Zeitgeschichte im Supermarkt

Von Holger Heimann |
Supermärkte, Baumärkte, Drogerien – hier verbringt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich sehr viel Zeit. Er studiert die Produkte der Warenwelt und liest darin den Zeitgeist unserer Wohlstandsgesellschaft.
"Das sieht aus als würde man auf Drogen sein. Wahnsinnige Farben. Beim Anschauen hat man ein kleines Levitationserlebnis."

So beschreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich nicht etwa ein expressionistisches Gemälde. Nein, er steht im Supermarkt an der Kühltruhe und hält eine Packung Käse in der Hand.

"Man hat auch nicht das Gefühl, man würde Fett zu sich nehmen, sondern eigentlich eher als würde man die Schwerkraft aufheben können, wenn man das zu sich nimmt. Das Bild passt überhaupt nicht zu dieser Information 60 Prozent Fett, das sieht nach minus 60 Prozent Fett aus."

Mit der Aufmerksamkeit des Kunstwissenschaftlers betrachtet Ullrich Mineralwasserflaschen, Zahnbürsten oder unterschiedlich verpackte Käsesorten. Er möchte wissen, was ein Duschgel von Axe und eine Kleinskulptur von Jonathan Meese gemeinsam haben. Beide, das Industrieprodukt wie das Kunstwerk, sind für Ullrich Zeuge ihrer Zeit und geben Aufschluss darüber, welche Werte en vogue sind, welche Mentalitäten in einer Gesellschaft und ihren unterschiedlichen Milieus vorherrschen.

"Ich gehe auch gern in Läden als Alternative zum Museum. Wenn ich zum Beispiel in einer fremden Stadt in einem anderen Land bin, dann werde ich mir garantiert nicht nur dort die Museen ansehen, sondern auch die Supermärkte. Aber überhaupt nicht, weil ich da etwas kaufen will, sondern wieder ein bisschen verstehen will vielleicht, wie ist gerade die Stimmung in dem Land, was ist anders als bei mir zu Hause."

Taucht Ullrich erst einmal in eine der üppigen Warenwelten ein, dann ist er oft stundenlang zwischen den Regalen unterwegs. Für die Verlockungen des Konsums ist der 46-Jährige kaum empfänglich. Umso erstaunter beobachtet er, wie stark die Lust am Einkaufen immer mehr um sich greift.

"Einer der Gründe, das zum Thema zu machen, war auch, dass ich verstehen wollte, warum viele Menschen so viel Zeit, so viel Geld ausgeben für den Konsum. Ich selber gehe selten in Läden, um einzukaufen. Ich habe jetzt sicher nicht gerade das, was man einen gut ausgestatteten Haushalt nennt. Die meisten Dinge sind irgendwo mal übriggeblieben."

Seit 2006 lehrt der gebürtige Münchner als Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. In seiner Heimatstadt studierte er Philosophie und Kunstgeschichte und promovierte über Heidegger. Später war Ullrich freiberuflich tätig. Als Unternehmensberater arbeitete er für Volkswagen genauso wie für Karstadt und Red Bull. Zwar half er nicht, einzelne Produkte zu inszenieren - er war trotzdem mittendrin im Kosmos des Marketings. Einen Namen aber hat er sich vor allem als enorm produktiver und unkonventioneller Autor gemacht. In zahlreichen seiner Aufsätze und mittlerweile 13 Bücher widmet er sich Konsumtheorie, Warenästhetik und Kunstrezeption.

Es ist ein großes Vergnügen, Wolfgang Ullrich im Supermarkt zu erleben. Die kindliche Neugier, mit der er zwischen den Regalen auf Entdeckungen aus ist, lässt den Mann mit dem schütteren Haar und einem großen Rucksack auf dem Rücken deutlich jünger wirken. Mittlerweile ist er bei den Deos angelangt.

"Und was haben wir hier von Adidas: Ice Dive, Intensive, Ice Effect. Also hier geht es mehr um diese Coolness-Erlebnisse, die das Produkt bereiten soll. Aber natürlich auch Frische, Kraft. Pure Game – also der Sportler, der unbedingt gewinnen möchte, der in einer Wettbewerbssituation sich sieht. Die Victory League geht auch in die Richtung, wenn man das verwendet, ist man der unbesiegbare Held."

Ironisch distanziert zitiert Ullrich die Versprechungen der Werbung. Aber anders als herkömmliche Konsumkritik sieht er nicht Täuschung und Verdummung am Werk.

Die Konsumprodukte sind heutzutage sprechender geworden, als sie das vor 30, 40 Jahren waren. Wir leben in einer Wohlstandskultur, wo auch die Erwartungen von Seiten der Konsumenten an Produkte sehr hoch geworden sind. Man will nicht nur, dass ein bestimmter Gebrauchswert sich erfüllt durch ein Produkt, sondern man möchte noch unterhalten werden, man möchte emotionalisiert werden, man möchte innere Bilder erzeugt bekommen, die einen als Konsumenten in eine besonders schöne, heldenhafte Rolle versetzen.

Am liebsten geht Ullrich mit seiner Freundin Stephanie Senge, einer Berliner Künstlerin, einkaufen. Sie teilt das Interesse des Wissenschaftlers für die Warenwelt, womöglich ist ihr Forscherdrang sogar noch größer. Beide haben in ihren Wohnungen in Karlsruhe und Berlin besondere Fundstücke deponiert. Während die Produkte für Wolfgang Ullrich Stoff für seine warenästhetischen Betrachtungen liefern und zur Anschauung zeitweilig Platz auf dem Schreibtisch finden, baut Stephanie Senge daraus vielgestaltige Skulpturen.

"Klar macht das oft nochmal mehr Spaß, wenn man zu zweit in einen Supermarkt oder Drogeriemarkt oder Baumarkt geht und sich Produkte anschaut und aufmerksam macht auf die Arten der Inszenierung. Und auch merkt, jeder achtet auf ein paar andere Dinge oder man schließt eine Wette ab und sagt: Wer hat als erster fünf Produkte gefunden, wo limited editon draufsteht. Und jeder guckt woanders und findet dann plötzlich limited edition auf dem Toilettenpapier, wo man es vielleicht zuletzt erwartet hätte."

Das pralle Warenangebot hält für Wolfgang Ullrich beständig neue Überraschungen bereit. Genauso unerschöpflich wie die Energie der Produktmanager ist seine Lust am Entdecken. Das Erstaunen dieses Forschers scheint dabei immer noch zuzunehmen, denn schließlich ist alles nur Konsum.
Buchcover: "Alles nur Konsum" von Wolfgang Ullrich
Buchcover: "Alles nur Konsum" von Wolfgang Ullrich© Verlag Klaus Wagenbach
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