Zeremonien des Alltags
Ohne Rituale ist kein Leben möglich, sagt Ritualwissenschaftler Burckhard Dücker. Er untersucht, wie sie wirken und welche neu entstehen. Dücker hinterfragt auch, wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen aussehen könnte, die den Blick weitet vom ausgefeilten religiösen Zeremoniell hin zu den oft unauffälligen Ritualen des Alltags.
Die katholische Kirche feiert ihre Messe wieder in lateinischer Sprache, Studierende wünschen wieder eine feierliche Abschlussfeier, tragen Talare und werfen Doktorhüte in die Luft, und bei Fußballübertragungen nimmt das rituelle Drumherum inzwischen genauso viel Zeit ein wie das Spiel selber.
Das Leben wird zeremonieller. Und doch wird auf der anderen Seite immer wieder von Traditionsabbruch und Verflachung geredet. Wie ist das also mit den Ritualen? Burckhard Dücker hat ihnen eine Einführung in die Ritualwissenschaft gewidmet, die er unter dem schlichten Titel "Rituale" veröffentlicht hat.
Menschliches Leben ohne Rituale ist schlicht nicht möglich - das ist Burckhard Dückers Grundüberzeugung. Menschen leben in Ritualen, sie verhandeln ihr Verhältnis zur Gemeinschaft und zu ihren Traditionen über Rituale.
Wenn über eine neue Wertschätzung fürs Rituelle gesprochen wird, wird das unausgesprochen meist verknüpft mit der Diagnose einer Rückkehr zu Werten allgemein, mit einer Abkehr von den formlosen Zeiten, für die das Jahr 1968 und die Studentenruhen ganz exemplarisch stehen. Damals wurden die Rituale zerstört, jetzt kommen ideologisch unbelastete Generationen und heben - manche reumütig - den leichtfertig aufgegebenen Schatz von Ritualen und Werten, so lautet ja, etwas überspitzt, diese These. Und da sagt Burckhard Dücker einfach auf Grund seiner Forschungen: nein, so ist es nicht.
Zwar stellen 68 und die Folgen einen Einschnitt für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualen dar: Diese wurde nach 1970 ausgebaut, vielleicht aus einem Gefühl heraus, dass es in der eigenen Gesellschaft Verluste zu beobachten gab und nicht nur interessante, aber weit hergeholte Reiseberichte von eingeborenen Völkern von weit weg und ihren sonderbaren Bräuchen.
Aber im Gefolge von 68 nahmen nicht die Rituale an sich ab. Ganz im Gegenteil: der Widerstand gegen eine in Ritualen erstarrte Gesellschaft hatte selber rituellen Charakter, exemplarisch deutlich an Fritz Teufels Weigerung, vor seinem Richter mit dem gesamten Gericht aufzustehen, wie das Brauch war.
Die Kritik am Ritual kann selber nur die Form eines Rituals annehmen, Burckhard Dücker zeigt das an Ritualen des Gegenweltlichen vom Karneval bis zum G8-Gipfel im Sommer dieses Jahres, der so inszeniert war, dass er natürlich auch Orte für Protestrituale bot. Also: Klagen über Werteverfall und Wünsche für eine werthaltige Gesellschaft knüpft man nach Lektüre dieses Buches nicht mehr an Klagen über scheinbar abnehmende Häufigkeit und Intensität von Ritualen.
Rituale verknüpfen das Leben des Einzelnen mit dem der Gemeinschaft. Sie machen aus einem Lebensverlauf eine Biographie, indem eigentlich alle wichtigen Wendepunkte, Übergänge und Entscheidungen rituell besetzt sind, im wahrsten Sinne von der Wiege bis zur Bahre.
Dücker liefert kein Kompendium von Ritualen, er kann das nach seinem Verständnis auch gar nicht: Bei genauerem Hinsehen ist jeder Moment menschlichen Lebens ritualhaltig, wenn auch im sogenannten Alltag weniger dicht als zu besonderen Festzeiten.
Entscheidend sind nicht die Inhalte möglicher Rituale, sondern das, was eine Gruppe von Menschen tatsächlich tut. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre der Streit um den Schutz der Sonntagsruhe, den die Kirchen gerade vor das Verfassungsgericht getragen haben. Im Sinne von Dückers Ritualverständnis (er greift dieses Thema nicht selber auf) müsste man sagen: Der Sonntag wird durch die Praxis der Menschen besonders. Augenscheinlich findet dort gerade ein Wandel statt. Statt religiös fundierter Rituale (Gottesdienstbesuch, anschließend eventuell Frühschoppen) bilden sich andere Formen heraus (ausschlafen, anschließend ausgiebiges Frühstück im Restaurant). Auf den "eigentlichen" Kern (Gebot der Sonntagsheiligung) gegen die rituelle Praxis der Mehrheit zu pochen, ist zumindest schwierig.
Burckhard Dücker nennt einige andere Situationen, in denen rituelle Leerstellen ins Auge fallen: Scheidung und die Abschiebung von Asylbewerbern, Rituale der Trennung also, die nur schwach oder kaum entwickelt sind.
Rituale sind besondere Punkte, die den Alltag übersteigen, aber, und das ist wichtig, nicht völlig aus dem Alltag herausfallen. Deswegen müssen Rituale gar nicht besonders exotisch sein. Dabei ist es nicht so, dass das Ritual selber etwas oder jemanden verändert. Aber es macht ein Versprechen auf künftiges, anderes Handeln verbindlich. Also: Wenn ein Kind mit Zuckertüte die Schule betritt, dann wird es nicht plötzlich vom ungebundenen Kind zum relativ disziplinierten Schüler. Aber es wird Teil eines Kollektivs, zu dem es von jetzt an gehören wird, sich anders zu verhalten, also zum Beispiel regelmäßig zu kommen und aufmerksam am Unterricht teilzunehmen.
Wenn Rituale wirklich lebendig sein wollen, muss die Erinnerung an die Urszene, an die im Ritual erinnert wird, lebendig sein. Ganz egal, ob es dabei um Weihnachten oder um den Großen Zapfenstreich geht. Ist diese Urszene nicht mehr da oder den Beteiligten peinlich, dann wird das Ritual bloße Folklore oder touristisch. Bei Ritualen, die künstlich eingeführt werden, konstatiert der Autor zudem einen Zug zum Event, wo es zwar auch um Zugehörigkeit zu Gemeinschaft geht, hinter der aber vor allem finanzielle Motive stehen, nicht werthaltige oder religiöse wie bei gewachsenen Ritualen.
Einen anderen Punkt deutet Dücker nur an: Gerade den Ritualen einer Gegenwelt fehlt zumindest in den westlichen Gesellschaften immer mehr das Gegenüber, wenn Körperbemalung, Tätowierungen, gar chirurgische Veränderungen immer selbstverständlicher werden.
Was ein Ritual zum Ritual macht, dafür nennt Burckhard Dücker viele Details: Wiederholbarkeit zum Beispiel, ein bestimmter Ort, eine bestimmte Zeitstruktur, rituelle Experten, die Sichtbarmachung von Wertorientierungen. Was aber genau an einem Ritual der wirksame Teil ist - an dieser Frage arbeiten sich, so Dücker, die verschiedenen Wissenschaften immer noch ab, ohne zu einem eindeutigen Schluss zu kommen.
Es gibt nicht die eine wirksame Grundform, auf die alle Rituale zurückzuführen sind. Es gibt nur eine große Vielzahl gegenwärtiger und vergangener Rituale, in denen ganz konkrete Menschen sich zusammenfinden, um über ihren Alltag hinaus wirksame Dinge zu tun. Die kann man beschreiben und versuchen, die Handlungen und die dahinterliegenden Motive zu verstehen.
Das klingt erst einmal nach wenig, aber es ermöglicht einen genauen beobachtenden Blick, der erkennen lässt, wie hoch der Anteil an rituellem Geschehen ist, der sich zum Beispiel in einer ganz gewöhnlichen Nachrichtensendung spiegelt. Dass es eine Nachrichtensendung ist und nicht etwa eine religiöse Spezialsendung, das ist die zweite grundlegende Erkenntnis aus Dückers Buch über Rituale: Ritual ist eben nicht nur, wenn ein Gott mit im Spiel ist, sondern wenn sich Menschen ganz profan in ihren alltäglichen Zusammenhängen an das zurückbinden, was sie trägt - und zwar indem sie wirklich etwas tun.
Rezensiert von Kirsten Dietrich
Burckhard Dücker: Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft
J.B. Metzler 2007
250 S., 49,95 Euro
Das Leben wird zeremonieller. Und doch wird auf der anderen Seite immer wieder von Traditionsabbruch und Verflachung geredet. Wie ist das also mit den Ritualen? Burckhard Dücker hat ihnen eine Einführung in die Ritualwissenschaft gewidmet, die er unter dem schlichten Titel "Rituale" veröffentlicht hat.
Menschliches Leben ohne Rituale ist schlicht nicht möglich - das ist Burckhard Dückers Grundüberzeugung. Menschen leben in Ritualen, sie verhandeln ihr Verhältnis zur Gemeinschaft und zu ihren Traditionen über Rituale.
Wenn über eine neue Wertschätzung fürs Rituelle gesprochen wird, wird das unausgesprochen meist verknüpft mit der Diagnose einer Rückkehr zu Werten allgemein, mit einer Abkehr von den formlosen Zeiten, für die das Jahr 1968 und die Studentenruhen ganz exemplarisch stehen. Damals wurden die Rituale zerstört, jetzt kommen ideologisch unbelastete Generationen und heben - manche reumütig - den leichtfertig aufgegebenen Schatz von Ritualen und Werten, so lautet ja, etwas überspitzt, diese These. Und da sagt Burckhard Dücker einfach auf Grund seiner Forschungen: nein, so ist es nicht.
Zwar stellen 68 und die Folgen einen Einschnitt für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualen dar: Diese wurde nach 1970 ausgebaut, vielleicht aus einem Gefühl heraus, dass es in der eigenen Gesellschaft Verluste zu beobachten gab und nicht nur interessante, aber weit hergeholte Reiseberichte von eingeborenen Völkern von weit weg und ihren sonderbaren Bräuchen.
Aber im Gefolge von 68 nahmen nicht die Rituale an sich ab. Ganz im Gegenteil: der Widerstand gegen eine in Ritualen erstarrte Gesellschaft hatte selber rituellen Charakter, exemplarisch deutlich an Fritz Teufels Weigerung, vor seinem Richter mit dem gesamten Gericht aufzustehen, wie das Brauch war.
Die Kritik am Ritual kann selber nur die Form eines Rituals annehmen, Burckhard Dücker zeigt das an Ritualen des Gegenweltlichen vom Karneval bis zum G8-Gipfel im Sommer dieses Jahres, der so inszeniert war, dass er natürlich auch Orte für Protestrituale bot. Also: Klagen über Werteverfall und Wünsche für eine werthaltige Gesellschaft knüpft man nach Lektüre dieses Buches nicht mehr an Klagen über scheinbar abnehmende Häufigkeit und Intensität von Ritualen.
Rituale verknüpfen das Leben des Einzelnen mit dem der Gemeinschaft. Sie machen aus einem Lebensverlauf eine Biographie, indem eigentlich alle wichtigen Wendepunkte, Übergänge und Entscheidungen rituell besetzt sind, im wahrsten Sinne von der Wiege bis zur Bahre.
Dücker liefert kein Kompendium von Ritualen, er kann das nach seinem Verständnis auch gar nicht: Bei genauerem Hinsehen ist jeder Moment menschlichen Lebens ritualhaltig, wenn auch im sogenannten Alltag weniger dicht als zu besonderen Festzeiten.
Entscheidend sind nicht die Inhalte möglicher Rituale, sondern das, was eine Gruppe von Menschen tatsächlich tut. Ein aktuelles Beispiel dafür wäre der Streit um den Schutz der Sonntagsruhe, den die Kirchen gerade vor das Verfassungsgericht getragen haben. Im Sinne von Dückers Ritualverständnis (er greift dieses Thema nicht selber auf) müsste man sagen: Der Sonntag wird durch die Praxis der Menschen besonders. Augenscheinlich findet dort gerade ein Wandel statt. Statt religiös fundierter Rituale (Gottesdienstbesuch, anschließend eventuell Frühschoppen) bilden sich andere Formen heraus (ausschlafen, anschließend ausgiebiges Frühstück im Restaurant). Auf den "eigentlichen" Kern (Gebot der Sonntagsheiligung) gegen die rituelle Praxis der Mehrheit zu pochen, ist zumindest schwierig.
Burckhard Dücker nennt einige andere Situationen, in denen rituelle Leerstellen ins Auge fallen: Scheidung und die Abschiebung von Asylbewerbern, Rituale der Trennung also, die nur schwach oder kaum entwickelt sind.
Rituale sind besondere Punkte, die den Alltag übersteigen, aber, und das ist wichtig, nicht völlig aus dem Alltag herausfallen. Deswegen müssen Rituale gar nicht besonders exotisch sein. Dabei ist es nicht so, dass das Ritual selber etwas oder jemanden verändert. Aber es macht ein Versprechen auf künftiges, anderes Handeln verbindlich. Also: Wenn ein Kind mit Zuckertüte die Schule betritt, dann wird es nicht plötzlich vom ungebundenen Kind zum relativ disziplinierten Schüler. Aber es wird Teil eines Kollektivs, zu dem es von jetzt an gehören wird, sich anders zu verhalten, also zum Beispiel regelmäßig zu kommen und aufmerksam am Unterricht teilzunehmen.
Wenn Rituale wirklich lebendig sein wollen, muss die Erinnerung an die Urszene, an die im Ritual erinnert wird, lebendig sein. Ganz egal, ob es dabei um Weihnachten oder um den Großen Zapfenstreich geht. Ist diese Urszene nicht mehr da oder den Beteiligten peinlich, dann wird das Ritual bloße Folklore oder touristisch. Bei Ritualen, die künstlich eingeführt werden, konstatiert der Autor zudem einen Zug zum Event, wo es zwar auch um Zugehörigkeit zu Gemeinschaft geht, hinter der aber vor allem finanzielle Motive stehen, nicht werthaltige oder religiöse wie bei gewachsenen Ritualen.
Einen anderen Punkt deutet Dücker nur an: Gerade den Ritualen einer Gegenwelt fehlt zumindest in den westlichen Gesellschaften immer mehr das Gegenüber, wenn Körperbemalung, Tätowierungen, gar chirurgische Veränderungen immer selbstverständlicher werden.
Was ein Ritual zum Ritual macht, dafür nennt Burckhard Dücker viele Details: Wiederholbarkeit zum Beispiel, ein bestimmter Ort, eine bestimmte Zeitstruktur, rituelle Experten, die Sichtbarmachung von Wertorientierungen. Was aber genau an einem Ritual der wirksame Teil ist - an dieser Frage arbeiten sich, so Dücker, die verschiedenen Wissenschaften immer noch ab, ohne zu einem eindeutigen Schluss zu kommen.
Es gibt nicht die eine wirksame Grundform, auf die alle Rituale zurückzuführen sind. Es gibt nur eine große Vielzahl gegenwärtiger und vergangener Rituale, in denen ganz konkrete Menschen sich zusammenfinden, um über ihren Alltag hinaus wirksame Dinge zu tun. Die kann man beschreiben und versuchen, die Handlungen und die dahinterliegenden Motive zu verstehen.
Das klingt erst einmal nach wenig, aber es ermöglicht einen genauen beobachtenden Blick, der erkennen lässt, wie hoch der Anteil an rituellem Geschehen ist, der sich zum Beispiel in einer ganz gewöhnlichen Nachrichtensendung spiegelt. Dass es eine Nachrichtensendung ist und nicht etwa eine religiöse Spezialsendung, das ist die zweite grundlegende Erkenntnis aus Dückers Buch über Rituale: Ritual ist eben nicht nur, wenn ein Gott mit im Spiel ist, sondern wenn sich Menschen ganz profan in ihren alltäglichen Zusammenhängen an das zurückbinden, was sie trägt - und zwar indem sie wirklich etwas tun.
Rezensiert von Kirsten Dietrich
Burckhard Dücker: Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft
J.B. Metzler 2007
250 S., 49,95 Euro