Zerstörte Idylle

Silvio Huonders neuer Roman "Dicht am Wasser" spielt an einem Havelsee unter einer Gruppe von Stadtflüchtigen. Mit dem Verschwinden eines Kindes werden gestörte Beziehungen, Geschichten um Verrat, Lügen, Gewalt, Gewebe aus Schmerz und Scham offenbar.
Silvio Huonder mag es offenbar exotisch: Der Schweizer Erzähler, geboren 1954 in Chur, wohnt in Brandenburg. Kurz nach der Wende kam Huonder nach Berlin, er studierte an der Hochschule der Künste, Heiner Müller war einer seiner Lehrer. Müllers Weltsicht hat dem Bündner nicht behagt, doch profitierte er vom Umgang des Meisters mit der Sprache.

Bei der Kritik stoßen Huonders Bücher verlässlich auf Lob; der Romanerstling "Adalina" (1997) avancierte zum Bestseller. Nach Ansicht der "Weltwoche" gehört der emigrierte Landsmann "schon mit diesem Buch künftig zu den wichtigsten Autoren der Schweiz".

Als Erzähler schätzt Huonder das Abgründige, die Untiefen der Psyche, die Macht von Desastern. Als Mensch hat er's lieber beschaulich. Vor ein paar Jahren zog er nach Ferch, südwestlich von Potsdam, an einen großen See. Das Segelboot liegt gleich am Haus.

Ferch ist ein besonderes Biotop, Rückzugsort gestresster Berliner. Unter den Zugewanderten fällt der Eidgenosse nicht auf. Ferch bedeute "Nachhausekommen", betonte Huonder kürzlich im Interview:

"Nun habe ich mein Lebensthema und meine Landschaft gefunden."

"Dicht am Wasser", an einem Havelsee, spielt denn auch Huonders neues Buch. In einem Ort wie Ferch, Neumühl genannt. In einer Kommune von Stadtflüchtern, Bildungsbürgern. In einem Idyll, ruhig, etwas dröge. Bewegendes Ereignis ist ein Musikschulkonzert in der Kirche.

Auch die Hauptfiguren sind von biederer Art - Klavierlehrer Ballina, eine Frau Susanne (die Sanna vom Bioladen), Ehemann Oschi (einst Metallbauer, jetzt Chef der Marina am See) und ihr Sohn Nelson, neunjährig, Klavierschüler, nicht sehr begabt.

Nelson soll vorspielen beim Konzert, doch er erscheint nicht. Fort, verschwunden, einfach so, ein Kind wird vermisst. Frau Sanna reagiert panisch, das Dorf ist verstört, die Polizei schickt ein Großaufgebot. Und alle wühlen sie im Dreck.

Am Ende wird Nelson gefunden, ein Happy End wäre möglich, aber es gibt andere, zufällige Funde, beim Wühlen gemacht - gestörte Beziehungen, Geschichten um Verrat, Lügen, Gewalt, Gewebe aus Schmerz und Scham. Ballina: wurde betrogen, verlassen. Nelsons Mutter: hat eine Affäre mit diesem Ballina. Nelsons Vater: ist verzweifelt, er denkt an Suizid.

Eine schöne Szenerie hat Silvio Huonder hier erschaffen - die Kommune in ihrer Einsiedelei, perfekter Nährboden für große Dramen. Aber leider, der Autor hat's verpatzt. Die Dramen sind Kleinkram, die Figuren blass - kein Hamlet in Sicht, kein Macbeth -, und nichts an dem Buch passt zueinander. Die krimiartige Spannung - vordergründig. Der fremde Blick eines Schweizers auf deutsche Provinz - er fehlt. Wortwahl, Satzbau, Stil – wirken sperrig, ungefüge.

Huonder schreibt betulich, überausführlich, erschöpft sich in abstrakten Details. Er quält das arme Wörtchen "war" als Verb halbdutzendfach in manchem Absatz, und manchmal hat er Mühe mit der Grammatik, vor allem mit der Zeitenfolge in der Vergangenheit. Typisch:

"Es wurmte sie immer noch, daß sie vor drei Monaten ausziehen mußte."

Es gibt störende Wiederholungen, Geraune ohne dramaturgischen Effekt, Plattitüden:

"Die Wahrheit ist, wie immer, sehr viel verwickelter."

Es gibt einen nervig allwissenden Erzähler, in manchen Kapiteln jedoch eine Ich-Figur ohne Funktion; bisweilen kollidiert diese Figur mit dem auktorialen Erzähler.

Huonder, der Schriftsteller, lehrt auch, in Biel in der Schweiz und in Berlin. Er lehrt literarisches Schreiben. Sein jüngstes Buch aber ist unfertige Belletristik, allenfalls Gebrauchsliteratur, Fastfood, zum raschen Verzehr bestimmt.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Silvio Huonder: Dicht am Wasser
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2009
222 Seiten, 19,90 Euro