Zeitreise durch die Welt der Zahlen

Die Ursprünge des mathematischen Denkens liegen nicht im klassischen Griechenland, sondern gehen auf die Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens im vierten Jahrtausend v. Chr. zurück. Hans Wußing spürt in seinem Buch "6000 Jahre Mathematik" die Anfänge der Mathematik auf und schlägt einen Bogen bis in die Gegenwart.
Das erste, was auffällt, ist der Titel: 6000 Jahr. Oft wird gesagt, dass Mathematik – im heutigen Sinne – im klassischen Griechenland, also vor etwas 2500 Jahren begonnen hat.

Bei Wußing erfahren wir, dass es Mathematik schon Tausende von Jahren vorher in erheblichem Maße in asiatischen Kulturen, in China, Japan und Indien, sowie im vorderen Orient, das heißt in Ägypten und Mesopotamien gegeben hat.

Mit diesem ersten Eindruck hängt ein zweiter zusammen: Die Balance, die dieses Buch auszeichnet. Es zeigt die Entwicklung der Mathematik in ausgesprochen fairer Weise. Die einzelnen Epochen kommen zu ihrem Recht und werden in ihren Besonderheiten gewürdigt.

Dazu einige Beispiele:
Die Geschichte beginnt mit den 20.000 bis 30.000 Jahre alten Knochen, auf denen offensichtlich Zahlen angebracht sind, Zahlen, die als Striche ausgebildet sind. Berühmt sind der Wolfsknochen aus der Tschechischen Republik und vor allem der Ishango-Knochen, auf dem sogar Primzahlen zu erkennen sind.
Wußing hat nicht nur einen historisch weiten Blick sondern auch einen kulturell weiten Blick. Unter dem Stichwort "Ethnomathematik" wird unter anderem die zum Teil erstaunliche Mathematik der Azteken, Maya und Inka geschildert.
Natürlich wird auch die griechische Mathematik – die allgemein als klassischer Ursprung gilt - kenntnisreich und ausführlich behandelt. Aber eben auch die Mathematik in den Ländern des Islam, denn ohne die Arbeit der islamischen Gelehrten im Mittelalter wäre die antike Tradition vermutlich abgebrochen und wie die Mathematik dann aussehen würde, ist kaum vorstellbar.
Der bekannteste Gelehrte ist Al-Hwarizmi (780 – 850), der vor allem die Algebra und insbesondere die Lehre von den quadratischen Gleichungen wesentlich vorangetrieben hat. (Das Wort Algebra stammt letztlich auch von ihm – es ist eine Verballhornung eines Titel seines Werkes. Und aus seinem Namen entstand das Wort "Algorithmus".)

Das Buch endet mit einem Höhepunkt der Geschichte der Mathematik, nämlich mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung, die durch die wissenschaftlichen Genies Leibniz und Newton geprägt ist. Nach heutiger Kenntnis haben beide unabhängig voneinander die Infinitesimalrechung erfunden. Die Kommunikation war allerdings durch Verzögerungen, Missverständnissen und wohl auch sehr verschiedenen Charakteren geprägt, so dass es zu einem unseligen und für die Wissenschaft völlig unergiebigen "Prioriätsstreit" kam.

Im Vorwort wird als Ziel formuliert, dass das Buch "einem breiten Leserkreis einen Überblick über die Entwicklung der Mathematik von ihren Anfängen bis zum heutigen Stand vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit geben" soll.

Dies gelingt dem Autor in bewundernswerter Weise. Hans Wußing gehört zu den ganz großen Kennern der Mathematikgeschichte. Er hat ein fast unendliches Wissen, aber, ihm gelingt der leichte Ton. Man kann das Buch aufschlagen wo man will, man kann überall zu lesen beginnen – und erfährt auch überall etwas Interessantes. Nie protzt Wußing mit seinem Wissen, überall stellt er sich in den Dienst des Lesers. (Dabei ist allerdings auch klar: Das Buch ist kein Roman, sondern ein wissenschaftliches Werk.)

Die reiche Illustrierung trägt nicht nur zur Information, sondern auch deutlich zur Lesbarkeit bei.

Kurz: Das Buch ist ein Standardwerk, das jedenfalls auf meinem Schreibtisch einen festen Platz haben wird.

Rezensiert von Albrecht Beutelspacher

Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise
Springer, Heidelberg 2008
533 Seiten, 29,90 Euro