Zerrissenes Land

31.03.2011
Italien feiert im März 2011 seine 150-jährige Einheit und ist ein zerrissenes Land. Der britische Historiker Paul Ginsborg, Professor für zeitgenössische europäische Geschichte an der Universität von Florenz und seit 2009 italienischer Staatsbürger, beugt sich über seine Wahlheimat als sei sie ein darbender Patient.
"Italien retten" lautet der emphatische Titel seines schwungvollen Essays, in dem der Historiker die aktuelle Lage mit der historischen Phase des Risorgimento konfrontiert und sich bemüht, einige der tragenden Ideen der Gründungsväter für die Gegenwart wiederzubeleben.

In einem ersten Schritt beschreibt er den Zustand der Apenninhalbinsel, und da fällt die Bilanz erschütternd aus. Allgegenwärtiges Modell, propagiert durch das Fernsehen, ist der Konsumkapitalismus. Durch die Macht des Ministerpräsidenten Berlusconi, der neben seinen eigenen Sendern auch noch die staatlichen Programme kontrolliert und mit einem Telefonat die Absetzung einer kritischen Talkshow erreichen kann, herrscht in den Medien längst kein Pluralismus mehr.

Eine populistische Handhabe demokratischer Institutionen, so Ginsborg, sei längst an der Tagesordnung und sorge kaum für Empörung. Eine grundlegende moralische Erneuerung, wie sie 1991/92 nach der Aktion "mani pulite" der Mailänder Staatsanwälte notwendig gewesen wäre, habe man versäumt. Es hapert also an staatsbürgerlichen Tugenden, stattdessen gilt eine Kultur der Illegalität.

2009 rutschte Italien nach dem Bericht der Berliner NGO Transparency International auf den 63. Platz hinter Namibia, Samoa, Kuba und Bahrein ab. Die Demokratie werde unter Berlusconi, so Ginsborgs bitteres Fazit, nur noch formal respektiert. Klar und zupackend vermittelt der Historiker die Grundzüge des Risorgimento. Er argumentiert mit dem marxistischen Philosophen Antonio Gramsci und bemängelt die Abkopplung der norditalienischen Intellektuellen von der Basis und die Installation eines zentralistischen, piemontesischen Machtapparats.

Mit Bezug auf den heute fast vergessenen, hochinteressanten Theoretiker der Einheitsbewegung, Carlo Cattaneo, plädiert Ginsborg für einen sanftmütigen Patriotismus. Vor allem die Mittelschicht müsse sich von ihrer Passivität verabschieden. Der Historiker betont, dass Italien durchaus über positive politische Traditionen verfüge, die schon Cattaneo stärken wollte - dazu gehört die kommunale Selbstverwaltung.

Ginsborg erkennt eine sich allmählich zur Wehr setzende Zivilgesellschaft, und man möchte ihm gar zu gern Recht geben. Aber wird ein sanfter Patriotismus, wie Ginsborg ihn fordert, den populistischen Überzeugungen etwas entgegensetzen können, zumal die Opposition bisher kaum an Profil gewann?

Italien, im Laufe der Geschichte schon oft Avantgarde, sollte uns zu denken geben. Hybris von deutscher Seite, so könnte man hinzufügen, ist hier unangebracht. Die medial perfekt inszenierte Machtentfaltung eines zu Guttenberg hat gezeigt, wie empfänglich moderne Gesellschaften für Populismus sind. Weil Ginsborgs Band im Original bereits 2010 heraus kam, fehlen Bezüge auf jüngste Entwicklungen: Die Bunga-Bunga-Affäre Berlusconis kommt ebenso wenig vor wie die Parteigründung des Hoffnungsträgers aus Apulien, Nichi Vendola. Dennoch ist Ginsborgs Essay äußerst lesenswert. Ein Buch für alle, die Italien heute verstehen wollen.

Besprochen von Maike Albath

Paul Ginsborg: Italien retten
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011
142 Seiten, 10, 90 Euro
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