Zerstörte Kleinbauernstrukturen

Marcus Vetter im Gespräch mit Frank Meyer |
Das weltweite Hungern ist ein tödlicher Kreislauf, in dem die Profitinteressen des Westens eine wesentliche Rolle spielen, meint Regisseur Marcus Vetter. Auf drei Kontinenten hat er die Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft der Dritten Welt aufgespürt. Sein Film "Hunger" läuft zum Auftakt der ARD-Themenwoche "Essen ist Leben".
Frank Meyer: Jeder siebente Mensch auf der Erde hungert, also mehr als eine Milliarde Menschen, obwohl auf der Welt mehr Lebensmittel produziert werden, als man zur Ernährung aller Menschen braucht. Zum Auftakt der ARD-Themenwoche "Essen ist Leben" wird heute Abend der Dokumentarfilm "Hunger" von Marcus Vetter und Karin Steinberger gezeigt, ein Film, in dem man auch hört, was diese Frau aus Kenia über den Hunger ihrer Kinder und das Essen bei uns in Europa sagt:

O-Ton Frau in Kenia: Hier gibt es manchmal tagelang nur Trockenfrüchte. Es ist schlimm, seine Kinder hungern zu sehen. Wenn man sie ernähren kann, ist man sehr glücklich. Es gibt keinen Tag, an dem wir alle wirklich satt werden. Ich habe nur davon gehört, dass die Menschen dort essen. Sie essen von morgens bis abends und dann trinken sie noch Tee. Danach wird wieder gegessen bis in den Abend hinein. Sie haben keine Probleme oder Hunger, der sie ständig an andere Länder denken lässt.

Meyer: Eine junge Bäuerin aus dem Norden Kenias. Man erfährt in diesem Dokumentarfilm "Hunger" auch, dass die Bauern in dieser Region früher Vieh hatten, von ihren Tieren leben konnten. Heute haben sie kaum noch Vieh und hungern eben. Marcus Vetter hat den Film "Hunger" zusammen mit Karin Steinberger gedreht, jetzt ist er für uns im Studio. Herr Vetter, was ist denn dort im Norden Kenias passiert, warum hungern die Leute jetzt dort?

Marcus Vetter: Die Leute hungern, weil es dort sehr viele Dürrekatastrophen gibt und weil es vor allem kein Wasser gibt. Und weil Kenia selbst als Regierung dieses Problem nicht in den Griff bekommen würde, weil es auch kein Geld gibt in Kenia.

Meyer: Kann man das Problem lösen, kann man Wasser dort hinbringen?

Vetter: Man muss sehr viel komplexer vorgehen. Man muss dort Brunnen bauen zum Beispiel. Ich meine, man kann hier nicht die Schuld, letztendlich auch nicht den NGOs geben, weil es ist alles sehr kompliziert. Wir haben diese Region letztendlich porträtiert, um überhaupt mal zu erklären, wie Hunger eigentlich funktioniert. Diese Frau, die sieht ja nicht aus, wie man sich das vorstellt, dass sie einen dicken Blähbauch hätte oder sonst irgend etwas, sondern die Leute, die haben dort eine große Würde, und wir versuchten einfach herauszufinden, wie es Menschen geht mit Hunger, das war der Teil in der Turkana.

Meyer: Sie zeigen ja auch immer wieder Menschen, die arbeiten, die hart arbeiten und die trotzdem hungern, im Gegensatz zu dem Bild, das man sonst vom Hunger hat, vom Hunger bei Flüchtlingen, die von Krieg oder Naturkatastrophen vertrieben werden. Also Sie wollten mit dem Film auch zeigen eben die Würde der Menschen, und wie sie trotzdem in den Hunger geraten, trotz ihrer Arbeit?

Vetter: Ja, 2008, als ich angefangen habe über diesen Film überhaupt nachzudenken, das war die Zeit, als die Nahrungsmittel zum ersten Mal also wirklich explodiert sind. Man muss sich das so vorstellen, dass Weizen zum Beispiel um das Zehnfache gestiegen ist und Soja und all diese Grundnahrungsmittel. Also nicht 10, 20, 30 Prozent, sondern einfach das Zehnfache. Und ich habe mich dann immer gefragt, wie kann das eigentlich sein, was passiert eigentlich in der Dritten Welt, wo die Nahrungsmittel hergestellt werden, da müssten doch jetzt die Bauern wenigstens davon profitieren, warum soll es jetzt so Hungerkatastrophen geben?

Mit dieser Frage sind wir eigentlich in alle fünf Länder gegangen und im letzten Land wird es am klarsten, in Haiti: Denn da haben wir gesehen, dass die Bauern also buchstäblich auf ihren Feldern verhungert sind. Und als sie davon nicht mehr leben konnten, haben sie angefangen, den Baumbestand in Haiti abzuholzen, um Köhler zu werden. Also anstatt Bauern haben sie Kohle gemacht, um die zu verkaufen. Und als der Wald dann weg war, dann kam es zu einer großen Stadtflucht und viele sind nach Haiti in Cité Soleil, und das Slum in Cité Soleil in Haiti ist entstanden. Und wenn man sich das so anguckt, da sind 95 Prozent der Menschen im Slum Kleinbauern, und die müssen heute die teuren Nahrungsmittelpreise bezahlen, anstatt davon zu profitieren und als Bauern wirklich endlich mal von dem, was man anbaut, überhaupt leben zu können.

Meyer: Aber wie ist das überhaupt entstanden, diese Situation in Haiti, dass die einheimischen Nahrungsmittel nicht mehr hergestellt werden, nicht mehr verkauft werden, sondern stattdessen eben jetzt absurderweise teure Nahrungsmittel aus dem Westen, aus den USA zum Beispiel importiert werden?

Vetter: Ja das ist zum Beispiel dort der Golden Rice, der dann dort propagiert wurde, weil er vielleicht besser aussieht und einheitlicher ist und der dann einfach nur gekauft wurde. Das ist die große Subventionspolitik, die Mitte der 80er-Jahre betrieben worden ist. Man muss sich das so vorstellen, dass wir in der Ersten Welt, wir haben natürlich das Geld, wir haben die Kredite aufgenommen, um unsere Bauern zu subventionieren. Denn die Erste Welt hat immer ein großes Interesse daran, dass die Nahrungsmittel billig sind, denn dann bleibt für uns mehr Geld um andere Sachen zu kaufen. Und als in den 80er-, 90er-Jahren die großen Krisen waren, hat man einfach dann geguckt, dass man seine eigenen Bauern unterstützt, damit die nicht kaputtgehen, und hat damit aber sehr viele Weichen in der Dritten Welt gestellt, die wir heute bezahlen müssen.

Meyer: Das heißt, bei Ihren Recherchen vor Ort – Sie waren ja auf drei Kontinenten unterwegs –, eine Ihrer Erkenntnisse ist, dass unsere Landwirtschaftspolitik im Westen, unsere Nahrungsmittelpolitik verantwortlich ist für den Hunger in der Welt?

Vetter: Eindeutig. Das Hungerproblem in der Welt ist sehr komplex, aber das ist wahrscheinlich mit das Gravierendste, dass damit die Kleinbauern, die letztendlich das einzige Mittel sind gegen den Hunger oder auf jeden Fall sehr, sehr wichtig, dass diese Kleinbauernstrukturen zerstört worden sind.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Dokumentarfilmer Marcus Vetter über seinen Film "Hunger", der heute zum Auftakt der ARD-Themenwoche "Essen" gezeigt wird. Sie haben sich auch noch ein neueres Problem vorgenommen, das ist die Frage nach der grünen Gentechnologie, nach gentechnologisch veränderten Nahrungsmitteln, vor allem nach Saatgut, und dem Zusammenhang mit dem Hungern. Das haben Sie sich am Beispiel Indien angeschaut. Was haben Sie da beobachtet?

Vetter: Da haben wir uns zwei Gegenden angeguckt. Das eine ist der Reis – man muss ich vorstellen, dass Indien der Geburtsort des Reises ist, schon immer war, und es gab mal 70.000 Reissorten. Und heute gibt es noch 3000 bis 4000 Reissorten. Das liegt daran, dass Hybridreis mittlerweile verwendet wird, das soll ein Reis sein, der einfach besser funktionieren soll. Das ist aber nicht unbedingt so, sondern wir haben mit mehreren Bauern geredet, die sagen, man wird gar nicht satt von diesem neuen Reis, und auf der anderen Seite kann man ihn nicht wiederverwenden, man muss ihn also immer wieder wiederkaufen. Und dasselbe passiert auch in Indien mit der Baumwolle, da gibt es Bt Cotton. Die Bauern, die verwenden diesen Bt Cotton, die müssen den auch teuer kaufen. Nur wenn man nicht die Bewässerungstechnologien hat und nicht permanent bewässert, dann geht einem dieser Bt Cotton dann am Ende kaputt und man bleibt auf den Schulden sitzen.

Meyer: Einer Ihrer Gesprächspartner in dem Film sagt auch, er sehe einen Zusammenhang zwischen einer großen Selbstmordwelle bei indischen Bauern und dem Anbau von solchen gentechnologisch veränderten Pflanzen. Wo ist da dieser Zusammenhang?

Vetter: Die Leute sind einfach so verschuldet, dass sie letztendlich dann die Pestizide selber trinken, die sie kaufen. Und das sind Zehntausende. Zehntausende jedes Jahr, weil diese Bauern einfach mit dieser Technologie nicht umgehen können. Und das ist dann zum Beispiel so eine Firma wie Monsanto, die sich darum nicht kümmert. Wir waren da wirklich in den Geschäften, es gibt nichts anderes mehr zu kaufen, es gibt keine normale Baumwolle mehr zu kaufen. Und das ist gut für große Bauern, die die Strukturen auch haben, und die kleinen Bauern, die kommen damit nicht zurecht. Und wir haben sehr viele Kleinbauern besucht und allen ist eigentlich dasselbe passiert und sehr viele bringen sich dann eben um, weil sie keine Chance mehr haben.

Meyer: Was Sie beobachtet haben bei Ihren Recherchen, das zeichnet ein ziemlich aussichtsloses, düsteres Bild insgesamt. Es gibt ein paar zarte Pflänzchen der Hoffnung zum Beispiel eben bei diesem Problem der Reissorten in Indien, da gibt es Bauern, die eine Art Datenbank oder eine Genbank aufbauen wollen für Reissorten. Also es gibt zumindest ein paar zarte Ansätze, um auch vorzugehen, vor Ort vorzugehen gegen dieses Dilemma?

Vetter: Ja, es gibt Ansätze, aber diese Labels oder diesen fairen Kaffee zu kaufen und all diese Sachen, die wir jetzt zehn, 15, 20 Jahre gemacht haben, die reichen einfach nicht. Es muss eine Größe Gerechtigkeit in unsere Moral mit aufgenommen werden, in unseren Moralkodex. Also ansonsten wird und das Problem irgendwann mal auch erwischen. Die Leute werden hierherkommen. Und es ist ja zum Beispiel nicht so, dass die Nahrungsmittelpreise jetzt einen gerechten Preis haben. Wenn die jetzt noch mal sich verzehnfachen würden, wäre das überhaupt kein Problem, dann wären wir erst mal auf der Stufe von 1975, inflationsbereinigt.

Also es geht gar nicht darum, jetzt die Nahrungsmittelpreise wieder zu drücken – eigentlich müssten die Nahrungsmittelpreise noch teurer sein. Das ist die Krux an der ganzen Sache. Und die Politik, die versuchen jetzt natürlich den Spekulanten die Schuld in die Schuhe zu schieben, aber die Spekulanten haben auch keine Schuld. Das ist eine ganz klare politische Entscheidung gewesen, unsere Bauern zu unterstützen. Das Problem ist, dass unsere Demokratien es nicht verstanden haben, dass man zum Beispiel mit so einer Subventionspolitik letztendlich die Kleinbauern, viele Kleinbauernstrukturen einfach zerstört.

Meyer: Die Weltgemeinschaft hatte ja im Jahr 2000 beschlossen, die Zahl der Armen und Hungernden bis 2015 auf die Hälfte zu senken. Das ist das erste dieser acht sogenannten Millenniumsziele. Nach Ihren Recherchen zum Hunger in der Welt, was halten Sie von diesem Ziel, kann das auch nur in Ansätzen erreicht werden in den nächsten Jahren?

Vetter: Also das Ziel, etwas zu machen, finde ich natürlich toll, es gibt ja auch diese Millenniumsdörfer, und da sind überall sehr, sehr gute Ansätze und diese Ansätze, die dürfen nur nicht nur im Kleinen gemacht werden, sondern sie müssen im Großen gemacht werden. Und – und das ist mir das Allerwichtigste, jeder von uns kann eben auch etwas machen. Also zum Beispiel, wenn jemand ein Chef oder Unterhändler von einer Blumenfarm ist und nach Kenia geht und den Auftrag hat, dort eine Blumenfarm aufzukaufen oder aufzubauen. Ich möchte nicht sagen, dass er das nicht machen soll. Nur er muss eben dafür sorgen, dass er es nicht mit Korruption macht, und dass er wenigstens, wenn schon dann Devisen für Kenia ins Land kommen, dass er wenigstens dann auch versucht, einen gerechten Preis zu erzielen für beide Seiten. Aber so, mit diesem Gerechtigkeitsempfinden, mit dem wir in die Dritte Welt gehen, wird es nicht funktionieren.

Meyer: Der Dokumentarfilmer Marcus Vetter, gemeinsam mit der Journalistin Karin Steinberger hat er den Film "Hunger" gedreht, heute um 22:45 Uhr wird dieser Film zum Auftakt der ARD-Themenwoche "Essen" gezeigt. Herr Vetter, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Vetter: Vielen Dank auch!
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