Zeitlos gültig

Auf den ersten Blick kommen Ljudmila Petruschewskajas Texte wie soziologische Abhandlungen daher. Doch kühle Distanziertheit und warme Blicke halten stets die Balance - diese erzählerische Kunst offenbart auch ihre neue Erzählsammlung.
Liest man die Überschriften der Abteilungen, in die diese sechzehn Erzählungen sortiert sind, könnte man meinen, Ljudmila Petruschewskaja sei unter die Soziologen oder Sozialpsychologen gegangen: "Verliebte Frauen", "Wie Kinder lieben" und "Die Geburt einer Familie" lauten sie. In gewisser Weise ist der Eindruck nicht falsch. Schon immer fiel die Prosa dieser Autorin auf durch den überaus geschärften Blick tief hinein in privateste Zustände, der letztlich gesellschaftliche Dimensionen freilegte. Wenn also, wie in der Titelgeschichte, in diesem Band der Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle spielt, so bleibt die Ausprägung des einzelnen Falles durchaus privat, beschrieben wird dennoch ein bekanntlich sehr verbreitetes Phänomen.

Bei aller soziologischen Schärfung sind Petruschewskajas Texte doch immer Literatur. Sie erzählen Geschichten, in denen hinter einer geradezu beliebigen Episode auf knappstem Raum eine ganze Lebensgeschichte aufscheinen kann. Das harmlose Anbandeln in der Schlange vor dem Biertresen, das auf einen One-Night-Stand hinausläuft, endet in einem Suizidversuch. Zwei noch recht junge, aber schon von einem gründlichen Scheitern gezeichnete Menschen sind sich da begegnet und haben ihre Sehnsüchte einer auf den anderen projiziert. Doch bricht sich die Wirklichkeit ihre Bahn durch alle Projektionen, je näher beide einander kommen. Der Moment der Erkenntnis ist der Moment des Zusammenbruchs.

Man könnte aus solchen Begebenheiten jeweils ein wahrhaftes soziales Rührstück schaffen. Das freilich ist Petruschewskajas Sache nicht. Mit einer kaum zu übertreffenden Lakonie schildert sie die Lebensumstände und -geschichten ihrer Figuren, oft durchsetzt von einem ätzenden Humor. "Ihrer war ständig dienstlich unterwegs gewesen und dann für immer zurückgekehrt, aber nicht zu ihr", heißt es über eine ältere Frau (und ihren verflossenen Mann), die sich als Versicherungsvertreterin durch ihr entbehrungsreiches Leben schlagen muss. Es wimmelt in diesen Texten von solchen böshumorigen Pointen, in denen man auf den ersten Blick Schonungslosigkeit oder gar Schadenfreude entdecken könnte.

Aber die erzählerische Kunst dieser Autorin besteht genau darin, eine feine Balance zu halten zwischen der kühlen und verkürzenden Distanziertheit, mit der ein von außen kommender Blick die Lächerlichkeit einer Existenz erkennen, und der Wärme, die ein solcher Blick eben auch enthalten kann. Trotz aller Schwächen und Verzagtheiten, die die Figuren aufweisen und die als solche benannt werden, erscheinen diese Figuren nie als Verurteilte. Ein warmes Element des Verstehens, des Mitfühlens auch, ist dieser Lakonie stets beigegeben. Ein desillusioniertes Beschreiben von Zuständen mischt sich mit einem tiefen Verständnis für alles Menschliche, Allzumenschliche.

Das führt zu einer zeitlosen Gültigkeit. Bei einigen der Erzählungen wird deutlich gesagt, dass sie sich in tiefsowjetischer Zeit ereignen. Bei anderen fehlt ein solcher Hinweis, aber kleine Andeutungen lassen erahnen, dass sie in einer ungefähren Gegenwart handeln. Schließlich gibt es Texte, die gar keinen Aufschluss zulassen, in welcher Epoche sie sich abspielen. Es ist auch ganz egal, und in gewisser Weise geht von diesen Erzählungen die größte Verstörung aus. Könnte es sein, dass sich die Dinge nur sehr, sehr langsam verändern?

Zur Autorin:
Ljudmila Petruschewskaja wurde 1938 in Moskau geboren, wo sie auch heute lebt. 1961 schloss sie ihr Studium der Journalistik ab, arbeitete für Rundfunk und Fernsehen sowie für Zeitungen und eine Literaturzeitschrift. Ab 1973 erschienen Erzählungen, jedoch bekam sie zunehmend Schwierigkeiten mit der sowjetischen Zensur. Insbesondere in den 70er-Jahren machte sie eine steile Karriere als Dramatikerin, deren Stücke im In- und Ausland aufgeführt wurden. Sie erhielt zahlreiche renommierte Preise, unter anderem. 2003 den Puschkinpreis, zuletzt 2010 den World Fantasy Award.


Besprochen von Gregor Ziolkowski

Ljudmila Petruschewskaja: "Sie begegneten sich, wie das so vorkommt, beim Schlangestehen in der Bierbar.
Russische Liebesgeschichten."

Aus dem Russischen von Antje Leetz
Bloomsbury, Berlin 2012
192 Seiten, 9,99 Euro