Zeiten der Trennung

Von Sabina Matthay · 25.04.2013
Vor elf Jahren erlebte der indische Bundesstaat Gujarat die schlimmsten Ausbrüche anti-muslimischer Gewalt in der Geschichte des Landes. Dabei wurden hunderte Menschen getötet. Eine echte Aufarbeitung der Ereignisse hat es nie gegeben. Stattdessen müssen sich Gujarats Muslime mit der Ausgrenzung abfinden.
Eine hinduistische Hochzeitsprozession zieht durch Ahmedabad, vorneweg eine muslimische Musikkapelle, wie es in Indien üblich ist. Das Bild fröhlichen multi-religiösen Miteinanders täuscht: Im Bundesstaat Gujarat und ganz besonders in der Hauptstadt Ahmedabad haben sich Hindus und Muslime auseinandergelebt. Die anti-muslimischen Ausschreitungen von 2002, die blutigsten in der Geschichte Gujarats, sind unvergessen.

Asif Khan Pathan: "”Da drüben auf dem Wasserturm haben die Polizisten und die Rowdies bei den Krawallen damals gestanden und auf uns geschossen.""

Asif Khan Pathan, Leiter einer Schule im Stadtteil Juhapura, führt durch das größte muslimische Ghetto Indiens. Über 300.000 Menschen leben hier, etwa sechs Prozent der Einwohner von Ahmedabad, täglich ziehen weitere her, Folge der Pogrome vom Februar 2002.

Damals starben 59 Hindu-Nationalisten bei einem Feuer. Umgehend wurden Muslime der Brandstiftung beschuldigt. Eine Menschenjagd begann, rund 2000 Menschen wurden getötet, fast ausschließlich Muslime, zehntausende flohen vor den marodierenden hindu-nationalistischen Banden, während die Polizei tatenlos zusah.

Gujarats Ministerpräsident Narendra Modi duldete die Krawalle. Modi, Mitglied der Bharatiya Janata Partei BJP, ist Verfechter der Hindutva-Ideologie, wonach Indien das Land der Hindus ist und vor angeblich negativen Fremdeinflüssen, insbesondere muslimischen, bewahrt werden muss. Das steht dem säkularen Staatsgedanken Indiens entgegen. Doch geschadet hat es ihm nicht, Modi ist gerade wieder im Amt bestätigt worden.

Ghazala Paul, deren gemeinnützige Organisation Samarth sich nach 2002 um die Opfer der Krawalle kümmerte, ist nicht überrascht:

"Erst hat er Hindutva mobilisiert, hat eine Welle anti-muslimischer Ressentiments geschaffen und die Hindu-Mehrheit glücklich gemacht. Und dann hat er die wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben."

Tatsächlich verzeichnet Gujarat überdurchschnittliche Wachstumsraten, genießt Modi den Ruf eines effizienten Regional-Regierungschefs, der die Korruption eingedämmt hat. Gut möglich, dass die BJP mit ihm als Spitzenkandidat nächstes Jahr in die indische Parlamentswahl zieht.

Der Lehrer Asif Khan Pathan
Der Lehrer Asif Khan Pathan© Sabina Matthay
Opfer warten immer noch auf Entschädigung
Eine echte Aufarbeitung der Ausschreitungen von 2002 steht weiterhin aus. Erst jetzt wird ein paar Rädelsführern der Prozess gemacht. Opfer warten immer noch auf Entschädigung. Der Ministerpräsident hat nie ein Wort des Bedauerns geäußert.

In den elf Jahren seither ist es zwar ruhig geblieben in Gujarat, aber diese Ruhe ist keine Folge der Aussöhnung, sondern des Auseinanderlebens.

Asif Khan Pathan fährt mit uns über eine frisch geteerte Straße, die das muslimische Juhapura von Hindu-Vierteln abgrenzt.

"Auf dieser Seite leben die Muslime, auf der anderen die Hindus. Deshalb sprechen die Leute von der Grenze."

Eine Grenze, die von Polizeikasernen und von Siedlungen für kastenlose und niedrig-kastige Hindus abgepuffert wird.

Bis in die 90er-Jahre hinein war Juhapura ein gemischtes Viertel. Heute wohnen hier ausschließlich Muslime, manche in Slums ohne Strom und Wasser, viele in modernen Häusern und Apartments. Denn neben Unterprivilegierten ziehen auch betuchte Muslime hierher.

Es ist ein Rückzug aus Angst, sagt Ghazala Paul:

"Die Muslime versuchen sich zu schützen, mauern sich ein. Auch ein reicher Muslim wird immer ein Haus in Juhapura haben wollen, eine große Mauer drum herum, Stacheldraht darauf, um sich zu schützen."

Nicht nur Angst, auch Diskriminierung zementiert die Trennung von Muslimen und Hindus in Ahmedabad.

In Gegenden, in denen Hindus wohnten, würden ihm einfach keine Immobilien angeboten, berichtet der Unternehmer Nadeem Jafri:

"Weil ich Muslim bin. Vielleicht nicht mal wegen religiöser Vorurteile, sondern wegen Vorbehalten gegen unsere Lebensweise: Muslime essen Fleisch, Gujaratis sind Vegetarier."

Fleisch essende Hindus, Christen und der einzige Jude von Ahmedabad wohnen allerdings problemlos in ein und denselben Vierteln wie Hindu-Vegetarier.

Nur wenige Muslime unterlaufen diese Trennung.

Hindu-Apartmentsgebäude an der "Grenze" von Juhapura
Hindu-Apartments an der "Grenze" von Juhapura© Sabina Matthay
"Meine muslimische Identität überschattet alles andere"
Zakia Soman lebt in einer der modernen Wohnanlagen, die überall in Ahmedabad aus dem Boden gestampft werden. Die Apartments gehören ausschließlich Hindus. Weil Zakia mit einem Hindu verheiratet ist, wird sie hier toleriert.

"In dieser patriarchalischen Gesellschaft hat eine Frau keine eigene Persönlichkeit. Sie wird über ihren Ehemann definiert. Mein Name ist also nachrangig."

Amüsiert sitzt Zakia in ihrem Wohnzimmer, in Jeans und T-Shirt, mit offenem Haar, eine moderne Frau in einer verkrusteten Gesellschaft.

Die Ehe mit einem Hindu, das Leben in einem hinduistischen Viertel bedeutet jedoch nicht, dass Zakia ihre Identität verleugnet.

Im Gegenteil. Obwohl ihre Familie schon unter früheren anti-muslimischen Pogromen in Gujarat gelitten hatte, rüttelten die Krawalle von 2002 die promovierte Literaturwissenschaftlerin auf:

"Zum ersten Mal merkte ich, dass meine muslimische Identität alles andere überschattete. Auf einmal war ich vor der Welt nur noch Muslimin. Und als Muslimin muss ich ständig meinen Patriotismus und meine Loyalität beweisen, beweisen, dass ich Inderin bin."

Vor acht Jahren gründete sie die Bewegung Indischer Musliminnen, die inzwischen 35.000 Mitglieder in ganz Indien hat.

Sie haben sich den Kampf für Gleichheit vor Recht und Gesetz, für demokratische Teilhabe und Toleranz ins Programm geschrieben, und zwar ausdrücklich als säkulare indische Bürgerinnen muslimischer Religion.

Sie wollen aber auch die Dominanz der Männer brechen, vor allem die konservativer Kleriker in der muslimischen Gemeinschaft, und die Unterdrückung der Frauen durch die eigene Gemeinschaft beenden.

Das passe vielen Muslimen nicht, sagt Zakia:

"Als Muslimin wird man in vielerlei Hinsicht ausgegrenzt und benachteiligt. Wenn wir aber diese Probleme ansprechen, dann sagen selbst die vernünftigsten Leute: Lasst das doch jetzt, das nützt nur Narendra Modi und der BJP.

Aber wir haben nur dieses eine Leben, und obwohl wir die religiös bedingte Diskriminierung, die Politik der BJP und des Narendra Modi bekämpfen, müssen wir auch diese Fragen ansprechen."

Doch die meisten Muslime in Gujarat sind damit beschäftigt, sich mit der Trennung der religiösen Gemeinschaften abzufinden und der Vernachlässigung durch den Staat etwas entgegen zu setzen. Es mangelt an Trinkwasserbrunnen, Strom und Straßen. Und an Schulen.

In der Schule werden die religiösen Konflikte ausgeblendet
Die Crescent School in Juhapura: hell, bunt und sauber, modern ausgestattet. Die Klassen sind höchstens 30 Schüler stark, von der Grundschule bis zur Sekundarstufe.

Asif Khan Pathan leitet die private Einrichtung seit 2008:

"In Juhapura gibt es einfach zu wenig Schulen. Wer eine richtig gute Ausbildung für seine Kinder will, muss sie oft nach außerhalb, in nicht-muslimische Gegenden schicken."

Gerade mal vier staatliche Schulen in Juhapura können die rund 3000 Schulanfänger jedes Jahr nicht aufnehmen. Etwa 85 Prozent der Schüler besuchen deshalb private Gründungen wie die Crescent School.

Im Unterricht werden die religiös bedingten Konflikte Indiens übrigens nicht behandelt, auch nicht die Ausschreitungen von 2002, die die Ghettoisierung der Muslime in Gujarat vorangetrieben haben.

Die staatlichen Lehrpläne sähen das Thema nicht vor, sagt Asif Khan Pathan. Und:

"”Wir wollen ihnen in einem so sensiblen Alter keine negativen Gedanken einflößen. Deshalb reden wir überhaupt nicht über die Krawalle und dergleichen.""

Weder mit den Kindern noch unter Erwachsenen. - Die meisten Hindus in Gujarat halten es genauso:

Kabir Thakore: "”Ich fragte Schüler, mit denen ich arbeitete: Wisst Ihr was über die Ausschreitungen von 2002, und keiner wusste davon. - Nach und nach habe ich ihnen dann davon erzählt. Sie waren völlig überrascht.""

Kabir Thakore ist Hindu und begeisterter Theatermacher. Mit jungen Leuten führt er in seiner Freizeit sozialkritische Stücke auf.

Vor einigen Jahren machte er den Personenkult um Ministerpräsident Modi zum Thema einer Inszenierung, jetzt hat Kabir Thakore ein Stück über die Pogrome von 2002 auf die Bühne gebracht.

"Ich habe diesen Ausschreitungen ein Gesicht gegeben. Das Gesicht eines Hindus der Mittelschicht. Seine Familie findet heraus, dass er Verbrechen begangen hat. Morde, Vergewaltigungen. Und plötzlich kann keiner mehr seinen Anblick ertragen."

Die Reaktion des Publikums bei der Premiere habe ihm gefallen, sagt Kabir Thakore und grinst. Den Zuschauern, alle Hindus, sei deutlich unwohl gewesen in ihrer Haut. Doch Schuldbewusstsein gebe es unter ihnen nicht.

So lange er zurückdenken könne, seien Hindus in Gujarat der muslimischen Minderheit distanziert begegnet. Nach 2002 habe sich aber regelrechter Chauvinismus breit gemacht.

Der Ministerpräsident - Rassist oder Visionär?
Doch selbst unter Muslimen gewinnt die BJP inzwischen Anhänger. Stolz erläutert Abdullah Ibrahim Saiyed die Auszeichnungen, die er in seiner Dienstzeit erhalten hat. Fotos zeigen den hochdekorierten Polizisten mit dem Gouverneur von Gujarat und mit Indiens ehemaliger Staatspräsidentin Patel.

Nach seiner Pensionierung ist Saiyed in die Politik gegangen, 2010 ließ er sich für die Wahl zum Stadtrat von Ahmedabad aufstellen – für die BJP.

"Na und? Das ist eine politische Partei!"

... verteidigt Saiyed seine Entscheidung. Ministerpräsident Modi sei kein Rassist, sondern ein Visionär, der Gujarat einfach voranbringen wolle. In der BJP könne er für das Wohl der Allgemeinheit arbeiten, behauptet Saiyed, nicht nur für das der Muslime. Denn er sei ganz und gar kein Quoten-Muslim:

"Als ich noch bei der Polizei war, hieß es mal: Sie sind muslimischer Polizist. Ich entgegnete: Nein, ich bin Polizist! Wenn ich meine Uniform anziehe, lege ich meine Religion ab. Dann bin ich nur noch Polizist. Kaste, Glaube – nur noch Polizei."

Doch so säkular der sportliche Pensionär sich auch gibt – die BJP stellte ihn als ihr muslimisches Gesicht in Juhapura auf, ihr erster Versuch, die Vorherrschaft der Kongresspartei unter den Muslimen dort zu brechen.

Saiyed unterlag nur knapp, mit 13.000 Stimmen erhielt er unverhofft deutlichen Zuspruch in dem Ghetto.

Einen der ihren unter den Mächtigen im Stadtrat von Ahmedabad zu sehen, wog für viele muslimische Wähler offenbar schwerer als die potenzielle Bedrohung, den der Hindunationalismus der BJP für sie birgt.

Bei den Wahlen zum Regionalparlament im Herbst 2012 stellte die Partei allerdings keinen einzigen Muslim als Kandidaten auf. Hindutva bleibt das ideologische Fundament der Partei, das jederzeit wieder gegen Muslime mobilisiert werden könne, meint Zakia Soman:

"Nicht in naher Zukunft, denn diejenigen, die damals davon profitiert haben, sitzen jetzt fest im Sattel, mindestens für die nächsten zehn Jahre."

Wenn heute Ruhe in Gujarat herrsche, so Zakia Soman, dann deshalb, weil Gewalt politisch gar nicht nötig sei.

Die wachsende Kluft zwischen Hindus und Muslimen sieht sie jedoch mit Sorge: Die Entfremdung führt unausweichlich zur Verfestigung von Vorurteilen. Die Trennung ist Wasser auf die Mühlen der Extremisten, Gift für ein wirklich friedliches Zusammenleben.
Der pensionierte Polizist Abdullah Ibrahim Saiyed
Der pensionierte Polizist Abdullah Ibrahim Saiyed© Sabina Matthay
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