Tagebau Turow bei Zittau

Wenn das alte Haus plötzlich Risse bekommt

10:42 Minuten
Im Vordergrund ist ein großer Braunkohletagebau zu sehen, im Hintergrund ein Kraftwerk, bei dem weiße Rauchwolken nach oben steigen.
Der Tagebau Turow und das Kraftwerk gehören dem staatlichen Energiekonzern PGE. Der Komplex steht nah der Grenze zu Deutschland und Tschechien – womöglich mit Folgen für das Grundwasser in der ganzen Gegend. © picture alliance / NurPhoto / Dominika Zarzycka
Von Michael Frantzen · 02.01.2023
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Henry Smala gehört ein 250 Jahre altes Haus in Zittau. Neuerdings treten Schäden an der Wand auf, der pensionierte Handwerker führt sie auf den Tagebau Turow in Polen zurück. Zittau klagt inzwischen – vor einem Verwaltungsgericht in Warschau.
„Jetzt hab ich schon wieder Risse hier drinne. Hier! Und das ist ärgerlich.“ Die Risse an seinem Haus in der Altstadt von Zittau rauben Henry Smala langsam den Verstand.
Dem pensionierten Heizungsbauer sackt in seinem 250 Jahre alten, renovierten Stadthaus in der 25.000-Einwohnerstadt im deutsch-tschechisch-polnischen Dreiländereck im wahrsten Sinne des Wortes der Boden unter den Füßen weg.
"Sehen sie das? Das haben die neu gemacht hier?", zeigt Smala auf die Hauswand. Zuvor seien da Risse drin gewesen. "So hier! Dass man die Hand durchstecken konnte.“

Braunkohle-Tagebau hinter der Grenze

Einen fünfstelligen Betrag hat der 67-jährige Sachse schon für Reparaturen ausgegeben. Für die Fassade, die Werkstatt, letztes Jahr für die Fundamente. Alles nur wegen Turow.
Smala seufzt leise, dann zeigt er in seinem wildromantischen Hinterhof nach rechts: Hinter der windschiefen Mauer, keine vier Kilometer entfernt, auf polnischer Seite liegt sie: Die Tagebaugrube.
An einer Hauswand ranken sich Gewächse. Quer im weißen Putz verlaufen Risse.
Henry Smala beklagt Risse in den Mauern seines Hauses in Zittau. Für ihn ist klar, dass sie vom Tagebau Turow in wenigen Kilometern Entfernung hinter der Grenze zu Polen verursacht werden.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Auf einer Fläche von 26 Quadratkilometern hat sich der staatliche polnische Energiekonzern PGE rund 300 Meter tief in den Boden gefressen, letztes Jahr zwölf Millionen Tonnen Braunkohle ans Tageslicht gefördert.
Das Problem ist: Je tiefer sich die Bagger in die Erde graben, desto mehr Grundwasser fließt zur polnischen Seite ab, desto mehr zerreißt es die Häuser in der Zittauer Altstadt.

Tschechen bekommen Hilfe

Um einen Meter ist der Boden schon abgesackt. Smala hat das schriftlich. Es gibt zwei Gutachten, eines von einem renommierten Geologen, das andere von Greenpeace. Für Smala ist die Sache klar – und er verlangt Abhilfe: "Eben auch so eine Schutzmauer, in die Erde rein – dass sie Wasser zurückhalten.“
Die tschechischen Nachbarn – auch sie leiden unter Turow – bekommen das, was sich Smala wünscht: Im Februar letzten Jahres unterzeichneten die polnische und tschechische Regierung einen Vertrag.
Danach spendiert Polen Tschechien einen Erdwall und zudem 45 Millionen Euro Entschädigung. Im Gegenzug nahm die tschechische Regierung ihre Klage gegen Turow vor dem Europäischen Gerichtshof zurück.

Keine Entschädigung für Zittau

Smalas Frau Bärbel hat auch davon gehört. Sie schaut in ihrer Änderungsschneiderei im Erdgeschoss hoch. Unfassbar, das Ganze. Die Mittsechzigerin bessert gerade eine Winterjacke aus, versucht zu retten, was noch zu retten ist.
Die Oberlausitzerin war schon nachhaltig, als es das Wort noch gar nicht gab. Umso mehr regt sie der Weiterbetrieb von Turow auf; dass die deutsche Seite leer ausgeht; dass sie selbst zusehen muss, wie immer wieder neue Risse in ihrer Schneiderei auftauchen.
Ein Mann im roten Pullover und dunkler Jeans steht vor einem Haus. Durch ein Fenster fällt der Blick in ein Schneideratelier, in dem eine Frau arbeitet. Die blonde Frau sieht man von hinten.
Henry Smala will verhindern, dass der Boden weiter absackt. Seine Frau Bärbel hat eine Schneiderei im Haus.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
„Ich hab mir eigentlich auch schon einen kleinen Strich gemacht. Dass ich weiß: OK, der Strich war jetzt so. Und in vierzehn Tagen ist er vielleicht einen Zentimeter weiter oben oder zwei Zentimeter", schildert sie. "Es ist krass. Wir haben’s wirklich erst letztes Jahr machen lassen. Und einen Handwerker zu bekommen, ist ja och schwierig bei uns.“

Anlegen mit der Energiebranche

Im Nachbarhaus wohnt Torsten Lutius. „Ich bin Mieter. Mich geht das alles nichts an“, konstatiert der Ex-Versicherungsvertreter. 20 Jahre lang hat der Zittauer Policen verkauft. Bis er genug hatte und Berufsbetreuer wurde. „Ich versuch was, für mein Karma zu tun“, erzählt Lutius grinsend.
Wie findet er das mit den Rissen? „Es sind Risse in den Häusern, ja. Aber da gibt's tausend Gutachten. Und Gegengutachten. Das ist, wie wenn man gegen eine Pharmaindustrie kämpfen würde. Die Industrie ist einfach zu groß dafür.“
Die Energieindustrie. Noch dazu, wo Braunkohle in Deutschland eine Renaissance erlebt, wegen der Energiekrise; wo polnischer Strom in der Bundesrepublik wieder gefragt ist.
Der 53-Jährige bleibt vor seiner Wohnungstür stehen, bevor er sich noch einmal umdreht und meint: So viel besser als die Polen seien die Deutschen auch nicht.
„Wir haben genauso hier auch Busse durchfahren, die och zum Schütteln vom Haus führen. Draußen jetzt die Baustelle ist das gleiche. Da explizit genau zuzuordnen, zu Turow, ist so unendlich schwer.“

Die ewige Schuldfrage

Auf der anderen Seite der Mauer verzieht Henry Smala das Gesicht. Er kann es langsam nicht mehr hören. Die alte Leier, wonach das mit den Rissen an ihnen selbst liegt: an den stillgelegten Kohleschächten auf deutscher Seite.
Der Tagebau im benachbarten Olbersdorf sei schon 1991 geflutet worden, entgegnet er, der erste Riss in seinem Haus sei aber erst vor vier Jahren aufgetreten.
Wie der polnische Energieriese PGE die Angelegenheit bewertet, wer aus dessen Sicht wie wann Schuld hatte, lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Diverse Anfragen laufen ins Leere.
Smala schaut auf seine Uhr. Es wird Zeit. Er muss noch ein undichtes WC-Rohr reparieren. Außerhalb von Zittau. Zwei, drei Mal die Woche verdient sich der Rentner so etwas dazu. Geld für die nächste Reparatur.
„Ich stand bis jetzt immer alleine da. Ich hab den Bürgermeister noch nicht einmal gesehen bei mir, oder jemanden vom Bauamt", kritisiert er. "In der Kaufhalle sprechen mich die Leute an: Bist ja schon wieder im Fernsehen. Und: Was ist denn mit deinem Haus? Aber von öffentlicher Stelle: Null.“

Bürgermeister und Ministerpräsident

Besuch in Zittaus öffentlicher Stelle: Zurzeit ist das eine eher frostige Angelegenheit.
„Wir haben 19 Grad im Rathaus. Die 200 Mitarbeiter der Stadtverwaltung merken das schon sehr deutlich. Dass sie jetzt 'nen bisschen dickere Unterwäsche anziehen müssen, um in ihren Büros zu arbeiten.“
Es ist Donnerstag kurz nach zehn und die Laune von Oberbürgermeister Thomas Zenker dank dicker Unterwäsche bestens.
Thomas Zenker, der Oberbürgermeister von Zittau, steht auf einem Platz in Zittau. Er trägt einen dunklen, längsgestreiften Anzug. Der Mittvierziger trägt die dunklen  Haare schwungvoll nach links gekämmt.
Oberbürgermeister Thomas Zenker (parteilos): Zittau klagt inzwischen, weil der Rathauschef Mängel bei einem Umweltverträglichkeitsgutachten zu Turow sieht.© picture alliance / dpa / Miriam Schönbach
Es lief in letzter Zeit ganz gut für ihn: Im September richtete Zittau das sächsische Erntedankfest aus – gute Publicity; genauso wie der Besuch von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im Dezember anlässlich einer Brückeneinweihung.
Der MP schaue regelmäßig vorbei, erzählt der 47-jährige Rathauschef. Im Sommer waren die beiden zusammen wandern im Zittauer Gebirge.

Klage der Stadt Zittau

Kamen sie auch auf Turow zu sprechen, das klaffende Loch unten im Tal? „Die polnische Seite gewinnt ihre Energie auf ihre Weise, wir auf unsere. Und wir alle stecken in diesem Energiewendethema natürlich drin", sagt der Rathauschef. "Ich bin aber nicht der Richtige, um den Polen zu sagen, wann und wie sie aus der Kohle aussteigen sollen."
Er habe hab immer gesagt, der Tagebau müsse in seinen Auswirkungen bewertet werden. "Und zwar so, dass wir diese Bewertung anerkennen und ihr vertrauen", führt er aus. Das sei derzeit aber nicht der Fall.
"Das Umweltverträglichkeitsgutachten ist nicht korrekt abgelaufen, nicht korrekt bewertet", meint er. "Und trotzdem hat’s die Genehmigung gegeben. Und deshalb klagen wir jetzt.“ Und zwar vor dem Verwaltungsgericht in Warschau.
Dazu muss man wissen: Zwar habe die polnische Regierung ein Umweltverträglichkeitsgutachten erstellen lassen, doch das sei lückenhaft, moniert Zenker. Deshalb die Klage. Im November haben sich der Stadtrat und er darauf verständigt.

Warten auf die polnische Justiz

Dem parteilosen Bürgermeister ist das nicht leichtgefallen. Schließlich will er es sich mit seinem Amtskollegen auf polnischer Seite, dem Bürgermeister von Bogatynia, nicht verscherzen. 
"Wir stehen im engen Kontakt", betont er. Als Zittau im Stadtrat entschieden habe zu klagen, weil die Frist ablief, um noch irgendwas zu tun, habe er an dem Tag noch sein Pendant darüber informiert, dass wir gezwungen sind, so zu handeln.
"Mit dem Hinweis: Uns geht’s nicht drum, dort mehreren Tausend Polen die Existenzgrundlage zu entziehen. Sondern uns geht’s darum, die Auswirkungen auf UNS zu wissen – und wo nötig einzudämmen.“
Der Tagebau jenseits der Neiße, er verfolgt Zittaus Oberbürgermeister seit Jahren. Da sind ja nicht nur die Risse in den Häusern, sondern auch die Feinstaubbelastung und der Lärm.
Der OB muss sich jetzt in dem üben, was ihm eigentlich nicht so liegt: im Warten. Darauf, dass die Mühlen der polnischen Justiz anfangen zu mahlen. Illusionen macht er sich keine.  

Justitiar klagt auch als Privatmann

Bis vor Kurzem war Thomas Zenker noch Horst Schiermeyers Boss, der gebürtige Ostwestfale Justitiar bei der Stadt Zittau. „Ich habe auch Klage eingereicht, gegen die Umweltverträglichkeitsprüfung, das Ergebnis der Umweltverträglichkeitsprüfung.“
Wenn sich jemand im Paragrafendschungel auskennt, dann der Mann, der 1991 von Bielefeld nach Zittau zog und der eine Klage aus eigener Tasche zahlt. „Ist dann halt nicht die Stadt alleine, die klagt. Da bin ich dann auch noch", erklärt er. "Was dabei rauskommt: keine Ahnung. Es gibt keine Erfahrungen mit der polnischen Rechtsprechung.“ 
Auch der Alt-68er wohnt in der Innenstadt, direkt am Ring. Auch er ist Besitzer eines 250 Jahre alten Stadthauses, samt Innenhof und einer Werkstatt, aus der er und seine Frau eine Ferienwohnung gemacht haben.

Kein Interesse auf Landes- oder Bundesebene

Eine Bilderbuchidylle, wenn da nicht die Risse wären, im Innenhof, an der Fassade. Nicht ganz so schlimm wie bei den Smalas, aber sichtbar. Auch deshalb klagt der Grüne. Und weil Turow bis 2044 wachsen soll.
„Die Grube soll ja etwa noch 30 Meter vertieft werden. Die Vertiefung ist ein Problem: Je tiefer ich gehe, desto mehr greife ich ein. Da läuft das Wasser dann raus, muss abgepumpt werden. Und was oben drüber ist, sinkt dann halt nach. Was da genau passieren wird, das wissen wir nicht.“
Im hintersten Zipfel Sachsens. Auch Schiermeyer hat mitbekommen, dass Ministerpräsident Kretschmer zu Besuch war.
Seit Jahren hofft er darauf, dass auch der Freistaat gegen Turow klagt. Vergeblich. Und der Bund? Berlin? Der pensionierte Jurist winkt ab. Hat noch weniger Interesse.

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