Zeitdokument des Nationalsozialismus
Wie wurde ich eigentlich Nationalsozialist? Vor allem um diese Frage geht es in einer bislang unveröffentlichten politischen Autobiografie des SA-Manns Horst Wessel. Die beiden Zeithistoriker Manfred Gailus und Daniel Siemens haben dieses Dokument nun kommentiert herausgegeben.
Eine Kladde, fester grüner Einband, unliniertes Papier, 38 Seiten zierlich runde Handschrift, dazwischen oft Bilder mit kurzen Legenden. Dann zwölf Seiten nur eingeklebte Fotos ohne Kommentar, hier und da Bleistiftstriche oder Kreuzchen. Der Rest etwa 40 leere Seiten. Eindeutig kein Tagebuch. Tagebücher haben Daten über Einträgen, keine Kapitel und keinen Titel, der die ganze erste Seite für sich hat: POLITIKA. In griechischer Schrift. Das hier ist ein ambitioniertes work in progress, geschrieben Mitte/Ende 1929. Hier will jemand schriftlich niederlegen, wer er ist respektive sein und werden will.
Er heißt Horst Wessel, geboren 1907 als Sohn eines völkisch-großmäuligen Pfarrers, gestorben 1930 als aufstrebender Berliner SA-Truppführer. Sein Leben bricht ähnlich unnatürlich "mittendrin" ab wie der Text. Lange bevor er werden konnte, was er wollte: etwas Höheres bei seinen "Nazi". Lange auch bevor die NSDAP selbst mehr war als eine extrem fanatische Splitterpartei.
Die makabre Ironie: Sein Tod wird zur Krönung seines Lebens. Er taugt zum Märtyrer. Unter Goebbels’ Regie wird Wessel zur Ikone, mit der sich nicht nur andere gewaltbereite, erlebnisorientierte Jungmänner mit Sehnsucht nach "Gemeinschaft" ködern, sondern später auch weite Teile der protestantischen Kirchen in den NS-Staat einbinden lassen. Das Bewerbungsschreiben Politika allerdings wird nie veröffentlicht.
Dass es den Krieg überlebt hat, ist länger bekannt. Vermutlich hat es Ralf Georg Reuth bei Recherchen zu seiner Goebbels-Biografie (1990) in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek zuerst gefunden. Es blieb auch danach falsch - nämlich wie von Goebbels und der marketingschlauen Familie Wessel - als "Tagebuch" etikettiert und unerkannt als einzigartiges Dokument der "Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung" des Berliner Jung-Nazi-Milieus.
Diesen historiografischen Schatz hat erst Daniel Siemens gehoben, zunächst für seine glänzende Wessel-Biografie (2009). Jetzt haben er und Manfred Gailus, der seit Langem über die NS-Verstrickungen des deutschen Protestantismus und speziell den Pfarrer Ludwig Wessel forscht und publiziert, den Originaltext veröffentlicht. Zusammen mit Horst Wessels zwei Jahre vorher verfasstem, weniger zielstrebigen Bericht "Die große Deutschlandfahrt", etlichen Fotos und einer 60-seitigen Einleitung. Texte wie Fotos sind mit detaillierten Anmerkungen versehen. Die beiden Historiker haben praktisch bei jedem Satz, jedem Bild akribisch nachrecherchiert, wo Wessel Geschichtsklitterung betreibt oder einfach auf gut Berlinerisch "den dicken Max markiert".
So, gut gepolstert mit Fakten, ist das Buch ein faszinierendes, erhellendes Stück Aufklärung. Beim Lesen von Wessels Ergüssen sträubt sich einem alles. Man weiß nicht, was grauenhafter ist, der schwülstige, hohle Stil mit der schiefen Grammatik oder der Inhalt mit dem verquasten, auf Krawall gebürsteten "Pubertismus", der großkotzigen Gewaltverliebtheit und der kerlig-soldatischen Führersehnsucht samt Waffennarretei.
Man ertappt sich lesend beim Abgleichen mit den Einblicken, die man nach und nach über die neuen Nazis von Zwickau und anderswo hat. Das braune Terror-Milieu von heute ähnelt dem von damals, fast als gebe es einen genetischen Code für die Sucht nach einem Dauerspalier aus "Hass und Begeisterung". Gailus und Siemens haben den lange verharmlosten "fruchtbaren Schoß" mit seinen Wunsch-, Denk- und Gefühlswelten dokumentiert. Und das ist das Wertvollste, weil Erschütterndste an ihrem Buch.
Rezensiert von Pieke Biermann
Manfred Gailus/Daniel Siemens (Hg.): Hass und Begeisterung bilden Spalier. Die politische Autobiografie von Horst Wessel
be.bra verlag, Berlin 2011
200 Seiten, gebunden, 18 Euro
Er heißt Horst Wessel, geboren 1907 als Sohn eines völkisch-großmäuligen Pfarrers, gestorben 1930 als aufstrebender Berliner SA-Truppführer. Sein Leben bricht ähnlich unnatürlich "mittendrin" ab wie der Text. Lange bevor er werden konnte, was er wollte: etwas Höheres bei seinen "Nazi". Lange auch bevor die NSDAP selbst mehr war als eine extrem fanatische Splitterpartei.
Die makabre Ironie: Sein Tod wird zur Krönung seines Lebens. Er taugt zum Märtyrer. Unter Goebbels’ Regie wird Wessel zur Ikone, mit der sich nicht nur andere gewaltbereite, erlebnisorientierte Jungmänner mit Sehnsucht nach "Gemeinschaft" ködern, sondern später auch weite Teile der protestantischen Kirchen in den NS-Staat einbinden lassen. Das Bewerbungsschreiben Politika allerdings wird nie veröffentlicht.
Dass es den Krieg überlebt hat, ist länger bekannt. Vermutlich hat es Ralf Georg Reuth bei Recherchen zu seiner Goebbels-Biografie (1990) in der Krakauer Jagiellonen-Bibliothek zuerst gefunden. Es blieb auch danach falsch - nämlich wie von Goebbels und der marketingschlauen Familie Wessel - als "Tagebuch" etikettiert und unerkannt als einzigartiges Dokument der "Selbstwahrnehmung und Selbstinszenierung" des Berliner Jung-Nazi-Milieus.
Diesen historiografischen Schatz hat erst Daniel Siemens gehoben, zunächst für seine glänzende Wessel-Biografie (2009). Jetzt haben er und Manfred Gailus, der seit Langem über die NS-Verstrickungen des deutschen Protestantismus und speziell den Pfarrer Ludwig Wessel forscht und publiziert, den Originaltext veröffentlicht. Zusammen mit Horst Wessels zwei Jahre vorher verfasstem, weniger zielstrebigen Bericht "Die große Deutschlandfahrt", etlichen Fotos und einer 60-seitigen Einleitung. Texte wie Fotos sind mit detaillierten Anmerkungen versehen. Die beiden Historiker haben praktisch bei jedem Satz, jedem Bild akribisch nachrecherchiert, wo Wessel Geschichtsklitterung betreibt oder einfach auf gut Berlinerisch "den dicken Max markiert".
So, gut gepolstert mit Fakten, ist das Buch ein faszinierendes, erhellendes Stück Aufklärung. Beim Lesen von Wessels Ergüssen sträubt sich einem alles. Man weiß nicht, was grauenhafter ist, der schwülstige, hohle Stil mit der schiefen Grammatik oder der Inhalt mit dem verquasten, auf Krawall gebürsteten "Pubertismus", der großkotzigen Gewaltverliebtheit und der kerlig-soldatischen Führersehnsucht samt Waffennarretei.
Man ertappt sich lesend beim Abgleichen mit den Einblicken, die man nach und nach über die neuen Nazis von Zwickau und anderswo hat. Das braune Terror-Milieu von heute ähnelt dem von damals, fast als gebe es einen genetischen Code für die Sucht nach einem Dauerspalier aus "Hass und Begeisterung". Gailus und Siemens haben den lange verharmlosten "fruchtbaren Schoß" mit seinen Wunsch-, Denk- und Gefühlswelten dokumentiert. Und das ist das Wertvollste, weil Erschütterndste an ihrem Buch.
Rezensiert von Pieke Biermann
Manfred Gailus/Daniel Siemens (Hg.): Hass und Begeisterung bilden Spalier. Die politische Autobiografie von Horst Wessel
be.bra verlag, Berlin 2011
200 Seiten, gebunden, 18 Euro