Ziel ist ein Ausbildungsplatz für jeden Schüler

Dilek Kolat im Gespräch mit Christopher Ricke · 21.12.2012
Derzeit sei die Jugendarbeitslosigkeit in Berlin mit über 13 Prozent doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, sagt die Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, Dilek Kolat (SPD). Mit dem Programm "BerlinArbeit" wolle man diesen Missstand "ganz konkret" bekämpfen.
Christopher Ricke: Sie hören Deutschlandradio Kultur, und wir sprechen über ein Problem, das überaus irdisch ist: Es ist die Jugendarbeitslosigkeit. Dramatisch hoch, vor allem in den südeuropäischen Krisenländern, und ein Wirtschaftsweiser hat in diesen Tagen erst gesagt, Jugendarbeitslosigkeit ist keine Wunde, die schnell verheilt. Im Gegenteil, sie hinterlässt eine hässlichen Narbe, die das gesamt Erwerbsleben in Form geringer Job- und Einkommenschancen sichtbar bleibt. In Spanien und Griechenland ist inzwischen die Hälfte der jungen Menschen ohne Job.

Auch in Deutschland gibt es große Probleme, wenn sie auch nicht so riesig sind wie im Süden Europas. Aber immerhin: In Berlin zum Beispiel ist jeder siebte Jugendliche ohne Arbeit. Die Quote ist doppelt so hoch wie im deutschen Durchschnitt, und das, obwohl sich eigentlich der Arbeitsmarkt auch in Berlin in den letzten Jahren durchaus belebt hat. Ich sprach mit Dilek Kolat, sie ist die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration.

Frau Kolat, warum kommt denn die Erholung am Arbeitsmarkt bei den Jugendlichen in Berlin nicht an?

Dilek Kolat: Weil das Problem etwas tiefer gehender ist. Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich in den letzten Jahren aufgebaut, und ich meine, dass in der Berliner Arbeitsmarktpolitik das auch nicht so sehr im Fokus stand. Ich musste erst Arbeitssenatorin werden, um festzustellen, dass in Berlin die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch ist mit über 13 Prozent. Das ist doppelt so viel als im Bundesdurchschnitt. Und das steht jetzt im Fokus von unserem neuen Arbeitsmarktprogramm "BerlinArbeit" – die Jugendarbeitslosigkeit ganz konkret zu bekämpfen, und meine Zielmarke ist, unter zehn Prozent zu kommen.

Ricke: Jetzt haben Sie ja gerade erst in dieser Woche Berliner Betriebe besucht, die, und das muss man sich jetzt vorstellen, Praktikanten im Rahmen einer Einstiegsqualifizierung beschäftigen. Das heißt also, man braucht ein Praktikum, bevor man dann überhaupt als ausbildungsreif betrachtet wird. Ist das denn nur ein Angebot für Schulabbrecher?

Kolat: Das ist jetzt wirklich so was wie eine Krücke. Also, wir zielen natürlich darauf ab, und das ist auch das, was ich anstrebe, dass Jugendliche in eine betriebliche Ausbildung kommen. Das ist Ziel Nummer eins. Jeder Jugendliche, der von der Schule kommt, muss eine Chance haben, in einem Betrieb einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Leider gelingt das nicht, auch auf dem Berliner Ausbildungsmarkt nicht. Ganz aktuell läuft ja nun das Ausbildungsjahr, und wir stellen fest, dass über 1700 Jugendliche noch unversorgt sind, das heißt, die haben noch keinen Ausbildungsplatz gefunden. Und dem stehen 1200 betriebliche Ausbildungsplätze [gegenüber], die noch nicht besetzt sind.

Und jetzt kommen wir und sagen, wie kann man eigentlich jetzt Abhilfe leisten, dass ist einfach ungemein schade, dass auf der anderen Seite so viele Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden und auf der anderen Seite Betriebe ihre Plätze nicht besetzen können. Wir reden da auch von einem Mismatch, und die Einstiegsqualifizierung ist eine Möglichkeit, um hier Abhilfe zu leisten. Das ist einfach nur die Möglichkeit für Betriebe, so einen Langzeitpraktikumsplatz einzurichten, wenn sie den richtigen Jugendlichen nicht gefunden haben. Dass sie dann nicht die Türen zu machen und sagen, ich hab jetzt keinen Jugendlichen gefunden, der zu mir passt, sondern über Einstiegsqualifizierung die Türen wieder öffnen für Jugendliche, die sie vielleicht erst mal nicht reinlassen würden. Und die Erfahrungen zeigen, dass über so eine Einstiegsqualifizierung die Unternehmen und die Jugendlichen sich kennenlernen und dass am Ende doch ein Ausbildungsvertrag zustande kommt. Die Quoten sind sehr hoch mit 70 Prozent. Und deswegen wollen wir in Berlin, das macht die Regionaldirektion, fördert so einen Einstiegsqualifizierungsplatz. Die kann man unterstützen, und ich unterstütze das auch ganz aktiv, weil das eine gute Lösung ist auch für Jugendliche.

Ricke: Jetzt gibt es ja verschiedene Türen, die aufgemacht werden müssen. Erst ist es gut, wenn man einen Schulabschluss hat, dann ist es gut, wenn man einen Ausbildungsplatz findet. Aber dann, und auch das ist inzwischen Bestandteil der Politik, muss man dafür sorgen, dass der Jugendliche tatsächlich auch die Lehrzeit durchhält, also drei Jahre durchhält, die Ausbildung nicht abbricht. Kann man denn bestimmte Gruppen ausmachen, wo das Risiko, das eine Ausbildung abgebrochen wird, besonders groß ist?

Kolat: Ja. Wir haben in Berlin 27 Prozent Abbruchquote. Bundesweit sind es 23 Prozent. Im Rahmen von "BerlinArbeit" haben wir definiert, dass wir auf 23 Prozent runter kommen wollen. Wie wollen wir das schaffen? Das beginnt schon bei der Berufsorientierung. Das heißt, der Jugendliche kommt aus der Schule und entscheidet sich für einen Beruf. Auf welcher Grundlage wird diese Entscheidung getroffen?

Leider zeigen die Erfahrungen, und das können Sie an der Statistik ablesen, welche Berufe die Jugendlichen nachfragen. Die Top-Ten-Berufe sind sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen über Jahrzehnte lang immer gleich. Die kennen nur die gleichen Berufe, obwohl wir in Berlin schon inzwischen über 360 Berufe haben. Das heißt, wir müssen es schaffen, dass während der Schule, im Rahmen der Berufsorientierung, die Jugendlichen das ganze Berufsspektrum mitbekommen. Und wir stellen auch fest, dass die Jugendlichen, die die Berufe auch kennen, keine aktuellen Kenntnisse haben, wie die Ausbildung tatsächlich ist.

Das heißt, wenn man diese Kenntnisse als Jugendliche nicht hat und dann eine Entscheidung trifft für einen Beruf, dann aber, dann eben feststellt, das ist doch nicht der richtige Beruf für mich, es dann zum Abbruch kommt. Es gibt darüber hinaus natürlich auch andere Gründe. Wenn jemand sich für ein Studium entscheidet oder dann doch arbeiten gehen will oder ganz individuelle Gründe für einen Abbruch – manchmal passen einfach Jugendliche und ein Betrieb von der Kultur her nicht zueinander. Sie verstehen sich einfach nicht. Und da wollen wir eben auch helfen mit einem Mentoring-Programm.

Ricke: Sie sind ja nicht nur die Senatorin für Arbeit, sondern auch die für Integration. Ist denn das Problem bei Jugendlichen, die als integrationswürdig gelten, größer als bei denen, die als integriert gelten?

Kolat: Es ist leider der Fall, dass wir in Berlin auch eine hohe Arbeitslosigkeit haben unter Menschen mit Migrationshintergrund, und darunter auch bei den Jugendlichen. Deswegen ist es wichtig, die Jugendlichen mit Migrationshintergrund als, ja, speziell noch mal zu betrachten. Wir haben sehr gute Ansätze für den öffentlichen Dienst schon entwickelt. Wir haben ein Konzept entwickelt in den letzten Jahren, interkulturelle Öffnung. Wir haben gesagt, wir wollen im öffentlichen Dienst, in den landeseigenen Betrieben den Anteil von Menschen oder Jugendlichen mit Migrationshintergrund erhöhen.

Und das passiert nicht, indem man das einfach so beschließt, sondern wir haben erst mal angefangen mit einer Kampagne "Berlin braucht dich", um überhaupt die Jugendlichen mit Migrationshintergrund anzusprechen und zu sagen, ihr seid im öffentlichen Dienst erwünscht. Bewerbt euch für Polizei, Feuerwehr oder aber auch für den Verwaltungsdienst. Neben dieser Kampagne haben wir dann auch ein Netzwerk in Berlin gebildet zwischen Schulen und Betrieben.

Das funktioniert einmalig, und wir haben es geschafft, dass sowohl bei den landeseigenen Betrieben als auch im öffentlichen Dienst für den Auszubildenden der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund von acht Prozent auf 19 Prozent gestiegen ist. Das ist ein super Erfolg. Und unser Modell, interkulturelle Öffnung, was wir für den öffentlichen Dienst entwickelt haben, bekommt jetzt Interesse von der Privatwirtschaft.

Ricke: Frau Kolat, Sie gelten ja als Vorzeigeintegrierte mit Ihrer eigenen Erfolgsgeschichte von der Geburt in der Türkei über die Schule in Neukölln bis zum Abitur und dann in die Regierung der Hauptstadt Berlin. Ist das noch beispielgebend oder ist das inzwischen schon normal?

Kolat: Das ist inzwischen auch normal. Es gibt sehr viele Erfolgsgeschichten und Integrationserfolge auch in unserer Stadt Berlin, aber in Deutschland auch insgesamt. Wir haben es inzwischen so weit, dass in allen Politikfeldern, dass in allen Branchen, dass wir in allen Bereichen sehr viele Migranten haben. Schauen Sie sich die Medien an, Fernsehen, Schauspielerinnen, Schauspieler. Wir haben Sportler, es gibt Rechtsanwälte, es gibt Künstlerinnen und Künstler. Es gibt Ärzte ganz viele, also wir haben in allen – Unternehmerinnen und Unternehmer, viele Existenzgründungen bei Menschen mit Migrationshintergrund. Das heißt, da ist eine ganze Menge passiert in den letzten Jahren, und ich finde es schade, dass diese erfolgreichen Integrationsgeschichten, oder soziale Aufstiegsgeschichten, muss man ja eigentlich sagen, nicht in der Öffentlichkeit so stark wahrgenommen werden als die eben nicht gelungenen Beispiele.

Ricke: Dikel Kolat ist die Berliner Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration. Vielen Dank, Frau Kolat.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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