Zeitloser Zauber

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann |
Mögen sich neu erfundene Bräuche wie Mutter- und Valentinstag oder Mythen wie Freitag der 13. mit Hilfe moderner Medien von Amerika über die ganze westliche Welt ausgebreitet haben. Offen bleibt dennoch, warum es magische Zahlen und Daten praktisch in jeder Kultur gibt.
Gunter Hirschfelder: „Der Freitag der 13 wird heute von ungefähr einem Drittel der Deutschen als spezifischer Unglückstag wahrgenommen und viele Menschen haben eine Vorstellung davon, dass der Freitag der 13. ein Unglückstag ist. Warum, das wird allerdings wenig diskutiert.“

Dan Brown – „Sakrileg“:
Langdon lieferte Sophie einen kurzen Abriss der Geschichte des Templerordens, soweit sie wissenschaftlich zu untermauern war:

‚Mit Beginn des vierzehnten Jahrhunderts war der Templerorden so mächtig geworden, dass Papst Klemens V. beschloss, diese Machtfülle einzuschränken. Nach Absprache mit dem französischen König Philipp IV. inszenierte er eine genial geplante Nacht- und Nebel-Aktion, mit der er den Templerorden zerschlagen wollte. In einer Kommandooperation, die jedem modernen Geheimdienst zur Ehre gereicht hätte, ließ Papst Klemens den Streitkräften Philipps Geheimbefehle zugehen, die am Freitag, dem dreizehnten Oktober 1307, in einer genau abgestimmten Aktion in ganz Europa ausgeführt wurden.
An jenem Tag wurden zahllose Tempelritter gefangen genommen, grausam gefoltert und anschließend als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Tragödie klingt bis in unsere Zeit nach, denn noch heute gilt Freitag der Dreizehnte als Unglückstag‘.“


Der Bonner Völkerkundler Gunter Hirschfelder hat sich mit Freitag dem 13. so intensiv befasst wie kaum jemand sonst. Manches ist ihm dabei rätselhaft geblieben, eines aber weiß er ganz sicher: So wie es Dan Brown in seinem Bestseller „Das Sakrileg“ geschrieben hat, war es ganz bestimmt nicht.

Selbst wenn es zutreffen sollte, dass die Tempelritter tatsächlich an einem Freitag dem 13. verhaftet wurden, umgebracht hat man die Ordensmänner erst Jahre später nach einer langwierigen Untersuchung der Heiligen Inquisition. Dass das gemeine Volk an ihren Tod Anteil genommen hätte und dass es ihre Geschichte von Generation zu Generation immer weiter erzählt und dabei immer wieder an das schicksalhafte Datum erinnert hätte – darauf hätte es Hinweise geben müssen in Sagen und Märchen vergangener Jahrhunderte. Gunter Hirschfelder hat keinen einzigen gefunden.

Obwohl oder gerade weil sein Inhalt so dürftig ist, erscheint ihm das Buch von Dan Brown als gutes Beispiel, um zu erklären, wie eine Legende wie die von Freitag dem 13. entsteht. Eine fixe Idee werde ausstaffiert mit der Patina eines vorgeblichen historischen Ereignisses und der Aura einer alten Überlieferung. Ein bisschen Schauder gehöre dazu, ein paar Erinnerungen an alte Bräuche wie das wöchentliche Freitagsgeläut der Kirchen und ein paar Anknüpfungspunkte an allseits bekannten Aberglauben wie den von der Unglückszahl 13. Schon ist die Geschichte geheimnisvoll genug, um garantiert aufgegriffen zu werden von der modernen Medienmaschinerie.

Gunter Hirschfelder hält es für ausgeschlossen, dass Freitag der 13. ein Überbleibsel aus unaufgeklärten Zeiten sein könnte. Für ihn ist dieser Mythos eine Erfindung der Moderne:

„Interessant ist, dass er eben genau in das Konzept einer neuen Kultur des späten 20. Jahrhunderts passt, nämlich einer Kultur, die ein Wechselspiel von Medien und kultureller Alltagspraxis ist. Hier haben die Medien den Auftakt gemacht und haben einen Termin in die Diskussion geworfen mit einer besonderen Unglücksbedeutung, der dann andockte an älteren Vorstellungen von Glückstagen und Unglückstagen, von Glückszahlen und Unglückszahlen und wir haben hier dann das Einfordern einer kulturellen Praxis durch eine mediale Berichterstattung und so haben wir seitdem jedes Jahr ein bisschen verstärkt dieses Ping-Pong-Spiel zwischen Medien und Alltagskultur.“

Jedes mal, wenn der 13. auf einen Freitag fällt, werden Umfragen gemacht, welche Bedeutung die Menschen dem Tag beimessen. Allein durch die Frage wird die Bedeutung schon erzeugt. Manche Menschen achten darauf, was sie an diesem Tag tun, und einigen von ihnen passiert dann womöglich tatsächlich ein Missgeschick. So wird die Legende zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Die Frage, woher sie überhaupt kommt, tritt dabei in den Hintergrund. Hirschfelder hat einen Zeitungsartikel von 1957 als ältesten deutschen Beleg gefunden. Im Internet-Lexikon Wikipedia wird ein ufa-Film aus dem Jahre 1944 genannt. Schon 1907 ist in den USA ein Roman mit dem Titel „Friday, the 13th“ erschienen.

Das Werk schildert die Machenschaften eines Aktienhändlers, der am besagten Freitag durch Kursmanipulationen eine Firma in den Ruin treibt, zugleich aber auch sich selbst unfreiwillig ins Verderben stürzt. Geschrieben hat das Buch ein gewisser Thomas W. Lawson, dessen Biographie für den Mythos bürgen soll. Er ist tatsächlich an der Wall Street zum Multimillionär aufgestiegen und ein auf seinen Namen getauftes Schiff soll in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember gesunken sein. Der 13. war ein Freitag, aber ob der Segler nun an diesem Tag oder erst in den frühen Stunden des nächsten unterging, wurde nie ermittelt.

Es würde auch nichts ändern. Längst gibt es zahllose wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen: am Freitag den 13. passieren keineswegs mehr Unfälle oder Tragödien als an anderen Tagen. Dem Mythos tut das keinen Abbruch, konstatiert Gunter Hirschfelder.

„Medien brauchen immer wieder neue Themen. Wer einmal Lunte gerochen hat und auf den Freitag den 13. angesetzt ist, der ist natürlich mit den modernen Methoden des 20.Jahrhunderts in der Lage, unglaublich große Stoffmengen zu sichten und er wird dann immer wieder besondere Vorfälle an Freitag dem 13. finden. Bei der Summe von Ereignissen, die überhaupt einen medialen Niederschlag finden, kann es gar nicht ausbleiben, dass wir viele Unglücksfälle und besondere Vorkommnisse an Freitag dem 13. finden – auch viele positive Vorkommnisse, die können aber medial ausgeblendet werden – und so entstehen dann eben gewisse Thematisierungskonjunkturen.“

RIAS-Bericht 14.04.1970: Letzte Ereignisse Apollo 13
Funkverkehr: „We've had a problem here. ... Stand by 13. We're looking at it.
Wir haben ein Problem hier oben. Ein eigenartiges Geräusch tönt aus unserer elektrischen Hauptleitung. Und Houstons Antwort: Meldung erhalten. Okay, Apollo 13, wir kontrollieren die Situation. So fing es an.“

Mit dem Funkspruch des Astronauten James Lovell, dem Kommandanten des Raumschiffs Apollo 13, begann die Geschichte eines Unglücks, an dem weltweit Millionen Menschen so regen Anteil nahmen, dass es am Ende kaum mehr eine Rolle spielte, dass das Unglück gar kein Unglück war.

An Bord von Apollo 13 war ein Sauerstofftank explodiert. In der Folge funktionierten die Versorgungssysteme der Raumkapsel nur noch eingeschränkt. Die Mission musste abgebrochen werden, um die Astronauten so schnell wie möglich heimzuholen. Das dauerte mehrere Tage. Dabei traten diverse technische Probleme auf, die allesamt ausgiebig in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Ebenso wie die Ursachen der Havarie.

RIAS-Bericht 14.04.1970: Echo der amerikanischen Öffentlichkeit
„Es bleibt nicht aus, dass die Menschen hier und anderswo immer wieder an dem Gedanken hängen bleiben, dass die Apollo13-Mission von vornherein von einem Unstern begleitet war. Man bleibt an der magischen Nummer hängen, die in vielen Teilen der Welt ein Symbol für Ärger und Unglück ist. ... Der Start war 14.13 Uhr. Die Flugschwierigkeiten begannen gestern, am 13. Die ganze Mission prägt diese Nummer.“

Lange Zeit schien fraglich, ob die Astronauten lebend heimkehren würden. Am Ende landeten sie sicher im Pazifik. An einem Freitag. Nicht dem 13, sondern dem 17. Aber darauf kam es gar nicht mehr an. Im Gegenteil, als alles längst überstanden war, fiel ein paar ganz Spitzfindigen noch auf, dass die Startzeit 14.13 Uhr ja nur für Cap Canaveral galt, wo die Rakete abgehoben hatte. In Houston, wo die Mission geleitet und der Ablauf festgelegt worden war, standen die Zeiger auf 13.13 Uhr.

Symbole wirken oft stärker als Fakten. Apollo 11 steht in der allgemeinen Erinnerung für den Triumph der ersten Mondlandung. Apollo 13 markiert das Ende der amerikanischen Raumfahrteuphorie, auch wenn die NASA anschließend noch vier weitere erfolgreiche Missionen zum Erdtrabanten schickte.

Menschen ordnen das Leben seit jeher nach ihren Gefühlslagen und nicht unbedingt nach Tatsachen, sagt Gunter Hirschfelder. Sie erfinden sich die Daten und Chronologien, die sie brauchen.

„Chronologien sind notwendig, um Jahreszeit und damit auch Lebenszeit überhaupt erfahrbar zu machen. Das heißt, ich muss mein eigenes Leben in einem Zeitgerüst sehen, um dieses Leben überhaupt bewältigen zu können. In der Vormoderne war es ein Kanon an verschiedenen Brauchterminen, die allen Menschen in diesen Gesellschaften geläufig waren, das waren Heiligenkalender, das waren verschiedene Lebensrhythmustermine, das waren Feste, an denen eine ganze Dorfgemeinschaft partizipiert hat, Leben in überlieferten Ordnungen.“

Die alten Gemeinschaften und ihre Rhythmen sind weitgehend verschwunden. Aber das Interesse an magischen Daten ist auch in der Moderne geblieben.

Gunter Hirschfelder: „Da haben wir vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein ganzes Set von Terminen, die über uns gekommen sind und die alle relativ ähnlich funktionieren. Den Muttertag kann man nennen, in den 1920er Jahren zu uns gekommen, durch die Blumenindustrie eingeführt und erfunden ... , wir haben als weiteren Termin etwa Halloween, seit den 1980er und 1990er Jahren zu einem fest etablierten Brauch geworden, wir haben den Valentinstag seit den 1950er Jahren und in diesem Kontext spielt eben der Freitag der 13. auch eine Rolle als chronologischer Markpunkt in einem als diffus wahrgenommenen Zeitraster.“

Solche Markpunkte strukturieren nicht nur den Alltag. Manchmal können sie sogar helfen, nationale Traumata zu verarbeiten.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts hält gleich mehrere schicksalhafte Daten bereit, die im Bewusstsein und vor allem im Unterbewusstsein der Nation verankert sind. Ein solches Datum ist der 30. Januar.

Um ihn kreist die populäre Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Grass lässt einen Ich-Erzähler sein Leben bilanzieren, angefangen von der Geburt in den Wirren einer Schiffskatastrophe.

Der Ich-Erzähler ist erfunden, das Schiff gab es wirklich. Die nationalsozialistische Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“ hatte es bauen lassen. Anfangs wurde es als Kreuzfahrtdampfer eingesetzt, später als Truppentransporter. Am 30. Januar 1945 sollte es Flüchtlinge über die Ostsee bringen, wurde aber von sowjetischen Torpedos versenkt. Nur wenige Passagiere überlebten. Benannt war das Schiff nach Wilhelm Gustloff, einem Mann, der sich früh der Nazi-Bewegung angeschlossen hatte und der ermordet worden war.

Der Grasssche Ich-Erzähler beginnt im Internet die Biografie dieses Wilhelm Gustloff zu recherchieren.

„Was ich mir als bloßen Zufall zu erklären versucht hatte, hob den Funktionär Gustloff in überirdische Zusammenhänge: am 30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und so zwölf Jahre nach der Machtergreifung, abermals auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen. Da steht es wie mit Keilschrift in Granit gehauen. Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordsmäßig steigerte, zum Höhepunkt kam, zu Ende ging. Auch ich bin, dank Mutter, auf den Tag des fortlebenden Unglücks datiert worden.“

Grass treibt das Spiel mit dem Datum immer weiter.

Der Ich-Erzähler hadert damit, dass in seinem Leben vieles schief gelaufen ist: beruflich hat er nicht viel erreicht, seine Ehe zerbrach und der Sohn wurde Neo-Nazi. Er sucht nach Gründen, aber alle vernünftigen Erklärungsansätze überzeugen ihn nicht. Immer wieder kommt er auf das Datum seiner Geburt zurück.

„Das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser vermaledeite Dreißigste. Wie er mir anhängt, mich stempelt. Nichts hat es gebracht, dass ich mich jederzeit, ob als Schüler und Student oder als Zeitungsredakteur und Ehemann, geweigert habe, im Freundes-, Kollegen- oder Familienkreis meinen Geburtstag zu feiern. Immer war ich besorgt, es könne mir bei solch einer Fete – und sei es mit einem Trinkspruch – die dreimal verfluchte Bedeutung des Dreißigsten draufgesattelt werden, auch wenn es so aussah, als habe sich das bis kurz vorm Platzen gemästete Datum im Verlauf der Jahre verschlankt, sei nun harmlos, ein Kalendertag wie viele andere geworden. Wir haben ja Wörter für den Umgang mit der Vergangenheit dienstlich gemacht: sie soll gesühnt, bewältigt werden, an ihr sich abzumühen heißt Trauerarbeit leisten.“

Die Bewältigung der deutschen Vergangenheit durch Datumsbeschwörung – was Günter Grass im „Krebsgang“ erfindet, ist nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sagt Michal Bodemann. Er lehrt Soziologie an der University of Toronto. In den 80er und 90er Jahren war er Korrespondent des American Jewish Commitee für Deutschland. In seinem Buch „Gedächtnistheater“ beschäftigt er sich mit dem magischen Datum der deutschen Geschichte, dem 9. November. Auf diesen Tag fallen gleich mehrere Schlüssel-Ereignisse der deutschen Geschichte.

Michal Bodemann interessiert sich für den 9. November in erster Linie als Gedenktag an die Judenpogrome des Jahres 1938. Erzählungen über das, was an diesem Tag passiert ist oder passiert sein soll, spielen in der jüdischen Welt allerdings keine herausgehobene Rolle. Wenn Juden an die Verfolgung erinnern, stehen andere Daten im Vordergrund: der 15. September 1935 etwa, als die Nürnberger Gesetze in Kraft traten, der 20.Januar 1942, als auf der Wannsee-Konferenz die organisatorischen Details der Vernichtung beschlossen wurden, oder Yom Hashoah, das Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto, das in unserem Kalender kein festes Datum hat.

Aber auch in der deutschen Öffentlichkeit wird der 9. November 1938 jahrzehntelang kaum erwähnt. Bodemann hat Zeitungsarchive durchstöbert, um Artikel zu den Jahrestagen zu suchen. 1948, 1958 und 1968 finden sich nur ganz vereinzelte Berichte.

Erst 1978 beginnt dann das, was Michal Bodemann „Gedächtnistheater“ nennt. In zahllosen Städten der alten Bundesrepublik erinnern plötzlich Heimathistoriker und Geschichtswerkstätten an die Pogrome. Aber auf eine sehr deutsche Art, bemerkt Michal Bodemann:

„Es ... wird da beschrieben, wie wunderbar diese Juden da ein wunderschönes religiöses Leben geführt haben und was für große Beiträge sie zur deutschen Kultur gebracht haben. Es wird nicht darüber gesprochen, wer waren die Elemente im Dorf, die diese Leute gepeinigt haben hier in der Stadt. Darüber schweigen sie sich aus.“

Hätten die Initiatoren der vielen Ausstellungen und Gedenkfeiern 1978 genauer nachgefragt, wer was wann wo getan hat, hätten sie eine verblüffende Erkenntnis gewonnen: der 9. November 1938 war ein relativ ruhiger Tag im Deutschen Reich. Bodemann hat die Abläufe genau rekonstruiert.

Vorwand für die Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Einrichtungen sind Schüsse auf den Legationsrat Ernst vom Rath, die der 17-jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris abgefeuert hatte. Während vom Rath schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht wird, brechen in Deutschland noch am selben Tag die ersten Pogrome aus, die sich am 8. November noch steigern. Am 9. beruhigt sich die Lage. Nachmittags stirbt vom Rath. Um 22 Uhr gibt Goebbels offiziell seinen Tod bekannt. Es folgt der diabolische Satz, die Partei solle jetzt keine anti-jüdischen Aktionen starten, wo diese aber ausbrächen, werde man sie auch nicht verhindern. Genau fünf Minuten vor Mitternacht geht ein entsprechendes Telex an die örtlichen Gestapo-Dienststellen.

Am 9. November wäre also kaum noch Zeit gewesen, um SA-Männer und HJ-Burschen für neue Übergriffe zu mobilisieren, sagt Michal Bodemann.

„Es war weder in der Nacht, noch war es der 9. November. Das ging morgens am 10. November los, und es war der 10. November, an dem die Synagogen brannten und es war tagsüber, nicht nachts, weitgehend, als die Geschäfte geplündert wurden, als Mobiliar auf die Straße fiel, als die Männer in die Lager abtransportiert wurden.“

Mehr als 400 Menschen wurden ermordet. 1400 Synagogen brannten nieder und Tausende Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet. Die Ausschreitungen zogen sich über eine ganze Woche hin, vom 7. bis zum 13. November. Aber das öffentliche Gedenken in Deutschland datiert sie auf einen Tag.

Michal Bodemann: „Das Wichtige ist, dass der Tag, der 9. November, die Kristallnacht, die sogenannte, vor allem ein deutscher Gedenktag ist. Warum wird es ein zentraler deutscher Gedenktag? Es wird wesentlich dadurch, dass es zunächst auf den 9. November zurückverlegt wird, aus gutem deutschen nationalen Grund, nämlich der 9. November 1918, Abdankung des Kaisers, Ausrufung der Republik, dann Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle 1923, wiederum am 9. November, natürlich in Erinnerung an den 9. November 1918. Hier wurde die Kristallnacht erschaffen und in einen deutschen Kalender des Gedenkens gezwängt.“

Aber warum? Einfach nur, weil sich historische Ereignisse leichter merken lassen, wenn man sie alle an einem Gedenktag festmacht? Weil Erinnerung sich besser inszenieren lässt, wenn sie ritualisiert und rhythmisiert wird? Oder doch, wie Michal Bodemann meint, weil es die Deutschen entlastet, wenn sie den 9. November als den Tag beschwören, an dem Schicksalsmächte Unheil über sie brachten? Als den Tag, an dem die Politiker in Berlin die Chance auf eine funktionierende Demokratie verspielten. Als den Tag, an dem die Nationalsozialisten mit Hitlers Putschversuch schon mal ihren Machtanspruch demonstrierten, um dann 15 Jahre später ihr wahres, brutales Gesicht zu zeigen. Als den Tag, an dem die Deutschen ihre jüdischen Mitbürger verloren. Als einen Tag also, an dem es scheinbar nur Opfer gab.

Und dann fällt auch noch die Mauer an einem 9. November. Die deutsche Teilung, die viele als Strafe für Krieg und Verbrechen imaginiert hatten, ist überwunden.

Jetzt können sich selbst Historiker kaum noch der Magie des Datums entziehen. Für Fritz Stern markiert es ein kleines Wunder. Er schreibt:

„Die Deutschen haben das seltenste aller historischen Geschenke erhalten, eine zweite Chance.“

Und für Peter Steinbach spiegelt das Datum noch mehr als nur deutsche Geschichte. Er fragt:

" „Wird nicht im 9. November der Charakter des 20. Jahrhunderts als Epoche radikal vollzogener Umbrüche sichtbar?“

Um die Bedeutung symbolischer Daten wussten auch schon die Väter des Grundgesetzes. Nur hatten sie noch einen anderen deutschen Schicksalstag vor Augen: den 8. Mai.

Am 8. Mai 1945 hatte die Wehrmacht bedingungslos kapituliert. Auf den Tag genau vier Jahre später fand in Bonn die 10. Sitzung des Parlamentarischen Rats statt, der eine Verfassung für die Westsektoren ausarbeiten sollte. Zu Beginn der Sitzung beschwor der Abgeordnete Theodor Heuss „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie“ des Datums. Weil, so Heuss, die Deutschen erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.

Als sich die Debatte bis spät in den Abend zog, intervenierte der Präsident des Parlamentarischen Rats, Konrad Adenauer. „Ich glaube, die meisten von uns haben den Wunsch, dass das Grundgesetz das Datum des 8. Mai tragen möge“, rief er in den Saal und forderte die Abgeordneten auf, sich kurz zu fassen. Wenig später ließ er die Aussprache abbrechen, um die Abstimmung noch kurz vor Mitternacht über die Bühne zu bringen.

Mag sich die Vielzahl von Schicksalsdaten in Deutschland mit der schwierigen Geschichte begründen lassen. Mögen sich neu erfundene Bräuche wie Mutter- und Valentinstag oder Mythen wie Freitag der 13. mit Hilfe moderner Medien von Amerika über die ganze westliche Welt ausgebreitet haben. Offen bleibt dennoch, warum es magische Zahlen und Daten praktisch in jeder Kultur gibt.

Die Olympischen Spiele in Peking begannen am 8.8.08 um acht Minuten nach Acht abends. Auf diesen Zeitplan hatte das chinesische Organisationskomitee größten Wert gelegt. Denn die Acht ist in China eine Glückszahl. Völlig undenkbar wäre es gewesen, das Sportfest um vier Minuten nach Vier nachmittags zu beginnen, denn die Vier symbolisiert Unglück.

Man kann das vielleicht mit der Sprache erklären. Das Wort für Vier klingt im Chinesischen so ähnlich wie „sterben“ oder „Tod“. Und die Acht weist eine Lautverwandtschaft auf mit dem Begriff für „voran“ oder „entwickeln“, in manchen Dialekten angeblich sogar mit „reich“. Beim Klang von Zahlen schwingen bei vielen Menschen auch noch andere Saiten mit.

Aus Oliver Sacks – „Die Zwillinge“:
„Die Zwillinge saßen zusammen in einer Ecke. Es hatte den Anschein, als seien sie in eine einzigartige, rein numerische Unterhaltung vertieft. John nannte eine Zahl, eine sechsstellige Zahl. Michael griff die Zahl auf, nickte, lächelte und schien sie sich gewissermaßen auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann nannte er seinerseits eine andere sechsstellige Zahl, und nun war es John, der sie entgegennahm und auskostete. Von weitem sahen sie aus wie zwei Connaisseurs bei einer Weinprobe, die sich an einem seltenen Geschmack ergötzen. Was machten sie da?

Auf dem Heimweg fragte ich mich, ob diese Zahlen irgendeine Bedeutung haben konnten. Zuhause beugte ich mich über Tabellen von Logarithmen, Potenzen, Faktoren und Primzahlen – Relikte einer eigenartigen, einsamen Periode meiner eigenen Kindheit, in der auch ich Zahlen ‚gesehen‘ hatte. Die Vorahnung, die ich bereits gehabt hatte, wurde nun zur Gewissheit: Alle Zahlen, jene sechsstelligen Zahlen waren Primzahlen, das heißt Zahlen, die nur durch eins oder durch sich selbst zu teilen sind.

Am nächsten Tag besuchte ich sie wieder. Mein Buch mit den Tabellen und Primzahlen hatte ich mitgebracht. Nach einigen Minuten beschloss ich, ebenfalls mitzuspielen und nannte eine achtstellige Primzahl. Beide begannen gleichzeitig zu lächeln.

Dann dachte John eine lange Zeit nach und nannte eine neunstellige Zahl; nach einer ebenfalls langen Pause antwortete sein Zwillingsbruder Michael mit einer ähnlichen Zahl. Als nun die Reihe wieder an mir war, steuerte ich meinen eigenen, ziemlich unehrlichen Beitrag bei: eine zehnstellige Primzahl, die ich in den Tabellen gefunden hatte.

Nach eingehender Kontemplation nannte John schließlich eine zwölfstellige Zahl. Ich konnte sie weder überprüfen noch mit einer eigenen Zahl beantworten, denn mein Buch hörte bei zehnstelligen Primzahlen auf. Aber Michael war der Herausforderung gewachsen, und eine Stunde später tauschten die Zwillinge zwanzigstellige Primzahlen aus.

Was können wir über die Lage sagen, in der sich die Zwillinge und vielleicht noch andere befinden? Ich glaube, dass die Zwillinge, auch wenn sie schwachsinnig sind, den Gesamtklang der Welt hören – aber sie hören ihn nur in Zahlen.“


In Zahlen den Gesamtklang der Welt hören – was der New Yorker Psychiater Oliver Sacks an seinen Patienten beobachtet, war in alten Kulturen eine Selbstverständlichkeit. Die Sumerer, die zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak lebten, erfanden vor 5000 Jahren Zahlen und ein Zahlensystem. Ihnen war die Sechzig heilig. Warum, lässt sich heute nicht mehr ergründen.

Später wurde für viele Völker die Zwölf zur magischen Zahl. Bei ihr lässt sich schon eher verstehen, wieso sie die Welt repräsentieren sollte: der Tag hat zwölf Stunden, das Jahr zwölf Monate, die Sonne durchwandert im Laufe eines Jahres zwölf Tierkreiszeichen.

Der Zwölf kommt in vielen frühen Religionen eine herausgehobene Bedeutung zu. In der antiken Mythologie sitzen zwölf Götter im Olymp. Das Alte Testament zählt zwölf Stämme des auserwählten Volkes Israel. Aber Gott steht über den irdischen Dingen. Moses schreibt ihm exakt dreizehn Eigenschaften zu. Die 13 gilt in der jüdischen Überlieferung noch heute als Glückszahl.

Im Neuen Testament sammelt Jesus zwölf Jünger um sich. Beim letzten Abendmahl sitzen sie zu dreizehnt zusammen – einer zuviel, der Verräter Judas. Es ist ein Freitag, an dem Jesus gekreuzigt wird.

Anders als der Völkerkundler Gunter Hirschfelder glaubt deshalb der Berliner Religionswissenschaftler Hartmut Zinser, dass die Legende vom Freitag dem 13. nicht erst im 20. Jahrhundert erfunden wurde, sondern doch einen alten Ursprung hat. Schon relativ früh seien die 13 als Unglückszahl und der Freitag als Unglückstag in christlichen Gemeinden miteinander in Verbindung gebracht worden.

Hartmut Zinser: „Spätestens im 4., 5. Jahrhundert, als das Christentum in das dogmatische Christentum sich verwandelte und das Anhängen an Glaubenssätze, also das Glaubensbekenntnis ins Zentrum gestellt wurde, bildete sich gleichzeitig ein Bedürfnis aus, das Heilige, das Göttliche unmittelbar erleben zu wollen und dazu einen Zugang zu suchen. Zu solchen Mysterien, wie es dann auch heißt, gehören dann auch solche Spekulationen.“

Was sich die Schriftgelehrten dann vielleicht auf den Klostergängen zugeflüstert haben, malte der Volksmund schnell zu Geschichten aus, die ihm bald als Wahrheiten galten. Daran hat ihn auch die offizielle Theologie nicht gehindert, die sich zu keiner Zeit mit Zahlenmystik beschäftigt hat, erzählt Hartmut Zinser.

„In den offiziellen Kirchen spielen zahlenmystische Operationen keine Rolle. Sie werden abgewiesen eher, weil in der Zahlenmystik wird ja eben versucht, einen geheimen Sinn zu entdecken in den Texten und vor allen Dingen, dabei auch das Ungewisse und Gott verfügbar zu machen. Wenn ich es weiß, kann ich darüber verfügen. Und das ist natürlich eine Position, die von den christlichen Kirchen abgewiesen wird und abgelehnt wird, weil das den Gott beschädigen würde.“

Seit den Zeiten der Aufklärung lassen sich die Menschen aber immer weniger von den Kirchen sagen, was sie glauben sollen und was nicht. Eine Zeit lang schien es, als könnte die Wissenschaft die Welt erklären. Seit auch sie als entzaubert gilt, wird immer populärer, was früher als Aberglauben abgetan wurde.

Literaturliste

Die Zitate stammen aus:

Dan Brown: Sakrileg, Gustav Lübbe-Verlag 2004
Übersetzt von Piet van Poll

Günter Grass: Im Krebsgang, Steidl-Verlag 2002

Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Rowohlt Verlag 2008
Übersetzt von Dirk van Gunsteren

Außerdem:
Gunter Hirschfelder: Freitag der 13. – Ein Unglückstag? in: Zeitschrift für Volkskunde 97 oder Skeptiker magazin Nr.15

Y. Michal Bodemann: Gedächtnistheater, Rotbuch Verlag 1996

Hartmut Zinser: Der Markt der Religionen, Wilhelm Fink Verlag 1997

Thomas W. Lawson: Friday, the 13th, ursprünglich erschienen 1907, wieder veröffentlicht im Internet