Zentraler Teil des NS-Terrorapparats

Vorgestellt von Andreas Möller · 03.12.2006
Welche Rolle spielten die Gefängnisse im nationalsozialistischen Deutschland? Waren sie Haftanstalten für "gewöhnliche" Kriminelle? Oder dienten sie als Teil des Terrorapparats gezielt der Einschüchterung der Bevölkerung? Nikolaus Wachsmann ist dieser Frage in einer umfangreichen Studie nachgegangen, für die der in England lehrende Historiker viel Lob geerntet hat. Nun ist das Buch auf Deutsch erschienen.
Wachsmann Ausgangsthese lautet, dass die Justizanstalten bei der Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Vergleich zu den Konzentrationslagern weitgehend ignoriert wurden. Für den Autor ist dies umso verblüffender, da bereits zwei Jahre nach Machtübernahme der Nationalsozialisten mehr als 100.000 Frauen und Männer in Gefängnissen und Zuchthäusern ihre Strafen verbüßten – zu einer Zeit also, in der die Konzentrationslager erst im Entstehen waren und weitaus geringere Insassenzahlen aufwiesen.

"Im Frühsommer 1935 gab es gerade einmal fünf SS-Konzentrationslager mit insgesamt rund 3500 Insassen. Die berüchtigten KZ wurden zu diesem Zeitpunkt also von den ‚normalen’ Justizanstalten vollkommen in den Schatten gestellt. Das sollte sich sobald nicht ändern: Über die längste Zeit des Nationalsozialismus waren mehr Menschen in Strafanstalten eingesperrt als in SS-Konzentrationslagern."

Im Vergleich zu den Konzentrationslagern handelte es sich bei den Gefängnissen und Zuchthäusern um keine spezifischen Erscheinungen des Nationalsozialismus, sondern um vormalige Anstalten der Weimarer Justiz. Diese Kontinuität trug aus der Sicht von Wachsmann dazu bei, die Haftanstalten als vom politischen System abgekoppelte, autonome Räume zu missdeuten.

Insofern irritiert der Vergleich, den Wachsmann mit seiner Bilanzierung der Opferzahlen zieht, da er historisch unsauber ist. Denn vor allem die Haftbedingungen in den Gefängnissen sollten sich zumindest in der Vorkriegszeit deutlich von denen in den Konzentrationslagern unterscheiden.

Gleichwohl rührt Wachsmann mit dieser Gegenüberstellung bereits auf den ersten Seiten am Kern des Problems, das er über die Länge des Buches verfolgt: das Vernachlässigen einer auch zahlenmäßig bedeutenden Gruppe von Gefangenen, die dem Staatsterror bereits in den ersten Wochen zum Opfer fiel und daher nicht in den Konzentrationslagern landete.

Die Haltung von Richtern und Vollzugsbeamten, die sich nach dem Krieg auf den Befehlsnotstand beriefen, spielte damit von Anbeginn an eine Schlüsselrolle bei der Terrorisierung der Zivilbevölkerung. Dies lässt sich auch im sprunghaften Anstieg der Inhaftierungen innerhalb des Jahres 1933 ablesen:

"Im Dritten Reich stieg die Zahl der Verurteilten wegen politischen Widerstands von Beginn an steil an. Hatten 1932 nur 66 Angeklagte wegen Vorbereitung zum Hochverrat eine Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe erhalten, waren es 1933 bereits 1652. In den folgenden Jahren gingen die Gerichte noch schärfer gegen politische Gegner vor."

Um diese Zahlen besser einordnen zu können, führt das Buch dem Leser die Vorgeschichte der Haft in der Weimarer Republik vor Augen: Es zeigt, wie das Gefühl der Kriminalität am Vorabend des Dritten Reiches allgegenwärtig war. So kletterte die Zahl der Straftaten vor allem während der Wirtschaftskrise in die Höhe. Aber auch die Presse, die durch die Berichterstattung über Gewaltverbrechen die Faszination am Bösen schürte, verstärkte diese Wahrnehmung.

Das Erbe von Weimar bildete somit auch im Bereich der Justiz und des Strafvollzugs den Nährboden für eine Radikalisierung des Alltags. Hitler und andere Nationalsozialisten hatten bekanntermaßen selbst die Vorzüge einer moderaten Haftbehandlung erfahren und waren gegen die aus ihrer Sicht zu weichen Bedingungen im Vollzug Sturm gelaufen.

Mit dieser Kritik an einer "Humanitätsduselei", argumentiert Wachsmann, konnten sich die konservativ geprägte Justiz und das Vollzugsbeamtentum von Anfang an einverstanden erklären. Beide Berufsgruppen bildeten damit eine Infrastruktur, auf die der Nationalsozialismus glänzend aufbauen konnte und die ihm bis zum Schluss den Anschein einer Legitimität verlieh.

"Im Dritten Reich gehörte es zum guten Ton, sich über die Gefängnisse der Weimarer Republik lustig zu machen. Von pädagogischen Illusionen verblendet, seien sie viel zu sanft mit den Gefangenen umgegangen, hieß es."

In Folge der verschärften Strafkriterien überstieg die Zahl der Gefangenen 1934 zum ersten Mal die Marke von 100.000. Großen Anteil daran hatte auch die Ahndung von Bagatelldelikten und Wiederholungsstraftaten, die zu Sicherheitsverwahrungen im großen Stil führten. Prekärer Weise gehören diese Maßnahmen zu jenen positiven Erfahrungen, die viele Zeitzeugen neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dem Bau der Autobahnen oder der KdF-Freizeitkultur in Erinnerung behalten haben.

Wachsmann weist hierzu nach, wie selbst Kleinkriminelle als gefährliche Täter stigmatisiert wurden. Die Intention des Buches liegt dabei auf der Hand: Es will den Verurteilten eine späte Öffentlichkeit geben und die politisch motivierte Inhaftierung "gewöhnlicher" Straftäter aufzeigen.

Immer wieder zieht der Autor dazu Einzelschicksale heran, denen er durch Gefängnisakten, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen auf die Spur gekommen ist. Und vielleicht gehören diese Beobachtungen zum Gefängnisalltag zu den stärksten in einem insgesamt lesenswerten Buch; auch, da sie mit dem Klischee aufräumen, in der Haft hätten Recht und Ordnung geherrscht.

"Von allem Männern und Frauen, die sich am 1. Januar 1937 in Sicherheitsverwahrung befanden, waren nur 7,7 Prozent Gewalt- oder Sexualverbrecher, während 86,1 Prozent wegen Diebstahls oder Betrugs verurteilt worden waren."

Die massive Überfüllung der Strafanstalten hatte dramatische Konsequenzen für die Situation der Gefangenen, vor allem für ihre Verpflegung und gesundheitliche Versorgung. Aber auch Zwangsarbeit gehörte ab Mitte der dreißiger Jahre zum deutschen Strafvollzug. Vor allem in den Strafgefangenenlagern kam es zudem systematisch zu Gewaltübergriffen auf Häftlinge, die viele nicht überlebten.

An all dem, so zeigt Wachsmann, waren Justiz und Strafvollzugsbeamte in hohen und niedrigen Diensträngen beteiligt, indem sie drastische Strafen anordneten und umsetzten oder die Häftlinge in die Hände von Polizei und SS spielten. Die Strafpraxis des Dritten Reiches war damit nicht allein das Ergebnis des politischen Willens, der nach unten weitergegeben wurde: Sie war auch Ausdruck eines vorauseilenden Gehorsams, den man vor allem nach der Kritik Hitlers an der aus seiner Sicht zu "formalen" Rechtsanwendung an den Tag legte.

Dem eigentlichen Wesen des Strafvollzugs und seinen Entgleisungen, die im Bereich des Machtmissbrauchs gegenüber Wehrlosen angesiedelt sind, kommt die mehr als 600 Seiten starke Untersuchung nicht näher. Dass Gewalt und Willkür in Grenzsituationen gedeihen, unter denen Kriege und Diktaturen die extremsten sind – das macht Wachsmanns Buch dennoch auf eine beklemmende Weise aktuell.

Nikolaus Wachsmann: Gefangen unter Hitler
Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat
Siedler Verlag, München 2006