Zeitstimmen-Portal

Brandenburgs digitales Gedächtnis

Marius Krohn zeigt im Industriemuseum in Brandenburg an der Havel ein Tagebuch einer Gartensparte aus DDR-Zeiten.
Geschichte wird auch über subjektive Zeugnisse, zum Beispiel Tagebücher, erzählt. © picture alliance / ZB
Von Vanja Budde · 17.02.2015
Auf der Internetseite www.zeitstimmen.de präsentiert das Brandenburgische Literaturbüro literarische Texte, Tagebücher, Erinnerungen und Fotos. Aus mehr als 2000 Orten in Brandenburg sind schon private Zeugnisse eingeschickt worden.
"Haben sich in Ihrer Familie Tagebücher, Erinnerungen oder Fotos erhalten – oder haben Sie vielleicht selbst Erinnerungen verfasst? Wir sammeln Zeitstimmen und -bilder, die in ihrer Summe ein lebendiges Bild vom Alltag und vom Wandel der Lebensverhältnisse in der Region geben. Wir freuen uns auf Ihre Nachricht"
So lockt das Literaturbüro auf der Internetseite www.zeitstimmen.de. Und schon viele Brandenburger sind dem Aufruf gefolgt, sind mit Kartons voller Fotos und den Erinnerungen der Großmutter nach Potsdam gefahren, zum Einscannen. Das kollektive Tagebuch ist nach Themen, Zeiten und Orten wohl geordnet, bietet eine Suchfunktion, und wer hier mit macht, will Erinnerungen teilen, damit sie lebendig bleiben.
"Marianne Vogt, Rehbrücke, 23. April 1945.
Um halb fünf Uhr morgens erscheint Frau E. unter meinem Fenster und berichtet mit vibrierender Stimme, daß die Russen schon in Saarmund - 3 km von uns entfernt - seien. Um 19 Uhr hören wir durch das Wummern und Zwitschern der Geschosse den Tritt von Soldatenstiefeln über unseren Köpfen. Ein dreckiger, kleiner Rotarmist steht vor uns, er wird von einem Fremdarbeiter begleitet, der den Dolmetscher macht. Er sucht das Haus nach deutschen Soldaten ab und läßt sich Zigaretten von uns schenken. Der Beschuß hört auf, wir haben das Gefühl, den Krieg überstanden zu haben."
Deutsche Geschichte aus subjektiver Sicht
Marianne Vogt beschreibt Vergewaltigungen lakonisch als "schnell und unpersönlich". Elisabeth Buchholtz, geboren 1870, erlebte das Kriegsende in Neuruppin. Sie berichtet von Luftangriffen, Toten in den Straßen der Geburtsstadt Theodor Fontanes und dem Trost, den sie im Glauben fand. Zwei von hunderten Tagebucheinträgen, die auf zeitstimmen.de umwälzende Monate und Jahre der deutschen Geschichte aus jeweils ganz subjektiver Sicht schildern.
"Ausgegangen sind wir davon, dass es überall in Brandenburg ungehobene Schätze an privater Überlieferung gibt, das heißt an Tagebüchern, an privaten Fotos."
Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro:
"Der Impuls war da, die Sachen zu sammeln und sie quasi im Internet verfügbar zu machen, weil das interessante Geschichten sind, wo sich die Überlieferung vor allen Dingen dann häuft, wenn es um historische Zäsuren geht, also etwa um Daten wie 1945 oder 1989."
Lonny Neumann, 1934 in Prenzlau geboren, ist in der Uckermark aufgewachsen, hat in Frankfurt/Oder studiert und war Lehrerin in Potsdam. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin. Ihre Tagebücher, die sie dem Zeitstimmen-Portal zur Verfügung gestellt hat, beginnen 1979.
"Ich war eine sehr gläubige junge Sozialistin, Kriegskind, noch voller Glauben, dass doch was Neues kommen müsste und der neue Mensch."
Denn hier im Neuen Garten ging Lonny Neumann spazieren, diskutierte dabei mit Freunden, wie die DDR zu reformieren sei, denn so etwas besprach man damals nicht am Telefon. Sie sehnte sich nach Freiheit und genoss trotzdem heiße Sommertage hinter dem Eisernen Vorhang.
"Sehen Sie jetzt, wo der Blick sich weitet dorthin, dies alles war von der Mauer besetzt. Wir lebten damit, ja. Und vor der Mauer gingen wir schwimmen, sie wurde im Grunde genommen nicht mehr wahrgenommen."
Im April 1986 schreibt sie:
"Wir trafen uns bei den alten Eichen im Neuen Garten. Wir fuhren an den Sacrower See zum Schwimmen und waren uns einig: Schreiben genügt jetzt nicht. ‚Sind grade wieder zwei in den Westen gegangen', so höre ich reden. Aber Weggehen? Das ist nicht unsere Auffassung von Freiheit, so sehr mir das Verlangen nach einer großen Landschaft bleibt. Die von der Mauer gestörten Seen und Parks können es nicht erfüllen, so oft ich hügelan, hügelab durch den Babelsberger Park laufe."
Private Erlebnisse für alle nachlesbar
Warum veröffentlicht sie ihre privaten Tagebücher im Internet? Für Lonny Neumann geht es um mehr als Erinnerungen festzuhalten:
"Meine Scheidung hing mit solchen Zeitfragen zusammen, dass wir also so die letzten Fragen – Parteizugehörigkeit und so – unterschiedlich empfanden. Es wurde dadurch mein Persönliches auch politisch oder umgekehrt, also es ließ sich von irgendwann an nicht mehr trennen. Ich habe es immer so empfunden, gerade in diesen Auseinandersetzungen um die vielen, die weggingen, dass Schreiben auch Zeugenschaft heißt."
Natürlich seien Zeitzeugen oft zu unkritisch und selbstgerecht ihrem eigenen Tun gegenüber, meint Lonny Neumann. Aber in der Vielzahl hätten diese subjektiven Stimmen ihre Berechtigung. Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro teilt diese Auffassung.
"Diese Internetseite Zeitstimmen ist im Grunde so eine Art Erkundungsinstrument, um so etwas wie eine zeithistorische, alltagsgeschichtliche Tiefenbohrung anzustellen, und indem man die Einzelauskünfte zusammenfügt, einen Mehrwert für die Gemeinschaft zu schaffen."
Letzte Station auf der Zeitreise mit Lonny Neumann durch das Potsdam ihrer Erinnerungen, nachzulesen auf www.zeitstimmen.de. Der Luisenplatz, heute Beginn der Einkaufsmeile und Sitz der Touristeninformation.
"Hier haben wir uns zu zehnt verabredet. Ein Pfarrer hatte das für uns angemeldet. Das war die erste nichtgenehmigte öffentliche Demo in Potsdam am 7. Oktober 1989. Ja, und haben so unseren Spruch ‚Wir bleiben hier' und so weiter ... und im Handumdrehen kamen in helllichten Scharen die Leute, also von dorther und die Straße runter und wir sangen: ‚We shall overcome' und ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit' – es fiel uns nichts mehr ein – und zu guter Letzt 'Hoch auf dem gelben Wagen'."
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