"Zeige mir, wie du feierst, und ich sage dir, wer du bist"

Werner Mezger im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 17.07.2013
Feste und Feiern seien "Moratorien des Alltags", bei denen die Seele des Menschen zum Vorschein komme, sagt der Volkskundler Werner Mezger. Bräuche und Traditionen seien nicht mehr out: Je mehr globalisiert werde, desto stärker sei die Sehnsucht nach einer Re-Inszenierung des Lokalen.
Liane von Billerbeck: Folklore-Begeisterte wie die eben gehörten treffen sich bei der heute beginnenden 50. Europeade, dem größten europäischen Festival seiner Art. Dieses Jahr also im thüringischen Gotha. Und warum Brauchtum und Folklore als kulturelles Kapital Europas schützenswert sind, darüber wollen wir jetzt mit Professor Werner Mezger sprechen. An der Universität Freiburg leitet er das Institut für Volkskunde und ist neben seinen Forschungen auch durch seine Radio- und Fernsehsendungen bekannt. Herr Professor Mezger, ich grüße Sie.

Werner Mezger: Guten Tag!

von Billerbeck: Folklore, Brauchtum, die haben oft ein schlechtes Image. Man muss da immer wieder diese Art Kultur gegen die sogenannte Hochkultur verteidigen. Was ist denn verkehrt an Volkstanz und Trachten?

Mezger: Ja, wenn von Brauchtum die Rede ist, dann habe ich auch ein bisschen ein ungutes Gefühl. Ich spreche lieber in der Mehrzahl von Bräuchen, denn Brauchtum hat ein bisschen was mit Deutschtum und Volkstum zu tun, ein Begriff, der von Turnvater Jahn erfunden worden ist. Und das ist gerade nicht, was wir heute machen, lieben und schätzen. Es geht um Feste und Bräuche, es geht um traditionelles Feiern, und das hat heute Konjunktur und ist gar nicht mehr anrüchig.

von Billerbeck: Aber Dialekt gilt oft als hinterwäldlerisch, Trachten und volkstümliche Musikgruppen, die sind vielen Leuten peinlich und verzichtbar. Und zumindest hierzulande wird der Kulturbegriff doch eher auf die Hochkultur angewandt, während volkstümliche Feste, Bräuche, Umzüge und auch Dialekte eher als verzichtbare Randerscheinungen hingenommen werden. Wer ist bloß für dieses Image verantwortlich?

Mezger: Ja, jetzt sind es ganz viele Fragen auf einmal! Ich selber bin ja schwerer Dialektsprecher, man hört es mir an, ich komme aus Süddeutschland, aus Schwaben. Aber Dialekte sind heute durchaus nicht mehr so mega-out, wie sie schon mal waren. Denn mit allen Tendenzen der Globalisierung gibt es ja auch gegenläufige Tendenzen. Je mehr globalisiert wird, desto mehr ist auch wieder der Ruf nach der lokalen Besonderheit da, nach der Reinszenierung des Lokalen. Und dazu gehörten auch Dialekte, dazu gehören auch Feste, Bräuche, die es nur an einem ganz bestimmten Ort gibt.

Viele, viele Städte, viele Dörfer, viele Gemeinden ringen um das sogenannte Alleinstellungsmerkmal. Genau das ist es, was man in der Globalisierung heute sucht. Insofern sind diese Dinge, die man früher vielleicht ein bisschen naserümpfend gesehen hat, durchaus wieder im Kommen. Es ist ja auch nicht so, dass Feste und Bräuche, wie es noch vor einigen Jahrzehnten eingeschätzt wurde, im Untergehen begriffen sind, ganz im Gegenteil. Sie haben einen ungeheuren Boom und so viel ist noch nie gefestet und gefeiert worden wie heute, und das hat auch seinen Grund.

von Billerbeck: Welchen denn?

Die Teilnehmer einer Pfingstprozession laufen am Montag (28.05.2012) durch Graenze (Kreis Bautzen).
Sorben bei einer Pfingstprozession in Graenze bei Bautzen© picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
"Rest an zyklischer Zeiterfahrung"
Mezger: Es hat den Grund, dass Menschen in einer Zeit, die zunehmend ihre Rhythmen verloren hat, nach Rhythmen suchen. Wir machen ja die Nacht zum Tage, wir verändern die Jahreszeiten, indem wir im Sommer auf Gletschern Ski fahren, im Winter in die Karibik reisen, und ein ganz klein bisschen ist ja das, was im Weihnachtslied vermeintlich eine Plattitüde darstellt, doch mit einem wahren Kern versehen: "alle Jahre wieder". Dieses "alle Jahre wieder" ist ein Wert an sich, und Feste haben die Eigenschaft, dass, wenn sie traditionell sind, sie jährlich wiederkehren. Sie geben uns einen Rest auch an zyklischer Zeiterfahrung zurück, man lebt auf Feste zu, wenn sie bevorstehen, und man zehrt von ihnen, wenn sie vorbei sind. Das ist ein Wert, den wir heute eigentlich verloren haben.

Außerdem stiften Feste natürlich auch Identität. In einer Gesellschaft, die zunehmend unüberschaubarer wird, wo uns immer mehr Fremdes begegnet, was wir erst sortieren müssen, da sind wir durchaus dankbar, wenn es Inseln der Identitätsbildung gibt. Allerdings Inseln – das ist schon ganz wichtig –, die nicht ausgrenzen, sondern die Fremde einbeziehen und mit einschließen. Denn viele unserer Feste sind ja nur deswegen so bunt geworden, weil sie neben dem Eigenen auch immer offen waren für das Fremde, für das Neue, für das Pittoreske. Und insofern sind sie ein schönes Beispiel für Integration.

von Billerbeck: Aber gehört zu diesen Regelmäßigkeiten im Fernsehen, zu diesen Regelmäßigkeiten bestimmter Feste auch so eine Sendung wie das "Sommerfest der Volksmusik" oder der "Musikantenstadl" oder … ist das keine Folklore, die schützenswert ist, und Sie würden davor eine Grenze ziehen?

Mezger: Die UNESCO würde diese großen Events, die medialisiert sind, die also im Fernsehen kommen, sicherlich nicht zum immateriellen Kulturerbe rechnen, sehr wohl aber irgendwelche kleinen Ereignisse vor Ort, die eben nicht kommerzialisiert und nicht folklorisiert sind. Sehen Sie, wir machen einen wichtigen Unterschied: Wenn Bräuche selbstverständlich ausgeführt werden, dann sind sie noch nahe an ihrem Ursprung. Wenn sie dagegen bewusst vorgeführt werden und wenn auch kommerzielle Aspekte hineinspielen, dann sind sie daran, folklorisiert zu werden. Und dann beginnen sie natürlich, ihre Ursprünglichkeit zu verlieren.

von Billerbeck: Gibt es Regionen, in denen Sie einen besonderen Aufwind sehen für Folklore, für Bräuche?

Besucher des Oktoberfestes greifen in München im Hofbräuzelt nach der Eröffnung des Festes nach einer Maß Freibier. Das Fest endet am 3. Oktober 2011 statt.
Oktoberfest in München© dapd/ Lukas Barth
"Alle 20 Minuten eine historische Fiesta"
Mezger: Sicherlich gibt es, wenn man Deutschland nimmt, Brauch-ärmere und Brauch-reichere Regionen. Das hat sicherlich auch etwas mit Konfessionalität zu tun. Die katholischen Gebiete, die katholischen Territorien hatten immer sehr viel mehr Feste und Feiern, die protestantischen Territorien – das ist auch ein Stück weit protestantischer Geist – sind da etwas zurückhaltender. Heute allerdings ebnet es sich immer mehr ein, weil ja Konfessionen auch nicht mehr die entscheidende Rolle spielen. Wenn es ein europäisches Ranking, einen europäischen Vergleich geben sollte, dann sind die Gewinner im Festen und Feiern ganz sicherlich die Spanier. Denn Statistiken besagen, dass in Spanien alle 20 Minuten irgendwo eine historische Fiesta beginnt.

von Billerbeck: Sie erstellen gerade mit Studierenden zusammen unter dem Titel "folklore europaea" eine multimediale Datenbank zur europäischen Folklore. Was wird da gesammelt?

Mezger: Ja, wir wollen Feste, Bräuche, Traditionen, Riten, all das, was identitätsbildend und was den Menschen in verschiedenen europäischen Ländern wichtig ist in ihrer Popularkultur, dokumentieren, wollen es vor allem vergleichbar machen. Es gibt ja sehr viele vergleichbare Dinge quer durch Europa, wenn man allein die jetzt jahreszeitlich etwas fernliegende, aber in einem halben Jahr wiederkommende Fasnacht, den Karneval nimmt, so gibt es da Phänomene, die sind in England ähnlich wie auf Sizilien, auf der Iberischen Halbinsel ähnlich wie am Schwarzen Meer. Und das sind schon erstaunliche Durchblicke durch das kulturelle Kapital Europas.

Aber das alles sammeln wir nicht mit der Absicht zu zeigen, dass alles gleich ist. Uns kommt es auf die feinen Unterschiede an, denn überall feiert man ein ganz klein bisschen anders, wenn auch die Dinge im Kern sehr ähnlich sind. Und spannend ist es ja gerade, diese Differenzen zu erkennen. Und das ist auch die Frage eines künftigen Europa, in dem wir alle gut zusammenleben, dass wir mit den Differenzen leben können, mit den Mentalitätsunterschieden. Und die zeigen sich sehr schön, wenn die Menschen feiern. Man kann fast sogar sagen: Zeige mir, wie du feierst, und ich sage dir, wer du bist. Denn in diesen herausgehobenen Situationen, in den – so werden Feste manchmal auch genannt – Moratorien des Alltags, da zeigen Menschen, wer sie wirklich sind, da kommt auch ihre Seele zum Vorschein. Und das ist, glaube ich, sehr wichtig.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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