Zerbrechlichkeit der Liebe

Rezensiert von Rainer Moritz · 19.12.2005
Liebe ist unberechenbar. Sie verändert sich, wird in der Erinnerung verklärt oder nicht erwidert. In den zwölf Geschichten William Trevors geht es um ihre Zerbrechlichkeit - mal vom möglichen Anfang, aber auch vom Ende betrachtet.
Der 1928 im irischen Cork geborene William Trevor zählt – ohne dass dies allen Lesern hierzulande geläufig wäre – zu den großen, vielfach ausgezeichneten europäischen Erzählern. Neben Romanen wie "Turgenjews Schatten", "Felicias Reise" oder "Die Geschichte der Lucy Gault" hat Trevor kontinuierlich eine Vielzahl brillanter Short Stories vorgelegt, wovon der aktuelle Band "Seitensprung" ein meisterhaftes Zeugnis ablegt. Zwölfmal geht es darin um die Liebe – mal von einem möglichen Anfang betrachtet, wie in "Ein Abend zu zweit", als sich ein Paar zu einem tristen Blind Date in einer Theaterbar verabredet, mal wie in der Eingangsgeschichte "In einem Totenhaus" vom Ende her betrachtet, als Emilys Mann gerade gestorben ist und sie gegenüber zwei bigotten, als Trostspenderinnen bekannten Schwestern ihre Ehe Revue passieren lässt und, ohne es zu wollen, Sätze wie "Er hat mich wegen des Hauses geheiratet" ausstößt.

Es geht um Missverständnisse, um Affären, denen kein Glanz beiwohnt und die es dennoch nicht verdienen, höhnisch betrachtet zu werden, und es geht um die Sehnsucht, in Amerika das große Glück zu finden, oder um den ältlichen Hauslehrer, der wusste, dass seine Frau die Zeit des Nachhilfeunterrichts trefflich auskostete, für Schäferstündchen mit ihrem Geliebten, ein Stockwerk höher. William Trevor porträtiert in diesen kleinen Psychogrammen Menschen unterschiedlichster Herkunft. Er beschreibt Männer und Frauen, die man mit leichter Hand als "einfach" bezeichnet, in einer Weise, die gleichzeitig von kühler Beobachtung und Anteilnahme geprägt ist. Trevor beschreibt ihre Irrwege, ohne zu denunzieren; er fühlt sich ein in ihre Begierden, wohl wissend, dass diese im irdischen Leben selten erfüllt werden: "Die Welt, nicht sie, hatte versagt", heißt es in der Geschichte "Heiligenfiguren" über Nuala, die es ihrem Mann nicht ermöglichen kann, seine Wunschexistenz als Holzfigurenschnitzer zu führen. Stattdessen muss er sein Geld im Straßenbau verdienen.

Die zwölf Geschichten in "Seitensprung" sind keine Berichte vom glücklich-sorgenfreien Leben. Und dennoch gelingt es William Trevor, sich den Gedankengängen seiner Figuren so eng anzuschmiegen, dass er ihr gelegentliches Glück im Unglück nicht übersieht. Wenn Hoffnungen enttäuscht werden, heißt dies nicht automatisch, dass die Erfüllung der Hoffnungen das bessere Los gewesen wäre. In der Titelerzählung "Seitensprung" beispielsweise endet eine Affäre aus freien Stücken. "Ich verschwende dein Leben", sagt er, und sie sieht rasch ein, dass das Ende bevorsteht. Und was es heißt, einen verheirateten Mann zu lieben, fügt Trevor in einem kleinen Bild zusammen: "Sie hörte zu, als er ihr abermals beteuerte, wie sehr er sie liebte; sie sah ihn nach seiner Aktentasche greifen, die sie so oft ersetzen wollte und es doch nicht konnte."

Am Ende gehen beide als Liebende auseinander. Der Schmerz ist da, wird nicht beiseite geschoben, und doch deutet der Erzähler Trevor an, dass dieser Abschied mehr über ihr Leben aussagt, als sie im Moment erahnen: "Die unausgesprochenen, aber von beiden verstandenen Regeln ihrer Liebe waren nicht verletzt worden im schmerzhaften Beenden dessen, was nicht zu Ende war und nie zu Ende sein würde. Nichts von ihrer Liebe war heute ausgelöscht worden: Das nahmen sie mit, als sie sich trennten und auseinander gingen."

Was in diesen Zeilen anklingt, ist nicht ganz leicht und nicht auf Anhieb zu verstehen. William Trevor scheut diese Komplexität nicht. Seine Figuren und seine Leser müssen den melancholischen Zwiespalt aushalten. Es ist ja auch nicht ganz leicht, die Liebe auf Anhieb zu verstehen.


William Trevor:
Seitensprung,

Verlag Hoffmann und Campe,
übersetzt von Brigitte Jakobeit,
238 S., 22 Euro.