Zeitzeugen über den 4. Dezember 1989

Als die Stasi-Zentrale in Erfurt gestürmt wurde

17:29 Minuten
Menschen stehen am 4. Dezember 1989 in der Stasi-Zentrale in Erfurt in Thüringen um einen Tisch voll mit durchwühlten Unterlagen der Behörde.
Für den Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Jochen Voit, ist die Stasi-Besetzung 1989 "ein Meilenstein der friedlichen Revolution". © picture alliance/dpa/Archiv Gesellschaft für Zeitgeschichte
Von Henry Bernhard · 04.12.2019
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Den Anfang machten ein paar entschlossene Frauen. Als sie am Morgen des 4. Dezember 1989 hören, dass schwarzer Rauch aufsteigt über der Stasi-Zentrale in Erfurt, steht für sie fest: Die verbrennen Akten, und das muss unbedingt verhindert werden.
Am 4. Dezember 1989 ist Erich Honecker längst abgetreten, die Mauer gefallen. Die Stasi heißt seit gut zwei Wochen Nasi – korrekt: Amt für nationale Sicherheit. Der Hausmeister der Andreaskirche in Erfurt sieht, dass aus den Schornsteinen der Stasi-Bezirksverwaltung gegenüber schwarzer statt wie sonst weißer Rauch aufsteigt. Er informiert eine Freundin. Die taucht umgehend bei Gabi Stötzer auf.
"Ja, ich habe komischerweise am 4.12. mit die Stasi besetzt." Die Künstlerin Gabi Stötzer ist damals 36 Jahre alt. Sie hat schon jahrelang Frauen zusammengebracht, Kunstaktionen veranstaltet, widersprochen. Ein Jahr hatte sie im Frauengefängnis Hoheneck gesessen.
"Die Kerstin Schön und die Sabine Fabian standen früh vor der Tür und haben dann gesagt, 'Wir müssen jetzt die Stasi besetzen, die vernichten Volkseigentum, unser Eigentum!'. Und dann hatten die auch schon an der Tür den Plan. 'Na also, wir gehen zum Bürgermeister. Wir gehen zur SED Parteileitung. Wir gehen zum Staatsanwalt und wir gehen zum 'Volk' und machen das öffentlich.' Und zu mir sind sie gekommen, weil sie gedacht haben: Die ist verrückt genug, das mitzumachen. Ja, also ich hab dann gleich gesagt, 'Wir müssen noch mehr Frauen holen!' Und dann haben wir auch, glaube ich, bei Büchners geklingelt. Und Tely ist mitgegangen. Die gehörte ja auch zur Künstlerinnen-Gruppe.
"Ja, für mich konkret ging es an dem Tag so los, dass zu sehr früher Stunde, es war noch dunkel draußen, Kerstin Schön bei mir geklingelt hat an der Tür", erzählt Tely Büchner. "Sie hat gesagt: ‘Es werden Akten verbrannt, und das muss unbedingt gestoppt werden. Wir wollen heute mit vielen zusammen die Staatssicherheit besetzen!‘"

Unser Thüringen-Korrespondent Henry Bernhard hat auch die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt besucht – den Bericht hören Sie ebenfalls in der "Weltzeit". Die Haftetage in der ehemaligen Stasi-Zentrale bot Platz für über 300 Häftlinge. Der Ausstellungsort musste erkämpft werden, auch von Bürgerrechtlern wie Barbara Sengewald, denn die Stadt wollte das Gebäude abreißen. Jetzt lässt sich hier Zeitgeschichte nachvollziehen an einem authentischen Ort.

Tely Büchner ist damals 29 Jahre alt und im 4. Monat schwanger.
"Und ich musste erst mal wach werden, aber ich habe keine Sekunde gezögert, weil es einfach in der Folge der Dinge, dass hier unsere Akten vernichtet werden, das ging einfach nicht. Das war völlig klar, dass das gestoppt werden muss."
"Tely hat sich auch zurechtgemacht, und dann sind wir einfach los, und da sind wir dann in die Trabants gestiegen", sagt Gabi Stötzer.
Die einen werden zu Hause rausgeklingelt, andere auf der Arbeitsstelle angerufen. Barbara Sengewald, damals 36, erreicht der Anruf gegen 7.30 Uhr auf der Arbeit. "Also Gabi Stötzer hat Elisabeth Kaufhold in ihrer Arbeitsstelle angerufen", erinnert sie sich. "Wir hatten ja alle kein Telefon, und deswegen ging das nur über die Arbeitsstellen, und Elisabeth hat mich angerufen, und ich bin dann sofort los. Bin zu meinem Chef gegangen habe gesagt, ‚Ich muss jetzt zur Staatssicherheit. Die verbrennen Akten. Wir müssen das irgendwie verhindern!‘ Ja, und der Chef dort war sehr verständnisvoll und hat gesagt, ‚Klar, gehen sie!‘. Es war ja auch schon Dezember. Es war ja schon einiges voraus gegangen. Also er wusste ja, welche Rolle ich spiele oder was ich da so mache? Ja, und dann bin ich zur Stasi gekommen. Also hier zu Andreasstraße, zur Bezirksverwaltung. Da waren noch nicht so viele da."
"Sabine ist dann in die Großbetriebe gegangen, hat wie so ein Mantra gesagt: 'Wir besetzen heute die Stasi, und überlegen Sie sich, was Sie mitmachen können!' Die haben dann teilweise auf dem Betriebsfunk ausgerufen: 'Die Frauen besetzen heute die Stasi. Sie kriegen heute frei, wenn sie da mitmachen!' Also es war schon eine Situation, die knisterte. Aber es brauchte eben jemand, der das Streichholz angezündet hat", sagt Gabi Stötzer.

Der Staatsanwalt hält die Bürgerrechtlerinnen hin

Barbara Sengewald und Gabi Stötzer fahren weiter zur Staatsanwaltschaft. Die DDR habe ja immer behauptet, ein Rechtsstaat zu sein, also sei das Verbrennen von illegal beschafften Informationen doch verboten, wollen sie argumentieren.
"Wir sind einfach rein, wir sind einfach in dieses Gebäude rein und sind an der Sekretärin vorbei zu diesem Staatsanwalt, Bezirksstaatsanwalt Sander", sagt Barbara Sengewald. "Der hat uns hingehalten, hat immer wieder gesagt, er ist nicht zuständig und das wäre nicht seine Kompetenz und da wäre der Militärstaatsanwalt zuständig, weil die Stasi ein Militärobjekt ist, usw., usw. Er hat auch zwischendurch immer wieder telefoniert, wie wir wissen, auch mit Generalmajor Schwarz."
"Major Schwarz hat gesagt, 'Na ja, wenn die kommenden, werden sie verhaftet!' Und das hörte sich aber besser an als 'erschossen'. Und deswegen hab ich gesagt okay, ich kannte das ja schon. Dann hab ich gesagt: Okay, dann gehen wir eben rein, um sich da verhaften zu lassen. Ja, ich dachte: Lass die mal alle zusammen in einer Zelle sitzen …", erinnert sich Gabi Stötzer.
Ein Ordner mit der Aufschrift "Partei. Leitordner I. Führungsunterlagen" auf zerrissenen Blätter und Formulare
Aktenschnipsel, die eine der Besetzerinnen der damaligen Stasi-Zentrale in Erfurt vor 30 Jahren mitgenommen hat.© Deutschlandradio / Henry Bernhard
Als er zusagt, dass der Militärstaatsanwalt unterwegs sei, fahren die beiden Frauen zurück in die Andreasstraße. Zur gleichen Zeit informieren andere, unter anderem Tely Büchner, die Medien, den Rat des Bezirkes, den Bürgermeister. Sie wollen eine möglichst breite Öffentlichkeit – zu ihrem Schutz. Vor der Stasi-Bezirksverwaltung steht inzwischen eine große Menge. Die Stasi hatte nur zehn von ihnen eingelassen, in der Hoffnung, die zu täuschen und abzuwiegeln.
"Das haben wir von Anfang an gesagt: 'Wir gehen rein, die Bevölkerung steht hinter uns …', was wir gar nicht wussten, aber was wir angenommen haben, '… und es soll friedlich sein!'. Das ist ganz wichtig", sagt Gabi Stötzer.

Schwer bewaffnete Uniformierte

"Und wir standen dann vor dieser Tür, haben uns erst einmal versucht durchzuarbeiten, weil wir hatten gehört, dass eine Delegation von zehn Leuten im Gebäude drin sein soll", erzählt Tely Büchner. "Und nun wusste aber keiner, wo sind die denn? Reden die wirklich? Oder sind die inzwischen schon irgendwo weggesperrt? Und deswegen haben wir gefordert, dass wir auch reinkommen. Und da führte kein Weg rein. Die haben gesagt, es gibt eine Verhandlungsgruppe hier drin und mehr kommen nicht rein. Und dann sagte jemand: ‚Geht hinten rum!‘ Und genau das haben wir gemacht."
Vor dem Hintereingang steht schon seit dem frühen Morgen ein LKW der Stadtwerke quer, um den Abtransport von Akten zu verhindern.
"Und das war, als wir am Hintereingang waren, für mich so der einzige Moment, wo ich mal so ganz kurz den Atem angehalten habe, weil ich auch die Angst bei diesen jungen Uniformierten gesehen habe, die auch in dem Moment nicht wussten ...", sagt Tely Büchner. "Die sahen sich auf einmal so einer großen Gruppe von Leuten gegenüber, die sehr entschlossen waren. Und was sollten sie jetzt machen? Bewaffnet waren sie. Da hätte nur einer irgendwo durchdrehen müssen, zum Beispiel in so einer Situation. Und diese Situation gab es ja auch durchaus andersherum."
Die Stasi in Erfurt ist wie überall in der DDR schwer bewaffnet. Zur Verteidigung stehen auch Maschinengewehre bereit.

Suche nach den Öfen zur Aktenverbrennung

"Die sind von hinten rein. Ich stand mit Angelika und anderen vorne, am Haupteingang. Ja, wie sollte man das sagen? Ich habe nicht geklopft, ich habe da drangehauen an die Tür und habe gesagt, ‚Ich gehöre dazu, ich muss jetzt hier rein!‘ Und die Tür ging auf und wir sind vorne rein", sagt Barbara Sengewald.
"Dann waren wir drin", erinnert sich auch Tely Büchner. "Also ich hab in Erinnerung, es waren ganz leere Gänge dort. Es huschte mal so ein Schatten von links nach rechts. Es gab dann verschiedene Gruppen, die im Haus unterwegs waren. Und ich war in einer Gruppe mit drin, die die Öfen sehen wollte, wo wir ja nun auch die Akten retten wollten vor der Verbrennung. Und das war ein Katz- und Maus-Spiel über eine geraume Zeit. ‚Also wir haben ja gar keine Öfen. Wir sind hier an die Fernwärme angeschlossen. Wir gucken mal oben …‘, wo jeder Mensch weiß. Die Öfen sind doch unten. Wir waren irgendwann im Keller. Und da waren sie alle, die Säcke und die Öfen."
"Und da haben sie dann Filme, Fotos und Papier gefunden, Aktendeckel mit Rücken abgekratzt auch teilweise, das man nicht wusste, was die geforscht haben", sagt Gabi Stötzer.
Die Säcke mit Akten, die Öfen zum Verbrennen, die Asche. Viele waren beteiligt, aber am Anfang standen der Mut und die Entschlossenheit einiger weniger Frauen, betont der Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Jochen Voit.
Der Zellentrakt in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, aufgenommen am 3. Dezember 2012 in Erfurt in Thüringen. 
Die Haftetage in der ehemaligen Stasi-Zentrale bot Platz für über 300 Häftlinge.© picture alliance/dpa/Martin Schutt
"Wir haben das Schreiben vorliegen vom Generalmajor Schwarz, der hier die Stasi in Erfurt damals befehligt hat. Der schreibt dann irgendwann gegen 10, 11 Uhr nach Berlin: ‚Wir sind nicht mehr arbeitsfähig. Unser Objekt ist lahmgelegt.‘"
Viele waren beteiligt, aber am Anfang standen der Mut und die Entschlossenheit einiger weniger Frauen, betont Gabi Stötzer.
"Die Frauen haben eher Nein gesagt als Männer, und das war einfach unser Vorlauf. Und dann hatten wir einfach na ja, auch noch den Enthusiasmus der Jahrtausende, dass die Frau einfach noch nicht in der Öffentlichkeit war. Die haben die sowieso unterschätzt. Die gab es damals für sie gar nicht. Also Frauen existierten gar nicht für die, weder in ihrer Hierarchie, die war ja männlich, oder überhaupt auch im Widerstand. Und das war ja unser Vorlauf. Deswegen konnten wir ja da plötzlich uns aktiv wirklich bewegen, weil die gar nicht hinterherkamen, dass wir auch was zu sagen hatten."

Archiv in leeren Gefängniszellen

Der Leiter der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Jochen Voit, weist auf die nationale und internationale Bedeutung der Besetzung der Erfurter Stasi-Bezirksverwaltung vor 30 Jahren hin.
"Und das ist ein Meilenstein der friedlichen Revolution. Dass das dann sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass dann Suhl, Rostock, Leipzig auch noch dran sind, dass dann auch die Stasi besetzt wird – aber es beginnt eben hier in der Andreasstraße, hier wird erstmals mit friedlichen Mitteln eine Zentrale der verhassten Geheimpolizei und die dazugehörige Haftanstalt besetzt.
Und das ist wirklich einzigartig, weltweit! Denn die machen dann auch noch den nächsten Schritt, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, und schnappen sich die gesicherten Akten und lagern die ein in den leeren Gefängniszellen. Das heißt, sie machen über Nacht aus einem Knast ein Archiv. Wie geil ist das denn!? Hier beginnt eigentlich, wenn man so will, in der Andreasstraße das, was wir heute als Aufarbeitung der SED-Diktatur bezeichnen. Und das kann man doch mal wirklich feiern!"
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