Zeugnis einer Zeitenwende
Das Buch "Der Fremdling" ist ein Klassiker der türkischen Literatur. Er erschien 1932 im Original und wird nun vom Suhrkamp Verlag neu kommentiert herausgegeben. Darin verschlägt es einen verwundeten Offizier aus Istanbul aufs Land, wo den Bauern der Kampf fürs Vaterland egal ist. Ihr Leben ändert sich, als griechische Truppen einmarschieren.
Da ist der tapfere Offizier Ahmet Celâl für sein Vaterland in den Krieg gezogen, hat sein Leben riskiert und seinen rechten Arm verloren und muss anschließend feststellen, dass seinen Landsleuten die Angelegenheit schlichtweg gleichgültig ist. Ach, gekämpft habe er, wundern sich die anatolischen Bauern, aber wozu denn? Das Wetter, neues Saatgut, die Ernte, die Verheiratung einer Tochter – alles liegt ihnen näher als ausgerechnet das Vaterland. Als der adlige Offizier sie verzweifelt auf ihr Türkentum hinweist, entgegnen ihm die Bauern voller Herablassung, dass sie damit nichts zu tun hätten, schließlich seien sie keine Türken, sondern Mohammedaner.
Der Held in Yakup Kadris Klassiker Der Fremdling, 1932 im Original herausgekommen und nach der Erstveröffentlichung auf Deutsch von 1939 jetzt neu kommentiert im Suhrkamp Verlag erschienen, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er ist ein gebildeter Mann, beherrscht mehrere Fremdsprachen, liest Dante, Abbé Prevost und Cervantes im Original und weiß genau, welches die Werte seiner gerade im Entstehen begriffenen Nation sind. Nur mit dem Volk hat er nicht gerechnet. Weil er wegen seiner Verwundung aus dem Dienst ausscheiden musste, die fremden Besatzer in Istanbul nicht erträgt und dem verderbten Leben in der Metropole entfliehen wollte, hat er auf Einladung seines ehemaligen Stallburschen in einem entlegenen Winkel Anatoliens Quartier genommen. Während der von General Mustafa Kemal geführte "Befreiungskrieg" (1919-1923) noch andauert, beobachtet er Tag für Tag seine Umgebung.
Yakup Kadri installiert den adligen Außenseiter als Ich-Erzähler, arbeitet mit der Form des Tagebuchs und lässt den Patriotismus seines Helden auf die archaische Welt des Dorfes prallen. Mit unverhohlenem Abscheu schildert Ahmet die Sitten seiner Gastgeber. Oft bekommen seine Klagen aber einen Schlag ins Komische. Was für ein Stumpfsinn von früh bis spät! Selbst eine Hochzeit scheint ihm kaum fröhlicher als ein Leichenbegräbnis.
Umgekehrt wundern sich die Dorfbewohner über den Fremdling: seine Reinlichkeit, die täglichen Rasuren, die ausländischen Bücher und die vielen Fragen, die er ihnen dauernd stellt. Erst als der Offizier eines Tages den Reizen eines jungen Bauernmädchens aus einem benachbarten Ort verfällt, blitzt so etwas wie Verständnis für die dörfliche Lebenswelt auf. Aber schon bald überwiegen wieder Irritationen. Obwohl Ahmet Celâl seine Dorfgenossen mehrfach warnt, sind sie nicht auf den Einmarsch der griechischen Truppen vorbereitet und begegnen den fremden Soldaten mit großer Leutseligkeit. Den dramatischen Höhepunkt erreicht der Roman mit dem Rückzug der griechischen Armee. Die Soldaten brandschatzen, vergewaltigen und morden, bis die Menschen vertrieben und das Dorf schließlich ausgelöscht ist.
Mit seiner bildhaften Sprache und dem lebhaften Wechsel zwischen Beschreibungen, Dialogen und reflektierenden Passagen hat Yakup Kadri seinen Lesern einiges zu bieten. Die Lektüre von "Der Fremdling" ist darüber hinaus sehr aufschlussreich – der historische Ursprung der bis heute spürbaren Spaltung zwischen einer aufgeklärten, modernen Türkei und den traditionsverhafteten ländlichen Gebieten wird deutlich.
Yakup Kadri wurde 1889 in Kairo geboren und zählte zu der Generation, die die Türkei in ihrer Entstehungsphase geistig und politisch stark prägte. 1913 brachte er seine ersten Novellen heraus, ging im selben Jahr während des Balkankrieges in die Politik und wurde 1919 Journalist bei der Zeitung "Ikdam", die Mustafa Kemal unterstützte. Bis Anfang der sechziger Jahre war er als Politiker und Journalist aktiv, dann zog er sich aus Protest gegen die damaligen politischen Entwicklungen zurück, die nach seinem Verständnis den Grundideen Atatürks widersprachen. 1974 starb Kadri in Ankara. "Der Fremdling" ist das mitreißende Zeugnis einer kulturellen Zeitenwende.
Rezensiert von Maike Albath
Yakup Kadri, Der Fremdling, Roman,
aus dem Türkischen von Max Schultz-Berlin, Suhrkamp Verlag, Bibliothek Suhrkamp,
248 Seiten, 15,80 Euro
Der Held in Yakup Kadris Klassiker Der Fremdling, 1932 im Original herausgekommen und nach der Erstveröffentlichung auf Deutsch von 1939 jetzt neu kommentiert im Suhrkamp Verlag erschienen, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er ist ein gebildeter Mann, beherrscht mehrere Fremdsprachen, liest Dante, Abbé Prevost und Cervantes im Original und weiß genau, welches die Werte seiner gerade im Entstehen begriffenen Nation sind. Nur mit dem Volk hat er nicht gerechnet. Weil er wegen seiner Verwundung aus dem Dienst ausscheiden musste, die fremden Besatzer in Istanbul nicht erträgt und dem verderbten Leben in der Metropole entfliehen wollte, hat er auf Einladung seines ehemaligen Stallburschen in einem entlegenen Winkel Anatoliens Quartier genommen. Während der von General Mustafa Kemal geführte "Befreiungskrieg" (1919-1923) noch andauert, beobachtet er Tag für Tag seine Umgebung.
Yakup Kadri installiert den adligen Außenseiter als Ich-Erzähler, arbeitet mit der Form des Tagebuchs und lässt den Patriotismus seines Helden auf die archaische Welt des Dorfes prallen. Mit unverhohlenem Abscheu schildert Ahmet die Sitten seiner Gastgeber. Oft bekommen seine Klagen aber einen Schlag ins Komische. Was für ein Stumpfsinn von früh bis spät! Selbst eine Hochzeit scheint ihm kaum fröhlicher als ein Leichenbegräbnis.
Umgekehrt wundern sich die Dorfbewohner über den Fremdling: seine Reinlichkeit, die täglichen Rasuren, die ausländischen Bücher und die vielen Fragen, die er ihnen dauernd stellt. Erst als der Offizier eines Tages den Reizen eines jungen Bauernmädchens aus einem benachbarten Ort verfällt, blitzt so etwas wie Verständnis für die dörfliche Lebenswelt auf. Aber schon bald überwiegen wieder Irritationen. Obwohl Ahmet Celâl seine Dorfgenossen mehrfach warnt, sind sie nicht auf den Einmarsch der griechischen Truppen vorbereitet und begegnen den fremden Soldaten mit großer Leutseligkeit. Den dramatischen Höhepunkt erreicht der Roman mit dem Rückzug der griechischen Armee. Die Soldaten brandschatzen, vergewaltigen und morden, bis die Menschen vertrieben und das Dorf schließlich ausgelöscht ist.
Mit seiner bildhaften Sprache und dem lebhaften Wechsel zwischen Beschreibungen, Dialogen und reflektierenden Passagen hat Yakup Kadri seinen Lesern einiges zu bieten. Die Lektüre von "Der Fremdling" ist darüber hinaus sehr aufschlussreich – der historische Ursprung der bis heute spürbaren Spaltung zwischen einer aufgeklärten, modernen Türkei und den traditionsverhafteten ländlichen Gebieten wird deutlich.
Yakup Kadri wurde 1889 in Kairo geboren und zählte zu der Generation, die die Türkei in ihrer Entstehungsphase geistig und politisch stark prägte. 1913 brachte er seine ersten Novellen heraus, ging im selben Jahr während des Balkankrieges in die Politik und wurde 1919 Journalist bei der Zeitung "Ikdam", die Mustafa Kemal unterstützte. Bis Anfang der sechziger Jahre war er als Politiker und Journalist aktiv, dann zog er sich aus Protest gegen die damaligen politischen Entwicklungen zurück, die nach seinem Verständnis den Grundideen Atatürks widersprachen. 1974 starb Kadri in Ankara. "Der Fremdling" ist das mitreißende Zeugnis einer kulturellen Zeitenwende.
Rezensiert von Maike Albath
Yakup Kadri, Der Fremdling, Roman,
aus dem Türkischen von Max Schultz-Berlin, Suhrkamp Verlag, Bibliothek Suhrkamp,
248 Seiten, 15,80 Euro