Zeig’ mir die Berliner Republik!

Von Jens Schneider · 27.02.2007
Was waren das für hohe Erwartungen oder zumindest kühne Spekulationen: Der Umzug der Bundesregierung, des Bundestags und der ganzen politischen Gemeinde von Bonn nach Berlin sollte sein mehr als ein Ortswechsel. Er sollte einen neuen Stil, vor allem aber eine neue Wahrnehmung in die Politik bringen.
Den Abschied vom abgehobenen Raumschiff Bonn. Die übergroße Stadt mitten im Osten sollte der Politik das Gespür geben, Entwicklungen früh und richtig wahrzunehmen. Ihr die bräsige Selbstbezogenheit nehmen, sie statt dessen eintauchen und aufgehen lassen in eine sich faszinierend und beklemmend schnell drehende Welt.

An Berlin kann es kaum liegen, wenn dieser Aufbruch ins echte Leben nicht gelungen sein sollte. Zwar hat die Hauptstadt sich ihr graumuffeliges Kleinbürgertum als einen prägenden Grundton erhalten. Aber Berlin bietet doch alles, was es für den neuen Stil der Berliner Republik gebraucht hätte. Nicht, weil es – was leicht übersehen wird – an vielen Ecken schön und interessant geworden ist, sondern weil alles nicht perfekt und fertig ist. Sondern oft kaputt, erschüttert, gebrochen und dann wieder viel dynamischer anderswo.

Doch es brauchte im letzten Herbst eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Zahlen, Soziologen-Deutsch und bunte Diagramme, um dieser Berliner Republik einen Schrecken einzujagen über die Existenz einer größer werdenden Schicht von Menschen, die sich abgehängt fühlen. Die ohnehin ziemlich verspätete Unterschicht-Debatte entstand nicht aus Anschauung, durch Zahlenkolonnen von Feldforschern. Als wäre Neukölln ein fernes Afrika geblieben.

Putzig erscheinen Züge der familienpolitischen Debatte, in der eine heile, aber auch hausbackene Welt gewünscht wird, von der man mit einem Schritt vor die Tür wissen kann, dass es sie so oft nicht mehr gibt. Zaghaft debattiert die CDU/CSU eine Reform des Ehegattensplittings. Auch unverheiratete Eltern sollen steuerlich begünstigt werden - man ist sich nicht sicher, ob man das dem Institut der Ehe antun kann – in einem Berlin mitten in Ostdeutschland, wo längst fast jedes dritte Kind nicht in eine Ehe hineingeboren wird. Kann es sein, dass das einzig Ostdeutsche an der Berliner Republik eine einstmals Ostdeutsche im Kanzleramt ist?

Zumindest lässt sich kaum leidenschaftlich behaupten, dass die Lage mittendrin die Berliner Republik zu einem Seismographen für die neuesten Risse und Verschiebungen des Landes gemacht hat. Gewiss hat die veränderte Medienlandschaft alles aufgeregter und oberflächlicher werden lassen. Und die Politik bewegt sich offen vor großer Kulisse. Sie hat sich nicht abgeschottet, versteckt nicht hinter Mauern. Wer sich in Mitte bewegt, begegnet den Politikern in ungekünstelter Zufälligkeit. Er kann sie abends spät im Edeka im Bahnhof Friedrichstraße die Notration Brot, Wein, Butter für die Abgeordneten-Klause kaufen sehen. Im Cafe Einstein unter den Linden, Tisch an Tisch, beim Frühstück antreffen. Aber springt der Funke über? Oder muss einem nicht eher traurig zumute werden angesichts der Fremdheit zwischen der großen Stadt und der großen Politik. Da ist auf der einen Seite jenes Berlin, das so spannend ist, dass junge Leute aus London Warschau oder Seattle kommen und bleiben wollen, in einer Welt neben der Hauptstadt-Kulisse, keine 20 Minuten zu Fuß entfernt davon. Und dann ist da die imposante Welt des Parlaments und der Ministerien, des Kanzleramts und der Parteizentralen. Eine grandiose Ansammlung von erstklassigen Köpfen: Referenten, Politiker, Ministerialräte – Menschen, die von der Welt und deren Schicksal im Räderwerk der Macht etwas verstehen. Da müssten doch in den Sälen und Salons der Stadt oft, von beiden Seiten glanzvoll besetzte Debatten stattfinden. Aber sie sind selten. So wie es an manchen Tagen wahrscheinlicher sein dürfte, dass man einen Bundestagsabgeordneten auf einem Empfang in Kigali trifft, mit dem Ausschuss auf Delegationsreise, statt in einer Berliner Galerie oder einem Theater. Wer die bisweilen feindselige Debatte in Parlamentskreisen über die Hauptstadtfinanzen erlebte, musste den Eindruck bekommen, dass nicht viele ein Gespür oder für das Besondere der Stadt, Zuneigung oder gar Liebe entwickelt hätten.

Dies soll kein Politiker-Bashing sein, keine Tirade gegen eine provinziell gebliebene Kaste. Nein, das hätten die allerwenigsten auch nur ansatzweise verdient. Es gilt den Mangel festzustellen, dass man wohl in der Hauptstadt angekommen ist, aber nicht in der Stadt. Dass manche Abgeordnete nach zwölf Jahren das nahe Magdeburg noch für den fernen Osten halten und vielleicht sagen müssten, dass sie im Grunde nie in Berlin gewesen sind. Was oft wenig mit Ignoranz zu tun haben könnte, sondern damit, dass das Leben der Berliner Republik zwischen Wahlkreis und Gremien keinen Raum für Leben in Berlin lässt. Womit die Idee von der besonderen Anbindung in der pulsierenden Stadt nichts als Illusion gewesen wäre, von Anfang an. Mit dieser Erkenntnis könnte Deutschland auch hier in einer, wenn auch eigenartigen Normalität angekommen sein: An den Parlaments- und Regierungssitzen London oder Paris, Washington gar, verhält sich die Sache kaum anders. Man darf das als nur schwachen Trost ansehen.

Jens Schneider, Journalist, wurde 1963 in Hamburg geboren. 1991 begann er, als Redakteur für das Ressort Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung in München zu arbeiten und beschäftigte sich vor allem mit der Situation im ehemaligen Jugoslawien. Seit 1996 ist er Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Dresden, zuständig für die Berichterstattung aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.