Zeugnis für mutigen Journalismus
Rodolfo Walsh ist eine legendäre Gestalt in Argentinien. Er starb mit nur 50 Jahren, am 25. März 1977, im Gewehrfeuer eines Sonderkommandos, das ihm auf offener Straße aufgelauert hatte. Am Tag zuvor hatte er einen offenen Brief an die Militärjunta verfasst, die Argentinien bis 1983 mit harter Hand regieren sollte.
Bevor Walsh sein Hauptwerk, den Bericht über das Massaker von San Martín, schrieb, war er Journalist und Verfasser von Kriminalgeschichten gewesen, ein ziemlich unpolitischer Mensch, der gerne Schach spielte. Ende 1956 hörte er beim Schachspiel in seinem Stammcafé erstmals Gerüchte über die wahren Ereignisse in der Nacht des 9. Juni 1956.
An diesem Tag war es zu einem Aufstand gegen die Regierung der sogenannten Befreiungsrevolution der Generale Aramburu und Rojas gekommen, und Walsh selbst war Zeuge einer nächtlichen Schießerei ganz in der Nähe seines Hauses in Buenos Aires geworden. Er habe die Schreie eines sterbenden Soldaten gehört, erinnert er sich in seinem Vorwort zu "Operación Masacre", aber mit Politik nichts zu tun haben wollen.
Dann erzählt man ihm, eines der Opfer lebe noch. Rodolfo Walsh macht sich auf die Suche. Im Mai 1957 erscheint sein "Tatsachenbericht nach den Aussagen Erschossener" (so der Untertitel der deutschen Erstausgabe), zunächst als Serie in einer Zeitschrift, später als Buch. Dieses Buch ist ein Vorläufer der großen Reportageliteratur, ein Zeugnis für mutigen investigativen Journalismus, der sich streng an die Fakten hält und den Leser in die Recherchen des Autors einbindet.
Walsh' erster Gesprächspartner war ein Mann mit einem Einschussloch in der Wange und einer Austrittsnarbe an der Kehle. Nach und nach fand er andere "Erschossene", insgesamt sieben Männer, die nachts zu einer Müllhalde gebracht worden waren, um getötet zu werden, ohne Gerichtsverhandlung, ohne auch nur eine Untersuchung. Die meisten von ihnen hatten in der Wohnung eines Nachbarn Karten gespielt und im Radio einen Boxkampf gehört und hatten mit dem Aufstand nichts zu tun.
Rodolfo Walsh recherchierte nicht nur überaus gewissenhaft, er schrieb auch so. Jedes Wort in diesem Bericht ist abgewogen, jedes trifft: Mit ein paar Sätzen charakterisiert er die Menschen, um die es geht, erfasst er die Szenerien in großer Lebendigkeit. Gnadenlos und nüchtern zeichnet er den Ablauf dieser Verbrechen nach und folgt den Protagonisten, die überlebten.
Man könnte meinen, ein Buch über ein Ereignis, das seit mehr als einem halben Jahrhundert Geschichte ist, lohne die Lektüre nicht. Doch auch wenn man noch nie von dieser argentinischen Nacht oder der Regierung Aramburu gehört hat: Man wird mitgerissen von der schrecklichen Dynamik dieser Geschichte. Sie könnte sich auch vor Kurzem in Mexiko oder Kolumbien abgespielt haben, im Kaukasus oder in Gaza.
Besprochen von Katharina Döbler
Rodolfo Walsh, Das Massaker von San Martín
Aus dem Spanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Erich Hackl
Rotpunktverlag, Zürich 2010. 255 Seiten, 19,50 Euro
Deutschlandradio Kultur ist Medienpartner bei www.litprom.de - der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. mit der Weltempfänger-Bestenliste
An diesem Tag war es zu einem Aufstand gegen die Regierung der sogenannten Befreiungsrevolution der Generale Aramburu und Rojas gekommen, und Walsh selbst war Zeuge einer nächtlichen Schießerei ganz in der Nähe seines Hauses in Buenos Aires geworden. Er habe die Schreie eines sterbenden Soldaten gehört, erinnert er sich in seinem Vorwort zu "Operación Masacre", aber mit Politik nichts zu tun haben wollen.
Dann erzählt man ihm, eines der Opfer lebe noch. Rodolfo Walsh macht sich auf die Suche. Im Mai 1957 erscheint sein "Tatsachenbericht nach den Aussagen Erschossener" (so der Untertitel der deutschen Erstausgabe), zunächst als Serie in einer Zeitschrift, später als Buch. Dieses Buch ist ein Vorläufer der großen Reportageliteratur, ein Zeugnis für mutigen investigativen Journalismus, der sich streng an die Fakten hält und den Leser in die Recherchen des Autors einbindet.
Walsh' erster Gesprächspartner war ein Mann mit einem Einschussloch in der Wange und einer Austrittsnarbe an der Kehle. Nach und nach fand er andere "Erschossene", insgesamt sieben Männer, die nachts zu einer Müllhalde gebracht worden waren, um getötet zu werden, ohne Gerichtsverhandlung, ohne auch nur eine Untersuchung. Die meisten von ihnen hatten in der Wohnung eines Nachbarn Karten gespielt und im Radio einen Boxkampf gehört und hatten mit dem Aufstand nichts zu tun.
Rodolfo Walsh recherchierte nicht nur überaus gewissenhaft, er schrieb auch so. Jedes Wort in diesem Bericht ist abgewogen, jedes trifft: Mit ein paar Sätzen charakterisiert er die Menschen, um die es geht, erfasst er die Szenerien in großer Lebendigkeit. Gnadenlos und nüchtern zeichnet er den Ablauf dieser Verbrechen nach und folgt den Protagonisten, die überlebten.
Man könnte meinen, ein Buch über ein Ereignis, das seit mehr als einem halben Jahrhundert Geschichte ist, lohne die Lektüre nicht. Doch auch wenn man noch nie von dieser argentinischen Nacht oder der Regierung Aramburu gehört hat: Man wird mitgerissen von der schrecklichen Dynamik dieser Geschichte. Sie könnte sich auch vor Kurzem in Mexiko oder Kolumbien abgespielt haben, im Kaukasus oder in Gaza.
Besprochen von Katharina Döbler
Rodolfo Walsh, Das Massaker von San Martín
Aus dem Spanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Erich Hackl
Rotpunktverlag, Zürich 2010. 255 Seiten, 19,50 Euro
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