ausbüchsen können; nämlich an die wenig mobile Wohnbevölkerung, und erklärt das deutsche Nachkriegswunder mit Vollbeschäftigung und Versorgungsstaat als schönen Traum, aus dem es jetzt zu erwachen gilt. Doch das erfordert eine Rückkehr zu Verhaltensweisen, die das Wirtschaftswunder und seine Wahlgeschenke beseitigt haben. Man könnte sie mit dem Ludwig Erhard'schen Wort "Selbstsorge" zusammenfassen und mit "Subsidiarität": Nur dort soll von oben geholfen werden, wo von unten her schon alles getan worden ist. Die staatlichen Mittel hierzu schwinden, wenn die Freie Wirtschaft, die das Rückgrat und letztlich Lieferant nationaler Freiheit ist, in transnationale Räume abwandert. Die erzliberale Beruhigungspille, dass das globale Chaos ebensoviel Lebenserleichterung und auf Umwegen Gewinne erbringt, die es anfangs zu rauben scheint, muss ihre Wirkung erst noch beweisen.

Ein Politikmix mit mutigen Schnitten von oben und eine Portion Einsicht und Hinnahme dieser Maßnahmen von unten wäre Anpassung genug, um wenigstens der wirtschaftlich-finanziellen Seite der Sache eine Atempause zu verschaffen.

Die Lücke jedoch, die ebenfalls alle Politikfelder berührt, und die zu füllen die Völker auf sich allein gestellt sind, ist die Babylücke: das Heer Ungeborener, das die Zahl der gleichzeitig alternden und betagten Menschen nicht mehr austariert. Die demographische Asymmetrie, die Gewichtsverlagerung in Richtung des dritten Lebensabschnittes bleibt eine Generation lang unbeachtet, vor allem dann, wenn sich Politik und Einrichtungen in der Sicherheit wiegen, die Kosten einer langsam alternden Gesellschaft immer aufbringen zu können. Jede anders lautende Äußerung wäre auch tödlich in einer Wiederwahldemokratie.

Die demographische Schieflage ist eine Baustelle, die die Dimension des althergebrachten politischen Handelns sprengt. Nach einer Generation von etwa 30 Jahren ist die Zeit für Zögern, Zaudern, Nazizeit-Vergleiche abgelaufen, denn da kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ins heiratsfähige Alter und werden – wenn nichts geschieht – noch weniger Kinder in die Welt setzen als die Eltern – und so weiter! Da sich die Einwanderungsschleuse als Illusion mit gefährlichen Nebenfolgen erwiesen hat, steht Deutschland vor einer Entscheidung zum Kulturwandel. Er ist nur noch mit dem vom Agrarstaat zur Industrialisierung zu vergleichen und übertrifft das verblasene Phrasenwörtchen von der "Herausforderung". Die Alterung wird Ausmaße und Folgen zeigen, die für uns heute noch unvorstellbar sind, aber unausweichlich kommen.

Anpassung heißt hier jedoch etwas anderes: kein Vorwärtsstürmen in den Individualismus, kein Nomadentum zum Zwecke ich-bezogener Wohlstandsoptimierung zwischen Single-Dasein und kinderlosem getrennten Zusammenleben, serieller Monogamie, um sich schließlich in der Ersatzreligion universeller Menschenrechtsgefühle zu verflüchtigen. Die Demographie wird dieser entfesselten Ultra-Moderne den Garaus machen. Jede Alterspyramide – auch die untragbare, belastende – ist kollektiv herbei gelebt. Daher brauchen wir stabile Elternbeziehungen, weil aus ihnen die kommenden Leistungsträger hervorgehen und weil für das eigene Alter und den Nachwuchs in neuartiger Form materiell vorgesorgt werden muss. Ehe und Familie ruhen wieder mehr auf existenziellen Nöten und nicht mehr allein auf Sympathie und Gefühlen eines flüchtigen Lebensabschnittes. Die Alterung der Gesellschaft wird sich nicht globalisieren oder europäisieren lassen. Sie bleibt untrennbar der Solidargemeinschaft verhaftet, ist kein Scheck, der wegen mangelnder Deckung zurückgehen kann.

Das ist kein Rückfall in überwundene Epochen, sondern ein Rücktritt von dem zivilisatorischen Dünkel, Lebensgesetze, wie sie sich in der Generationsablöse zeigen, ignorieren zu können.


Josef Schmid, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Seit 1980 ist Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, Kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie (1976); Bevölkerung und soziale Entwicklung (1984); Das verlorene Gleichgewicht - eine Kulturökologie der Gegenwart (1992); Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation (2000). In "Die Moralgesellschaft - Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.